Kommentar
Hierarchie der Werte: Sollte die Ukraine Kompromisse eingehen?
Red. Der Autor dieses Gastkommentars, Michael Derrer, doziert Wirtschaft und Soziologie an der Hochschule Luzern. Er dolmetscht für die Bundesanwaltschaft u.a. für die Sprachen Russisch, Ukrainisch, Polnisch und Rumänisch. Als Unternehmensberater betreut er seit 20 Jahren Schweizer Kunden in Osteuropa. Derrer lebte und arbeitete für jeweils mehrere Jahre in Moskau, Kiev, Bukarest und Warschau.
Je länger der Krieg dauert und je mehr Kriegsgräuel bekannt werden, desto radikaler wird die kollektive Stimmung. Die Rhetorik der Notwendigkeit, Putins Armee zu besiegen, gewinnt nicht nur in der Ukraine, sondern auch bei uns die Oberhand. Aufgrund der unerwarteten Erfolge der ukrainischen Streitkräfte wetten nun viele auf eine entscheidende Schwächung Putins oder gar seinen Sturz.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Ukraine, selbst mit westlicher Unterstützung, in der Lage ist, die Atommacht Russland zu besiegen. Wäre dies ein Videospiel, würde auch ich auf alles oder nichts setzen. Doch in der realen Welt besteht das Risiko eines langen und blutigen Krieges mit einer grossen Zahl von Opfern, insbesondere unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Es besteht eine reale Gefahr, dass Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen. Zudem ist zu befürchten, dass Putin fester im Sattel sitzt, als wir es uns wünschen.
2014 sprach ich mich für eine regionale Selbstbestimmung der Ostukraine aus, da ich ein Blutvergiessen befürchtete. Viele Ukrainer lehnten diese Idee ab. Das Ergebnis ist bekannt: Separatisten im Donbass, ukrainische Anti-Terror-Operation, russische militärische Einmischung und mehr als 14’000 Tote. Vielleicht hätte die Autonomie der östlichen Regionen der Ukraine die nachfolgenden tragischen Entwicklungen verhindern können.
Heute ist es verständlicherweise nicht einfach, mit dem Urheber eines Angriffskrieges zu verhandeln. Ein Verhandlungsfrieden würde Zugeständnisse seitens der Ukraine erfordern. Ohne ein Minimum an Beute wird Putin nicht loslassen, trotz aller Schwächen der russischen Armee, die der Krieg offenbart hat.
Um einen Vergleich anzustellen: In einem Streitfall, z.B. einem Gerichtsverfahren, behaupten beide Seiten, im Recht zu sein – diejenige, die objektiv im Recht ist, und diejenige, die Unrecht hat. In Anbetracht der Kosten des Verfahrens ist es jedoch manchmal für die Seite, die im Recht ist, vorteilhaft, einen Kompromiss zu suchen.
Die Forderungen der russischen Führung vor Beginn des Krieges lauteten: «Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Neutralität der Ukraine und Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft, Anerkennung der Krim und der Separatistengebiete durch die Ukraine». Die Behauptung, die Ukraine würde von «Nazis» regiert, ist ein Produkt der russischen Propaganda (obwohl es, wie in anderen Ländern auch, radikale nationalistische Kräfte gibt). Die Entmilitarisierung ist offensichtlich unsinnig. Die bewaffnete Neutralität, wie sie von der Schweiz praktiziert wird, erscheint mir jedoch in Kombination mit internationalen Sicherheitsgarantien als machbares Ziel. Und ich frage mich, ob die Anerkennung einer weitgehenden Autonomie für die 2014 von Russland besetzten Gebiete, d.h. die Krim und den Donbass, Putin nicht dazu bewegen könnte, einen Krieg zu verkürzen, an dessen Beendigung er Interesse hat.
Putin handelt mit einer absolutistischen und imperialen Staatsräson, der alle anderen Werte untergeordnet werden. Müsste die westliche Wertegemeinschaft nicht die entgegengesetzte Position einnehmen und das menschliche Leben über alle anderen Werte stellen? Sollten wir nicht ALLES tun, um ein weiteres Blutvergiessen zu verhindern, indem wir die Ukrainer dazu drängen, einen Verhandlungsfrieden zu schliessen? Müssten westliche Länder Waffenlieferungen nicht von dieser Bedingung abhängig machen? In den Medien wird der Unterschied zwischen 20’000, 100’000 oder 500’000 Toten in der Ukraine nicht gross sein – es ist nur eine Zahl. Diejenigen, die wie ich Freunde in der Ukraine haben, wollen sie aber lebend wiedersehen.
Ich bin mir bewusst, dass die Idee von Zugeständnissen seitens der Ukraine, um Menschenleben zu retten, nicht der aktuellen Stimmungslage entspricht. Aber ich habe die Hoffnung nicht verloren, dass eine Verhandlungslösung dem Blutvergiessen ein Ende setzt und die Ukrainer nicht als Volk von Märtyrern in die Geschichte eingehen müssen. Als Opfer des Angriffskrieges ist die Ukraine im Recht. Aber Recht haben und Recht bekommen sind bekanntlich zwei verschiedene Dinge.
Die westlichen Länder müssen sich entscheiden, welches Ziel sie verfolgen und unterstützen: Setzen sie auf einen ukrainischen Sieg, der sich als illusorisch erweisen könnte, oder arbeiten sie auf einen Verhandlungsfrieden hin, in dem viele Leben gerettet werden könnten?
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Dieser Beitrag erschien am 2. Mai in «Le Temps»
Schweizer Sicherheitsexperte für einen Waffenstillstands-Kompromiss
Red. «Die vernünftigste Variante wäre ein Waffenstillstand, um die Verluste zu begrenzen. Das würde aber bedeuten, dass Putin Erfolge vorweisen kann. Die Eroberung und Annexion des Donbass wäre eine Möglichkeit, gesichtswahrend aus dem Krieg auszusteigen.» Das meint Theodor Winkler, früherer Botschafter, Sicherheitsexperte und viele Jahre Berater im Schweizer Militär- und Aussendepartement.
In einem Interview mit der NZZ am Sonntag meinte Winkler, wichtig sei für die Ukraine ein Beitritt zur EU. Dagegen sei der Verzicht auf einen Beitritt zur Nato für die Ukraine «keine schwierige Auflage». Die Ukraine könne auf Massenvernichtungswaffen verzichten, müsse sich aber unbeschränkt konventionell bewaffnen können.
Allerdings seien die USA an einem solchen Ausgang wenig interessiert, denn «die Amerikaner wollen einen Regimewechsel in Russland bewirken».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Michael Derrer hat recht, wenn die ganze Sache damit abgeschlossen werden kann. Er halt allerdings nicht recht, wenn mit Zugeständnissen neue Begehrlichkeiten geweckt werden.
Es stellt sich einfach die Frage, wer in dieser Angelegenheit über den längeren Atem verfügt?
Ich würde der Ansicht Theo Winkler’s zustimmen. Das entspricht auch m.E. der Interpretation des J. Maud.
Ist das die Genfer Connection ? Dass Baroso – ein anderer der sc.po. Gruppe – eher Konfrontationsförderung betrieb, ist eine traurige Erinnerung. Aber das waren ja noch die 68er Zeiten…
Das bestimmende Motiv der amerikanischen Außenpolitik ist die Einnahme und Konsolidierung einer globalen Führungsrolle (wirtschaftliche und politische Macht). Das Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist der regime change in allen Staaten, die dieser Doktrin im Wege stehen. Weit über die Hälfte der Menschheit ist allerdings nicht bereit, sich dem amerikanischen Führungsanspruch zu unterwerfen. Leider gehören die meisten Europäer, auch im Ergebnis der amerikanischen Besetzung nach dem II. Weltkrieg, nicht dazu. Im Gegenteil: Vor allem Deutschland unterstützt die USA in ihren hegemonistischen Bestrebungen. Wenn Habeck sagt, dass D den USA «dienen» wird, dann ist das eine Bankrotterklärung der Souveränität. Deshalb habe ich wenig Hoffnung, dass der Ukrainekrieg ein schnelles Ende findet. Die USA haben kein Interesse daran, denn ihr militärisch-industrieller Komplex macht Bombengeschäfte, und Russland als Konkurrenten ökonomisch und politisch zu degradieren ist ihr Hauptziel
Danke für diesen weiteren Beitrag, der sich für Verhandlungen und gegen weitere Eskalation ausspricht.
Zur Frage in der Überschrift:
Natürlich sollte – wie auch der Autor fordert – die Ukraine einen schnellstmöglichen Verhandlungsfrieden suchen und die dafür nötigen Kompromisse eingehen! Zuallererst zum Wohle der Ukraine selbst und der dort lebenden Menschen, aber auch zum Wohle der Menschen in Europa, in Russland, in Afrika und der ganzen Welt. Zum Wohle der Menschlichkeit.
Aber wird die Ukraine tatsächlich die Möglichkeit haben, sich dafür zu entscheiden?
Und möglicherweise zu welchem Preis?
Würden die USA und die EU einschließlich D die unvorstellbaren Finanzmittel (unabhängig von möglichem politischen Druck), die jetzt für den eskalierenden Krieg (erhofften «Sieg») bereitgestellt werden, auch für den Wiederaufbau der Ukraine bereitstellen, wenn das angestrebte militärische und politische Ziel, «verschuldet» durch Verhandlungsbereitschaft der Ukraine, nicht erreicht werden kann?
Es ist nicht so, dass die Ukraine am gewinnen ist, da sollte man sich nicht von unseren Medien täuschen lassen. Es mag für einen Laien so aussehen, da sich die Russen aus verschiedenen Gebieten zurückgezogen haben. Die strategischen Ziele, welche die Russen definiert haben, haben sie aber weitgehend erreicht und teilweise übertroffen.
Ich vermute weiter, dass die grosse Kapitulation ganzer Armeeteile der UA in den kommenden Tagen stattfinden wird. Der Blutzoll der UA ist enorm.
Der Autor dieses Artikels geht deshalb m.E. von falschen Rahmenbedingungen aus.
Ich respektiere die Meinung des Autors, halte sie aber dennoch für unrealistisch. Der Vergleich mit dem Gerichtsverfahren hinkt gewaltig – in einem solchen Gerichtsverfahren geht es um beschränkte Ziele, nicht darum, den Gegner zu vernichten. Genau das aber haben mehrere russische Autoren (die sich nicht ohne Putins Zustimmung äussern können) wiederholt gefordert: Sergeitsev in RIA Novosti: «Die Nazis, die zu den Waffen griffen, sollten auf dem Schlachtfeld so weit wie möglich vernichtet werden. (…) Auch ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, ist schuldig. (…) Der Ukronazismus stellt (…) eine grössere Bedrohung für die Welt und Russland dar als der deutsche Nationalsozialismus in der Hitler-Version. (…) Um den Plan der Entnazifizierung der Ukraine in die Tat umzusetzen, muss sich Russland selbst endgültig von proeuropäischen und prowestlichen Illusionen verabschieden.» Also zum Beispiel von Kompromissen. Genügt das nicht?
Ich bin so froh über den Infosperber. Ganz großes Lob, welche Bandbreite an Artikeln hier zum Krieg erscheinen können! Gar von Leuten, die so wie es früher üblich war, mehrere Fremdsprachen beherrschen und so einen Konflikt noch besser verstehen und betrachten können.
Das große Problem momentan ist, dass die USA auf der Seite der natürlich moralisch besser gestellten Verteidiger angedockt haben und so immer von hohen Roß ihre eigenen Interessen in diesen Konflikt pressen können. Emotional und moralisch – von der «Erzählung» her – haben sie diesen Krieg bereits gewonnen.