Kommentar
Jetzt will der «anatolische Schwabe» Ministerpräsident werden
Cem Özdemir war das erste Gastarbeiterkind im Deutschen Bundestag. Das war 1994, damals war er 28 Jahre alt. Jetzt will er Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden, Nachfolger seines grünen Parteikollegen Winfried Kretschmann. Eben erst hat der heutige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft seine Kandidatur bekannt gegeben – kurz vor seinem Bundestagsjubiläum also: Vor ziemlich genau drei Jahrzehnten sass der «anatolische Schwabe», wie er sich selbst gern nennt, als frisch gebackener Abgeordneter in der Eröffnungssitzung der 13. Wahlperiode.
Es war die einzige Sitzung in dieser Legislaturperiode, die im Reichstagsgebäude in Berlin stattfand. Der Bundestag tagte ansonsten noch in Bonn. Alterspräsident dieser Eröffnungssitzung war der trotzige Schriftsteller und PDS-Abgeordnete Stefan Heym. Helmut Kohl wurde ein paar Tage später ein letztes Mal als Bundeskanzler wiedergewählt. Es war nicht nur deswegen ein denkwürdiger Tag.
Der Lehrer brach in Gelächter aus
Es war ein denkwürdiger, ein historischer Tag deswegen, weil mit ihm ein neuer Abschnitt in der deutschen Migrations- und Integrationsgeschichte begann. In seiner Partei wirft man Özdemir bisweilen vor, keine Botschaft zu haben. Aber er selbst ist eine Art Botschaft – eine Botschaft an Millionen Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund. Sie lautet: Wir gehören dazu, wir mischen mit, auch ganz oben. Özdemir wurde innenpolitischer Sprecher seiner Partei.
Cem Özdemir wurde 1965 im schwäbischen Bad Urach als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren. Sein Vater Abdullah stammte aus einem anatolischen Dorf in der Nähe von Tokat. Er arbeitete in Deutschland in einer Feuerlöscher-Fabrik. Seine Mutter kam aus Istanbul, sie betrieb eine Änderungsschneiderei, zuvor hatte sie in einer Papierfabrik gearbeitet. Als der Lehrer seinerzeit in der Schule fragte, wer denn ins Gymnasium wolle, und Cem den Finger hob, brach der Pädagoge in Gelächter aus. So war das noch vor ein paar Jahrzehnten in Deutschland.
Blumen, ein Moped, ein Fahrrad
Es war noch nicht so lang her, dass der einmillionste Einwanderer, Gastarbeiter genannt, in die Bundesrepublik gekommen war. Das war 1964. Der Mann hiess Armando Rodrigues de Sá und war aus Portugal. Er bekam zur Begrüssung auf dem Bahnhof von Köln-Deutz einen Strauss Nelken und ein Moped geschenkt, Marke Zündapp. Im Haus der Geschichte in Bonn hat das Foto von seiner Begrüssung auf dem Bahnhof Köln-Deutz seinen festen Platz.
Vielleicht hängt eines Tages ein Foto von Cem Özdemir daneben, wie er 1994 mit einem Blumenstrauss und einem Fahrrad als Geschenk im Deutschen Bundestag begrüsst wird. Und vielleicht, wenn es so läuft, wie es sich Özdemir und die Grünen erträumen, hängt dann da noch ein zweites Foto von ihm: von seiner Vereidigung als Ministerpräsident.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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