«Grandioser Neubeginn» in den türkisch-irakischen Beziehungen
Die Türkei und der Irak haben Mitte August in Ankara ein «Memorandum of Understanding» unterzeichnet, welches ihre Zusammenarbeit im militärischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Bereich in einer bislang nicht gekannten Dimension festlegt. War das Verhältnis der beiden Nachbarländer oft von Konflikten und Verstimmungen gekennzeichnet, sprechen Politiker und Presse dies- und jenseits der Grenze nun auf einmal einstimmig von einer «win-win»-Situation und von einem «grandiosen Neubeginn» ihrer Beziehungen. Was hat zu dieser spektakulären Wende geführt?
Der Traum vom wirtschaftlichen Aufschwung
Herzstück der Vereinbarungen in Ankara bildet ein Projekt, genannt «Development Road». Es handelt sich um ein 1200 km langes Strassen- und Schienennetz, welches den irakischen Hafen «Faw» nahe Basra über die Türkei mit Europa und darüber hinaus mit den Weltmärkten verbinden soll. In der derzeitigen Ära, in der die globale Politik von einer unvorstellbaren Instabilität gekennzeichnet ist und in der die Schifffahrt durch das Rote Meer nicht mehr als sicher gilt, verheisst die «Development Road» den Irak zu einem Knotenpunkt für den Handel zwischen Asien und Europa zu verwandeln. Katar und die Vereinten Arabischen Emiraten haben bereits ihr Interesse bekundet, das 17-Milliarden-Dollar teure Projekt mitfinanzieren zu wollen.
Der Irak habe vor allem zwei Ziele vor Augen gehabt, kommentiert der nordirakische, kurdische Intellektuelle Ziryan Rojhelati in Nordiraks kurdischer Nachrichtenagentur «rudaw»: Neben dem Projekt «Development Road» ziele Bagdad vor allem auf eine Lösung des chronischen Wassermangels. Die Development Road sei eines der wichtigsten Projekte des Iraks, «ein Traum». Es verkörpere nämlich die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung und verspricht, dieses seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 faktisch in einem Dauer-Krieg befindliche und kriegsmüde Land aus seiner Isolation zu befreien.
Für Wasser auf die Türkei angewiesen
Die chronische Wasserknappheit der letzten Jahrzehnte hat die irakische Landwirtschaft gelähmt und immer wieder zu schweren sozialen Unruhen geführt. Das lebensstiftende Wasser erhalten der Irak und Syrien nahezu ausschliesslich von den zwei biblischen Strömen, Tigris und Euphrat. Die Quellen beider Ströme entspringen in der Türkei, die das Wasser seit den 1980er Jahren durch ein Netz von Staudämmen auf ihrem Territorium aufstaut. Der Irak und Syrien hätten von der Türkei die Freigabe von 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde verlangt, so Ziryan Rojhelati. Stattdessen haben sie rund 130 Kubikmeter erhalten. Nach der jüngsten Annäherung könnte Ankara aber bereit sein, etwas mehr Wassermenge freizugeben.
Beispiellose Kompetenzen für die türkische Armee
Die Türkei legte hingegen grosses Gewicht auf den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit: Bagdad hat sich verpflichtet, in der Türkei fortan die gefürchteten türkischen Drohnen zu kaufen. Ferner stimmte es zu, den bevorstehenden vermeintlich «endgültigen» Kampf gegen die kurdische Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak mit Ankara gemeinsam zu koordinieren. Aber nicht nur das.
Artikel 4 von «Memorandum of Understanding» räumt der Türkei das Recht ein, «legal» türkische Soldaten in der irakischen Hauptstadt sowie in Bashiqa im kurdischen Nordosten zu stationieren und aus gemeinsamen irakisch-türkischen Sicherheitszentren heraus zu operieren.
«Wer hat einem benachbarten Staat überhaupt das Recht eingeräumt, Irak als sein eigenes Territorium zu benützen?», regte sich die Präsidentengattin Shanaz Ibrahim Ahmed, selbst eine Kurdin, auf. Proteste gegen die beispiellosen Kompetenzen, die das Ankaraner Abkommen der türkischen Armee einräumt, blieben bislang aber eher die Ausnahme.
Türkische Soldaten «legal» in Bagdad zu stationieren wäre kürzlich noch als Witz abgetan worden. Bis vor kurzem noch galt der Irak, dessen Bürger mehrheitlich Schiiten sind, unwidersprochen als Teil der iranischen Einflusszone. Beinah routinemässig verurteilte Bagdad jede grenzüberschreitende Operation der türkischen Armee auf sein Territorium als «völkerrechtswidrig» und als «grobe Verletzung der irakischen Souveränität».
Seit der Eskalation im Gaza-Konflikt ist die Aufmerksamkeit Teherans aber ausschliesslich auf Gaza und Israel gerichtet. Die Drohung, dass dieser Konflikt zu einem Flächenbrand ausarten und Iran als Hauptakteur miteinbeziehen könnte, hat offenbar zu einer Verschiebung der geopolitischen Machtverhältnisse geführt: Teherans Einfluss auf Bagdad lässt nach, während jener der Türkei zunimmt.
«Operation Gare» als Befreiungsschlag
Beobachtet man das «Familienbild», das nach der Ankaraner Vereinbarung veröffentlicht wurde, sieht man nur lachende Gesichter: Im Zentrum beide Aussenminister: Hakan Fidan, heute oberster Chefdiplomat der Türkei und jahrelang der änigmatische Chef des mächtigen Geheimdienstes (MIT), dürfte der Mann hinter den Kulissen sein, der die Fäden dieser jüngsten Annäherung zieht. Daneben die Verteidigungsminister, die Leiter ihrer jeweiligen Geheimdienste, der Innenminister der autonomen Kurdistan-Region des Iraks und selbst der Chef der schiitischen Volksmobilisierungseinheiten «Hashd al Shaabi».
Im Bild scheint es eine Einigkeit zu geben zwischen all jenen, die in den Sicherheitsapparaten beider Länder etwas zu sagen haben. Und sie haben über den entscheidenden Krieg um den Berg «Gare» zu entscheiden, der sich gerade in Vorbereitungsphase befindet.
Der Berg «Gare» ist für alle Seiten von strategischer Bedeutung. Die Abhänge des 2251 hohen Bergs haben jahrelang einem grossen Teil der Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Zufluchtsort, Operationsbasis und Trainingsgelände gedient. Von hier aus konnten sich die Guerilla-Formationen leicht zwischen dem Osten (im kurdischen Gebiet des Irans) und dem Westen (im kurdischen Gebiet Syriens-Rojava) bewegen. Murat Karayilan, ein altgedienter PKK-Befehlshaber, verantwortlich für den bewaffneten Flügel der Gruppe, für die sogenannten Volksverteidigungskräfte (HPG), soll sein Hauptquartier tief im Gebirgszug haben.
Seit 2017 bis heute hat die Türkei im irakisch-türkischen Grenzgebiet sieben grossangelegte Militäroperationen geführt; immer mit dem erklärten Ziel, den aus der Türkei stammenden PKK-Rebellen ein und für alle Mal den Garaus zu machen. Laut dem letzten Bericht der «Community Peacemaker Teams in der Kurdistan-Region Irak» (CPT), einer in den USA ansässigen Kriegsbeobachtungsorganisation, kontrolliert die Türkei mittlerweile 86,2 Prozent des türkisch-irakischen Grenzgebietes». Dafür seien bis zu 602 Dörfer zwangsevakuiert worden oder sind von einer bevorstehenden Entvölkerung bedroht. Darunter gehören auch die Dörfer der christlichen Minderheiten der Assyrer und der Chaldäer in Kani Masi. Dabei sind die Anhänger dieser Orientkirchen nicht nur im Nordirak von einer Auslöschung bedroht. Ziel der derzeitigen Vorbereitungsphase sei es, «die Grenze zur Türkei vollständig abzuriegeln und die Guerillabewegungen der PKK zu vernichten», so die CPT.
Die PKK unter enormem militärischem Druck
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan versprach neulich in seiner Heimat Rize, «Irakisch-Kurdistan ein und für alle Mal von den Terroristen der PKK zu säubern». Sein Verteidigungsminister Yaşar Güler pflichtete bei, diesen Job noch in diesem Sommer zu vollenden. Die bevorstehende Schlacht um den Bergzug «Gare» soll aus Sicht türkischer Generäle das Ende der PKK im Nordirak herbeiführen. Und sie soll zugleich dem von Kurden kontrollierten Nordsyrien, bekannt auch als Rojava, ohne Nachschubmöglichkeiten aus dem Irak das Genick brechen. Aus Sicht Ankaras ist die bevorstehende Schlacht also nichts weniger als der Befreiungsschlag.
Es mag ein Zufall sein: Am Tag, als in Ankara das «Memorandum of Understanding» unterzeichnet wurde, feierte die PKK das 40. Jubiläum des bewaffneten Kampfes. Am 15. August 1984 hissten ein paar kurdische Jugendliche in den entlegenen Städtchen Eruh und Semdinli im kurdischen Südosten der Türkei die kurdische Flagge und erklärten den Beginn ihres Befreiungskampfes. Noch setzte sich die Bewegung unter Führung Abdullah Öcalans für die Unabhängigkeit eines kurdischen Staats ein. Vieles hat sich seither verändert. ** (siehe Kasten)
Das Tunnelsystem der PKK
Nun bereitet sich auch die PKK auf die grosse Schlacht im Gare-Gebirge vor. Hat sie überhaupt Überlebenschancen gegen die gemeinsame Front der Türkei, des Iraks und des kurdischen Nordiraks? Die nordirakischen Kurden sind mittlerweile politisch und wirtschaftlich völlig von der Türkei abhängig.**
In einem Exklusivinterview mit der Journalistin Amberin Zaman für die Internet-Plattform Al-Monitor gibt sich Serdar Yektaş, Sprecher des bewaffneten Flügels der PKK, der sogenannten Volksverteidigungskräfte (HPG), gelassen. Weil die Türkei nach 2017 im Nordirak sowie Nordsyrien die selbst hergestellten Drohnen pausenlos und massiv eingesetzt und unzählige PKK-Kader vor allen der mittleren Ebene ermordet habe, sei die PKK gezwungen, eine neue Strategie zu entwickeln. So sei ein kilometerlanges Tunnelsystem entstanden. Laut Yektaş werde ein Angriff auf den Berg Gare für die Angreifer kein Spaziergang sein. Die Taliban hätten in den Tora-Bora-Bergen die Strategie der Tunnelkriegsführung gegen die USA und Russland eingesetzt, setzte er seinen Gedankengang fort. Und die Taliban seien von keiner der zwei Grossmächte besiegt worden. Zuletzt beschwor Yektaş die selbstlose Tapferkeit seiner jungen Truppen. Als wollte er nicht wahrhaben, dass 40 Jahre Tod und Vernichtung ein allzu hoher Preis waren für die Kurden in der Türkei, in Syrien, im Irak und in Iran. Umfragen belegen, dass eine Mehrheit der kurdischen Bevölkerung in der Türkei mittlerweile eine friedliche Lösung befürwortet.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gibt sich als einer der härtesten Kritiker des Vernichtungsfeldzugs, den der israelische Regierungschef Netanyahu in Gaza führt. «Die Hamas könne nicht besiegt werden, weil sie eine Idee ist», wiederholt Erdoğan bei jeder Gelegenheit. «Sie könne nicht besiegt werden, solange die Ursachen nicht beseitigt werden, die die Hamas hervorgebracht haben». Der türkische Präsident und sein Hof scheinen dabei nicht zu realisieren, dass dies auch für die PKK zutreffen könnte; stattdessen reden sie genauso wie Netanyahu lediglich von Vernichtung, Zerschlagung und von einer Endschlacht.
Kurden: 30 Millionen Menschen ohne eigenen Staat
Ein Jahrzehnt nach dem Aufstand in Eruh und Semdinli war aus dem kleinen Grüppchen der PKK-Rebellen eine ernstzunehmende Bewegung erwachsen, mit Ablegern in allen Staaten des Nahen Ostens, die über grosse kurdische Minderheiten verfügten – namentlich in Syrien, im Irak und in Iran. Das kurdische Volk ist mit weit über 30 Millionen Mitgliedern nach den Türken und Arabern das drittgrösste Volk im Nahen Osten – ein Volk allerdings ohne eigenen Staat.
Verteilt über verschiedenen Staaten, fühlten sie sich in ihren jeweiligen Staaten als Bürger dritter Klasse: Die Türkei hat seit ihrer Gründung 1923 eine kurdische Identität innerhalb ihres Territoriums strikt geleugnet und damit über 15 Millionen Menschen den Gebrauch selbst ihrer Sprache verboten.
Der Irak Saddam Husseins setzte massiv Giftgas gegen seine kurdische Bevölkerung ein. Iran suchte mit einer Welle von Exekutionen seine kurdische Minderheit zu bändigen.
Unzählige Jugendliche zogen in den 1990er Jahren in die Berge und schlossen sich der PKK an. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan durch türkische Spezialeinheiten in Nairobi im Rahmen einer verdeckten Operation, die von der CIA und dem Mossad unterstützt wurde, festgenommen. Er sitzt seither in Einzelhaft in der vor Istanbul gelegenen Gefangeneninsel Imrali.
Öcalans Festnahme bedeutete für die PKK einen schweren Schlag. Allen revolutionären Sprüchen zum Trotz trieb die PKK nämlich dem Beispiel der autoritären Regimes des Nahen Ostens folgend einen Personenkult und war nur auf Öcalans Person ausgerichtet.
Die friedlichste Ära
Nach August 1984 versprach jede einzelne türkische Regierung, die PKK ein und für alle Mal auszumerzen – um dann zur Schlussfolgerung zu kommen, dass es für die Kurdenfrage der Türkei keine militärische Lösung gebe. In solchen Momenten wurden den Kurden jeweils zivile Rechte und Freiheiten versprochen. Kein türkischer Staatsmann ging allerdings so weit wie Erdoğan: Im Jahr 2009 und 2013 kam es in Oslo zu Friedensgesprächen zwischen dem Chef des türkischen Geheimdienstes Hakan Fidan, dem heutigen Aussenminister, und der PKK-Führung. Diese Ära wird den Kurden der Türkei als ihre beste, ihre friedlichste in der Republik Türkei in Erinnerung bleiben.
Während in Oslo Friedensgespräche durchgeführt wurden, forderte Öcalan aus seiner Gefängniszelle seine bewaffneten Guerillas zum Rückzug in den Nordirak auf. Seither lebt die überwältigende Mehrheit der PKK-Kämpfer und Kämpferinnen im Nordirak.
Im Jahr 2014* brachen die Osloer Verhandlungen ab – und der Krieg, die Vernichtung kurdischer Städtchen und Dörfer, die Vertreibungen und die Repression kehrten noch gnadenloser als zuvor in den kurdischen Alltag zurück.
Im Jahr 2015 sorgte die PKK auch aus einem anderen Grund für Schlagzeilen der internationalen Presse: während die Weltöffentlichkeit dem ungebremsten Vormarsch der Dschihadisten des ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) wie in Schockstarre zuschaute, boten die Kurden im Städtchen Kobani den extremistischen Islamisten die Stirn und verpassten den vermeintlichen Unbesiegbaren die erste empfindliche Niederlage. Damals gingen die USA mit den Kurden in Syrien eine Allianz ein und konnten die ISIS-Kämpfer besiegen.
Nochmals ein Jahrzehnt später scheinen die Dschihadisten des ISIS in Syrien und in Irak erneut Fuss zu fassen. Die Kurden in der Türkei, im Irak und in Syrien sind aber nach den anhaltenden Operationen der türkischen Armee schwächer als je zuvor und sehen sich gegen die Angriffe des neuen ISIS einmal mehr nur auf sich allein gestellt.
_____________________
*Korrektur: In einer früheren Version stand hier 2015.
** Satz nachträglich ergänzt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihrer SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Der Spiegel und Hasnain Kazim meinten am 26.10.2016, 16.36: «Erdogans Traum vom Osmanischen Reich» und auf Wikipedia heisst es: «Der Irak war eine vergleichsweise unbedeutende Provinz des Osmanischen Reiches….» Möglich, dass der «Grandioser Neubeginn» der türkisch-irakischen Beziehungen die Aufgabe hat den Traum von Präsident Erdogan ein Neo-Osmanische-Reich zu verwirklichen. Am 16. Mai 1916 haben die Briten und Franzosen im geheimen Sykes-Picot-Abkommen die Aufteilung der arabischen osmanischen Provinzen beschlossen und so entstand 1921 der Irak, der unter der Obhut der Briten stand. Höchst beachtenswerte Aussage im Artikel: «….– und bereiten sich auf die grosse Schlacht gegen die Kurden vor…» Möglich, dass Präsident Erdogan erkannt haben könnte: die Iraker könnten treue und zuverlässige Vasallen sein zu verhelfen die Kurden nach Europa umzusiedeln, um sich bei den Franzosen und Briten für die Grenzziehungen nach 1918 zu bedanken.
Gunther Kropp, Basel