Harte Bewährungsprobe für die EU
«Wir haben es mit einer Polykrise zu tun. Es brennt an allen Ecken und Enden.» Die Diagnose ist aktueller denn je, obwohl sie Jean-Claude Juncker vor sechs Jahren als damaliger EU-Kommissionspräsident gestellt hatte. Er machte sie unter dem Eindruck von Finanzkrise, Annexion der Krim, Fluchtbewegungen über die Balkan-Route, Brexit und Klimawandel.
Zu Recht sprach Juncker von einer Polykrise. Doch sie war noch vergleichsweise harmlos. Die einzelnen Krisen liessen sich noch gesondert angehen. Heute hingegen passiert alles gleichzeitig. Krieg in Europa, Energiekrise, Inflation, wirtschaftlicher Einbruch, Währungsturbulenzen, Fluchtbewegungen, Klimawandel – sie sind miteinander verknüpft, verstärken sich gegenseitig, verschonen niemanden oder werden niemanden verschonen.
Es läge nahe, dass die EU-Länder gemeinsam reagieren würden. Bei den Wirtschaftssanktionen gegen Russland und den Waffenlieferungen an die Ukraine funktioniert das einigermassen. Gemeinsames Handeln als Reaktion auf die hochgeschossenen Energiepreise und die drohende Knappheit? Fehlanzeige. Wo es den Menschen in Europa am meisten wehtut, agieren die EU-Mitgliedstaaten seit dem Krieg in der Ukraine nach eigenem Gutdünken, ob es den anderen gefällt oder missfällt.
Energiepolitisches Durcheinander und Gegeneinander
Ende September hatten acht Länder einen Energiepreisdeckel eingeführt, doch die Preise und die Ausgestaltung waren sehr verschieden. Mehrere Länder verzichteten auf Preisdeckel, besteuerten aber sogenannte Übergewinne. Mal stellte die Steuer auf die Entwicklung der Umsätze ab, andere Male auf die Übergewinne der Energiekonzerne. Ein halbes Dutzend Länder führte sowohl Preisdeckel als auch Sondersteuern ein. Deutschland hingegen wollte bis Ende September weder Preisdeckel noch Sondersteuer, erwog stattdessen eine sogenannte Umlage, eine zusätzliche Abgabe zugunsten der ins Schlingern geratenen Gasversorgungsunternehmen, was das ohnehin schon teure Gas noch teurer statt billiger gemacht hätte. Dazu kam – wie es «Der Spiegel» nannte – «Deutschlands teure Gashamsterei». Das Land machte sich so zwar schon fast unabhängig von russischem Gas, bescherte aber Europa und der Welt eine massive Verteuerung der Ware.
Die EU-Kommission glänzte durch Abwesenheit. «Neun Monate intensive Debatten führten zu keinem einzigen Gesetzesvorschlag», bilanzierte der Brüsseler Think Tank «Ceps» nüchtern. EU-Ratspräsident Charles Michel reagierte im Spätsommer ungewöhnlich schroff auf das Nichtstun. Er habe die Kommission seit mehreren Monaten aufgefordert, konkrete Vorschläge für einen Preisdeckel und für eine Reform des Strommarkts zu unterbreiten. Es dürfe kein Tag mehr verloren gehen, liess er Ende August seiner Frustration freien Lauf. Der belgische Regierungschef Alexander de Croo äusserte sich «verärgert, dass es so lange gedauert hat, bis die Europäische Kommission endlich verstanden hat, dass sie die Bevölkerung schützen muss». Bereits im März habe er für das Eingreifen der EU plädiert. Der EU-Vertreter in Wien, Martin Selmayr, schob die Schuld hingegen den Mitgliedstaaten zu. Die EU-Kommission habe bereits im März den gemeinsamen Gaseinkauf vorgeschlagen, was die Mitgliedländer aber abgelehnt hätten. Die Länder machten sich gegenseitig Konkurrenz und trieben so die Preise. Erst jetzt sind die EU-Staaten daran, einen gemeinsamen Einkauf von Gas zu organisieren.
Die Schuldzuweisungen eskalierten zuletzt am EU-Gipfeltreffen, als der französische Präsident Emmanuel Macron das Verhalten Deutschlands in der Energiefrage kritisierte: «Ich glaube, es ist nicht gut, weder für Deutschland noch für Europa, wenn sich ein Mitgliedstaat selbst isoliert.»
Der Schaden ist angerichtet
Nun ist der Schaden angerichtet. Die Preise an den Zapfsäulen und fürs Heizen schnellten in die Höhe. Der Gaspreis hatte sich seit Kriegsbeginn vervielfacht und zog den Strompreis mit nach oben, weil dieser vom Höchstpreis an der Börse abhängt. Die massive Teuerung auf den Energieträgern trieb die Inflation an und frisst sich nun in den gesamten Wirtschaftskreislauf ein. Vor Kriegsbeginn betrug sie noch rund fünfeinhalb Prozent. Ende September lag sie mit fast elf Prozent doppelt so hoch.
Aus dem Energieproblem wurde auch ein Inflationsproblem – erstmals seit mehr als 20 Jahren. Die Notenbanken gerieten unter Druck und gaben ihm nach. An hohen Energiepreisen ändert das kurzfristig zwar wenig. Die Intervention wird erst auf mittlere Frist wirken, wenn der bereits eingesetzte und sich weiter verschärfende wirtschaftliche Einbruch die Nachfrage nach Gas, Öl und Strom reduziert haben wird. Wirtschaftlicher Einbruch heisst aber: Unternehmenspleiten, Entlassungen, Verarmung vieler Menschen und die Gefahr, dass Europa gegenüber anderen Weltregionen an Wettbewerbsfähigkeit einbüsst.
Krisenbekämpfung und zugleich Energiewende
Das Energieproblem ist zweifellos komplex, lässt sich nicht einfach entschärfen und schon gar nicht beheben. Mehrere zum Teil widerstrebende Ziele gilt es zu erfüllen:
- Erstens darf sich Energie nicht so rasch so stark verteuern, damit die Wirtschaft in Gang gehalten werden kann und die Menschen nicht frieren müssen.
- Zweitens darf Energie nicht zu billig sein, weil sonst der Anreiz zum Sparen klimaschädlicher Energie fehlt, was den Umstieg zu erneuerbaren Energien bremst, statt zu beschleunigen.
- Drittens gilt es, über Zulagen die ärmsten Bevölkerungsschichten zu unterstützen.
- Viertens sollen sich die Energiepreise stabil entwickeln ohne extreme Ausschläge nach oben und unten.
- Fünftens sollen die Staaten Europas ihre nationale Politik koordinieren und sich unterstützend beistehen.
Auf die Ziele sich zu einigen, dürfte noch vergleichsweise einfach sein. Schwierig wird es, wenn es um die Massnahmen geht, um die Ziele zu erreichen.
- Ist ein Preisdeckel hilfreich, oder führt er zu grösserem Gasverbrauch, wie es in Spanien passiert ist?
- Soll ein Preisdeckel generell gelten oder nur für einen Grundbedarf an Energie? Sollen «Übergewinne» oder «Zufallsgewinne» über Sondersteuern abgeschöpft werden?
- Braucht es die Entkoppelung des Strompreises vom preistreibenden Gaspreis, und wie liesse sich das machen?
- Braucht es eine grundsätzlich neue Energiemarktordnung?
- Soll die EU anstelle einzelner Länder als Käuferin auftreten, und falls ja, in welchem Umfang?
- Braucht es einen neuen Ausgleichsfonds zwischen den Ländern, weil sie sehr verschieden stark von der Energiepreiskrise betroffen sind?
- Wäre es eine Neuauflage des in der Corona-Krise geschaffenen Programms «NextGenerationEU», oder braucht es einen neuen Fonds?
Fragen über Fragen, die verständlich machen mögen, dass die EU vom Ausmass der Krise überfordert wird. Dem Unheil freien Lauf lassen, wie geschehen, ist aber die schlechteste Option. Das scheint nun selbst Deutschland zu erkennen. Lange widersetzte es sich Markteingriffen, plante mit einer sogenannten Gasumlage eine preissteigernde Massnahme, bevor es Ende September umschwenkte und mit einem grossen Unterstützungsfonds die Mitgliedländer überraschte und schockte. Am EU-Gipfeltreffen vom 21. Oktober zeigte sich Deutschland erstmals kompromissbereit.
Erste Kompromisse
Vor dem Kälteeinbruch scheint die EU doch noch einen gemeinsamen Weg zu finden. Am Gipfel hat sie sich auf die grossen Linien gemeinsamer Energiemassnahmen für die Wintermonate verständigt. Gas soll sich künftig in einem noch zu bestimmenden Preis-Korridor bewegen, gegen Preisausschläge soll an den Terminmärkten korrigierend interveniert werden. Die EU soll als Einkäuferin auftreten und so das gegenseitige Hinauftreiben der Preise bremsen. Mit Erdgaslieferanten sollen langfristige Verträge zu fixen Preisen geschlossen werden. Mitgliedstaaten sollen bei der Bewältigung der Krise finanziell unterstützt, die Dekarbonisierung der Energiewirtschaft vorangetrieben werden.
Die Ankündigung der neuen Massnahmen hat die Lage etwas entspannt. Der Börsen-Spotpreis des Gases hat sich gegenüber Ende August halbiert, liegt aber noch immer deutlich über dem Niveau von vor dem Krieg in der Ukraine.
Ob die EU-Länder ohne grossen Schaden über den Winter kommen, bleibt trotzdem ungewiss. Erst recht ungewiss sind die Aussichten über 2023 hinaus. Die Gaslücke könnte sich noch weiter öffnen. Von den jetzt zu über 90 Prozent gefüllten Gasspeichern stammt noch ein grosser Teil aus Russland. Wenn im nächsten Frühjahr die Lager wieder aufzufüllen sind, könnten Lieferungen aus Russland ganz ausfallen. Gas werde auf dem Weltmarkt erneut knapp, warnte die Internationale Energieagentur im jüngsten Quartalsbericht.
Die europäische Wirtschaft konnte ihren Gasverbrauch in den letzten Monaten senken, auf mittlere Frist bleibt sie aber trotzdem noch stark abhängig. Von Stahl über Zement, Düngemittel, Keramik, Papier bis Autofabriken hängen zentrale Pfeiler der Industrie von verkraftbaren Gaspreisen ab. Musste sie vor dem Krieg noch doppelt so viel wie die US-amerikanische Konkurrenz für Gas zahlen, so sind es aktuell zehnmal so viel. Es drohen Unternehmensverlagerungen, wenn es nicht gelingt, die Gaspreise zu senken oder nur langsam steigen zu lassen.
Es steht viel auf dem Spiel. Die Energiekrise und über sie hinaus die Polykrise zu entschärfen, erfordert mehr als nur Sofortmassnahmen. Ob aus der Not die Tugend des schnellen Abschieds von den fossilen Energien erwächst, wird entscheidend sein. Daran wird man die EU messen.
Preisanstieg schon vor dem Ukraine-Krieg
Bereits im Sommer 2021 schnellten die Gas- und Strompreise auf den europäischen Energiemärkten in die Höhe, nachdem sich die Wirtschaft überraschend schnell vom Corona-Einbruch erholt hatte. Mehrere EU-Staaten forderten schon damals die Abschöpfung illegitimer Gewinne und eine Reform des Strommarkts, um die Konsumenten zu schützen.
Die Energiefrage war am EU-Gipfel im Oktober 2021 Hauptthema. Doch bald folgte Entwarnung. Für Frühjahr 2022 wurde ein starker Preisrückgang prognostiziert. Die Diskussion über eine neue Energiemarktordnung wurde aufgeschoben. Entsprechend unvorbereitet reagierte die EU auf den Preisschock nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für den Bericht. Der Infosperber, eines der wenigen Medien wo mein Vertrauen, das ich nicht angelogen werde, bei 100% liegt. Was die EU betrifft, ist es interessant auch die juristischen Prozesse von Dr. Füllmich zu studieren. Man folge dem Geld, und dann ist man schnell dort, wo wichtiges versäumt wurde, und immensen Schaden in und um die EU angerichtet wurde. Der Steuerzahler kann es dann ja bezahlen. Politik, Wirtschaft, Justitz, Medien und Bildung gehören gewaltengetrennt. Anti Korruptionsgesetze den heutigen Gefahren angepasst sind dringendst notwendig und der Verfassungsschutz sollte erneuert werden, bevor die EU die Schweiz plündert, so wie die EU derzeit von ihr überlegenen Kräften geplündert wird.
Wegen gestiegener Weltmarktpreise müsse man die Preise erhöhen, hiess es. Und warum ist dann das Gas in den USA rund 6 mal billiger? Und warum gibt es die Energiekrise nur im EU Raum und angrenzenden Staaten?
Gestern abend kam ein Bericht über den IS im Irak mit 1,5 Mio. Opfern beim Sieg über den IS. Zum Glück ist es in der Ukraine nicht so, aber im Jemen und anderen Kriegsschauplätzen.
Mit was haben wir es hier eigentlich zu tun, einem neuen Clan der Wirtschaft Milliarden in den Hals zu schieben?
Völkerrecht gilt nur für erklärte Feinde, Diskussionen werden mit Schimpfwörten abgewürgt wie Rechtsextremer Nazi, Putinversteher oder was es noch an pauschlisierten NoGo Titeln gibt um jemanden für unwürdig zu erklären sich zu Wort melden zu dürfen.
Der Transport von Gas aus Amerika nach Europa ist zwar möglich, aber nur in begrenzter Menge, und auch nicht gratis. Deshalb ist es ganz normal, dass nicht auf beiden Seiten des Atlantiks die gleichen Preise gelten.
Die Preisdifferenz übersteigt die Kostendifferenz um ein Mehrfaches. Kartellanbieter bleiben Kartellanbieter. Die anderen bezahlen.
Das Kernproblem liegt nicht in der Uneinigkeit der europäischen Nationen oder in der Kompetenz der EU-Kommissionen, sondern in der globalen Konkurrenzkultur. Wir behandeln Symptome, weil wir die Augen vor der Einsicht verschliessen, dass sich Demokratie und Konkurrenz nicht vertragen. Unter dem Primat der Konkurrenz bleibt von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur der erste Wert erhalten, nämlich die Freiheit, sich gegenüber den anderen rücksichtlos zu verhalten! Dabei vergessen wir jedoch, dass von Menschen verursachte Probleme sich auch von Menschen lösen lassen, doch nur unter der Bedingung einer Zusammenarbeit. Wenn wir anfangen, diese simple Tatsache unseren Kindern beizubringen, werden wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Worauf warten wir?
Danke. Es gibt eine konstruktive Konkurrenz wo man sich innerhalb ethischer Regeln gegenseitig Energien zuschicken kann, und es gibt eine destruktive Konkurrenz welche nichts anderes ist als eine versteckt feindselige Form eines gewalttätigen Wirtschsftskrieges. Aus meiner Sicht ist weltweit das größte, grausamste Problem dieses, dass es keine schützende Macht gibt, welche dafür sorgt, daß jeder Mensch auf jede Form der Gewalt welche jenseits von Notwehr liegt, immer und überall zu verzichten hat. ( Siehe Marshall Rosenberg, Psychologe, Gewaltforscher, Autor, ) Das Projekt Weltethos von Hans Küng und viele Andere weisen immer wieder auf dieses Problem hin. Um das Bewusstsein über den Sinn des Gewaltverzichtes zu stärken, bräuchte es Bildung und klare Definitionen, ab wann Gewalt nicht mehr Gewalt, sondern Notwehr ist, und umgekehrt. Dazu bräuchte es eine weltweite machtvolle Institution, welche in der Lage ist, unabhängig von Rang und Name, Gewalt zu stoppen.
Die Probleme sind gross. So auf die schnelle lassen sie sich nicht beheben.
Eines aber müsste nun wirklich klar sein: Die Liberalisierung der Stromversorgung ist krachend gescheitert. Merken es auch die zuständigen Apparatschiks in Brüssel?
Hier wird erneut die Mainstream-Mär verbreitet, die Gas- und Energieknappheit (mit ruinöser Preissteigerung) sei eine «Folge des Krieges» Russlands gegen die Ukraine. Das ist Unfug: Verknappung und Preissteigerung sind Folgen des EU-Boykotts gegen Russland. Eines unwirksamen, unsinnnigen und geradezu sebstzerstörerischen Boykotts zudem. Es schadet vorab den EU-Ländern, wie die neusten Zahlen von Goldman Sachs im Economist (Activity Indicator) zeigen: In Deutschland, Frankreich, Italien und GB schrumpft die Wirtschaft nun bis zu 3% unter Null – während sich Russland mit plus 3% eher gut hält. Und die Cui-Bono-Frage ist rasch beantwortet: Profitieren vom ganzen Sanktions-Unfug tun vorab die USA, welche die naiven EU-Europäer über ihren Hebel namens Nato in die Krise hinein manövriert haben. Zum Glück ist die Schweiz da nicht mit dabei. Dass der schwache Bundesrat vor populistischen FDP- und SP-Politikern einknickte, und die Sanktionen dann doch noch «mitmachte», war ein grober Fehler.