Kommentar
kontertext: Freundschaft in Zeiten der Polarisierung
Politsche Analysten stellen in der Schweiz, in den USA, im Nahen Osten und fast überall eine zunehmende «Polarisierung» fest, eine Aufspaltung in zwei oder mehrere sich unversöhnlich gegenüberstehende Streitparteien. Mit Hass wird Politik gemacht. Zum Machterhalt oder -gewinn wird Hass auf die Gegenspieler geschürt. Hassreden gegen Andersdenkende bauen in den eigenen Reihen Überlegenheitsgefühle und damit verbundene Dominanzansprüche auf. Diesen emotionalen Zerwürfnissen fallen demokratische und menschenrechtliche Werte zum Opfer.
Empathie
Aber wie steht es mit dem Begriff «Liebe» im politischen Diskurs? Sie ist verpönt, wie das Schmähwort «Gutmensch» deutlich macht – verbannt ins Private. Zwar wird Liebe in der Kunst und der Unterhaltungskultur tausendfach besungen und herbeigesehnt. Auch in der Psychologie, der Mystik und der Religion spielt sie ebenso eine zentrale Rolle wie in der christlichen Mission aller Zeiten, die den marginalisierten Anerkennungs- und Liebesbedürftigen die Liebe Gottes verspricht. Aber in der Politik?
Unser westliches Staatsverständnis beruht auf der Vision, dass alle Menschen einander mit Respekt und Achtung begegnen – ein Grundzug auch der Menschenrechte. Aber welche Gefühle die Einzelnen dabei hegen, liegt in ihrem Freiheitsbereich. Sie werden nicht vorgeschrieben. Weder Liebe noch Hass sollen einen Platz in der politischen Öffentlichkeit haben.
Vor ein paar Wochen hat sich ein guter Freund von mir von einem anderen meiner besten Freunde losgesagt. Der Grund: der Israel-Palästina-Krieg. Mein pro-israelischer Freund will nichts mehr zu tun haben mit meinem muslimischen Freund. Die Art, wie eine gute Beziehung aufgrund einer politischen Positionierung gekappt worden ist, hat mir schlaflose Nächte bereitet. Wie gehe ich damit um? Nur eines ist mir klar: Spontanen Gefühlen darf ich nicht folgen, unangenehme Konflikte nicht einfach umgehen.
Wer sind die Schwächsten?
Ich habe in meinem Leben an unzähligen Solidaritätsbewegungen teilgenommen und Solidarität mit den Schwächsten zu üben versucht. Doch in der gegenwärtigen Weltlage der brutalen Kriege muss ich mir neue Fragen stellen: Wer genau sind die Schwächsten? Ist es eine Kriegspartei? Ist es die Zivilbevölkerung? Oder die Dissidenten auf beiden Seiten? Ich weiss zwar, dass die Palästinenser aller Gesellschaftsschichten Opfer des Kolonialismus und einer missglückten Unabhängigkeit waren. Ich weiss um das immense Leid der Juden im 2. Weltkrieg, das mich motiviert, für die Rechte von Flüchtlingen einzustehen. Ich sehe mir immer wieder Holocaust-Filme an und lese die Geschichten von Überlebenden. Ich wundere mich über eindeutige Stellungnahmen von PolitikerInnen und Regierungen für oder gegen die eine oder andere Kriegspartei, aber auch über einseitige Parolen und Solidaritätskundgebungen bei uns.
Trost spenden mir kluge, reflektierende Texte von Israelis und Palästinensern, wie das Kriegstagebuch des israelischen Schriftstellers Dror Mishani im «Magazin» vom 13. Januar 2024 und die Äusserungen von Ibrahim Dalalsha, dem Direktor des palästinensischen Think-Tanks «Horizon Center» in Ramallah. Dabei ist mir bewusst, dass es billig ist, wenn ich mir fernab von den Kriegsschauplätzen ein Urteil bilde und mit keinem Menschen dort in persönlicher Freundschaften verbunden bin. Es ärgert mich, wenn sich Politiker im Westen aus purem Opportunismus der einen Seite zuschlagen, oder wenn Teile der hiesigen Bevölkerung Hass gegen die eine oder andere Seite schüren. Denn wenn die spontanen Gefühle auf Hass aufbauen, dann sind sie irreleitend.
Es ist die Empathie, die spontane Hassgefühle besiegen kann. Empathie mit dem Schmerz der Zivilbevölkerung, unabhängig vom jeweiligen politischen Standpunkt des Einzelnen. Oder haben die mutigen Flüchtlingsretter im 2. Weltkrieg, meine grossen Vorbilder, die zu Rettenden jeweils nach ihrer politischen und moralischen Ansicht befragt, bevor sie ihnen Hand boten?
Empathie wird den Mädchen als Bestandteil der künftigen Mutterrolle beigebracht. Sie ist eine wertvolle Kompetenz. Sie ist wie das Vertrauen ein Element der Liebe. Meine intensivste Empathie-Schule ist das Ausschaffungsgefängnis, das ich wöchentlich besuche. Mein Gegenüber hat oft die krudesten Ideen, aber der «permanente Stress» der Zukunftslosigkeit und Gefangenschaft ist bei allen Insassen derselbe und evoziert meine Empathie, jenseits von Gut und Böse der Migrationsgründe. Meine Empathie wird durch die Anteilnahme an der Verzweiflung von Menschen in ausweglosen Situationen geschärft und soll mich leiten.
Auch gegenüber meinen entzweiten Freunden, denn echte Freundschaft bzw. Liebe beruht auf einem Fundament bedingungsloser Akzeptanz trotz Dissonanzen. «Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst» ist wohl keine politische Aussage. Aber Politik ohne Empathie trägt gemeinschaftsfeindliche Züge.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Anni Lanz ist Menschenrechtsaktivistin insbesondere im Bereich Asyl und Frauenrechte. Sie hat in mehreren Alternativprojekten gearbeitet, z.B. im Hirscheneck und in der Stadtgärtnerei Basel. Derzeit engagiert sie sich v.a. im Solinetz Basel. Sie erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Basel und ist u.a. Trägerin des «Prix Courage Lifetime Award». Für «kontertext» schreibt sie Kolumnen.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
danke Anni,
danke dass du nicht aufgibst… salaam
Sehr geehrte Frau Lanz
Vielen Dank für Ihren sehr wertvollen Beitrag.
Ich lese zur Zeit das Büchlein «Die Kunst des guten Lebens», Auszüge aus den «Selbstbetrachtungen» von Marc Aurel (Römischer Kaiser und Philosoph, 121 bis 180 n. Chr.). Innenpolitische Akzente setzte Mark Aurel in Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Erleichterung des Loses von Benachteiligten der damaligen römischen Gesellschaft, vor allem der Sklaven und Frauen.
Man stelle sich vor, ein amerikanischer Präsident hätte nur einen Bruchteil des Formats dieses Mannes, welcher vor fast 2’000 Jahren regierte. Unsere Welt würde vermutlich um einiges menschlicher sein.
Man darf die Hoffnung nie aufgeben.
Besten Dank, Frau Lanz, für Ihren wertvollen Beitrag. Es ist in der Tat erschreckend, wie sehr der Hass auf Russland und auf Putin geschürt wird. Bei einfachen Leuten aus der Ukraine mag das noch verständlich sein, nicht aber beim Präsidenten Selensky und seinen Leuten. Was gewinnen sie damit, wenn sie die Russen als Tiere qualifizieren, wie sie es mehrmals gemacht haben? Es kommt der Tag, an dem Selensky oder sein Nachfolger wieder mit Putin reden muss. Sie werden auf sehr wenig Goodwill stossen, auch bei den russischsprachigen Ukrainern. Auch die westlichen Politiker und Diplomaten sind komplett unglaubwürdig, weil ihr Handeln im Gegensatz zu ihren Worten steht.
Liebe Frau Lanz. Sie habe ich immer bewundert wegen Ihrem furchtlosen Einsatz für die Asylbewerber jeder «Couleur». In diesem Beitrag zeigen Sie auf eindrückliche Weise, wie Sie die Menschen jeder Seite ernst nehmen, wenn er oder sie nur nicht selbst gewalttätig wird. Nur so können wir Zeugnis geben für Liebe und Empathie und gegen jede Art von Hass. Die einseitige Parteinahme von Berchtold Moser für Putin und gegen Selensky entspricht nach meiner Meinung nicht dieser bedingungslosen Haltung. Ganz klar: Der «Westen» – v.a. die USA, verfolgt imperialistische Ziele und hätte wohl den Krieg gegen die Ukraine verhindern können. Europa hätte sich schon mit Gorbatschow von den USA abkoppeln können/müssen, um eine neue Ära in Europa einzuleiten. Aber nichts von allem, was in diesem unheilvollen Geschehen verfehlt wurde, rechtfertigt die ständigen Bombardierungen in den Städten der Ukraine, die nur Unschuldige treffen – gar nicht zu reden von der Unterdrückung von Kriegsgegnern.