Gewählt «dank Charme und Schafen» (2/2)
psi. Dieser Artikel gehört zum Bericht der Extrazugsreise mit der neugewählten Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider in deren Heimatkanton Jura.
Nach ihrer Wahl in den Bundesrat sah sich Elisabeth Baume -Schneider unverzüglich mit zum Teil rüder Kritik konfrontiert. PolitikerInnen und JournalistInnen, die offenbar felsenfest überzeugt sind, die ehemalige Basler Regierungsrätin und amtierende Ständerätin Eva Herzog wäre die viel bessere Bundesrätin gewesen und die bis zuletzt nie im Geringsten daran zweifelten, dass sie gewählt werde, liessen ihrer Empörung freien Lauf. Offensichtlich unter Schock und in heller Entrüstung wurde behauptet, Elisabeth Baume-Schneider sei eine krasse Fehlbesetzung: Erstens sei sie charakterlich für das Amt nicht befähigt. Und zweitens sei nach der Wahl dieser Frau aus dem angeblich ländlichen Kanton Jura die urbane Schweiz im Bundesrat nicht mehr vertreten.
Der Kommentar vom nächsten Tag in der in der Deutschschweiz immer noch tonangebenden «Neue Zürcher Zeitung» zeigt das Ausmass der ungezügelten Rage. Unter dem Titel: «Gewählt dank Charme und Schafen» setzte die Leiterin der Inlandredaktion, Christina Neuhaus einen Kommentar ins Blatt, der die neue Bundesrätin als immer fröhliche, geistig unbeholfene «Schwarznasenschaf-Halterin» beschreibt. Ihren Siegeszug habe sie «ihrem gewinnenden Wesen» zu verdanken: «Wo Eva Herzog ernst in die Kamera schaute, lachte die Jurassierin. Wo Herzog jedes Wort auf die Goldwaage legte, plauderte Baume-Schneider munter drauf los.» Vielleicht könne man «von Schafen mehr lernen als man denken könnte», las man in der «NZZ». «Wahrscheinlich war Elisabeth Baume-Schneider, die fröhlichste Bundesratskandidatur seit Adolf Ogi, schon immer so unbeschwert.»
Bern sehne sich nach «guter Laune und Fröhlichkeit»
Auch die bürgerlichen ParlamentarierInnen, die die Basler Kandidatin verschmähten, werden im «NZZ»-Kommentar als ziemlich dumm verhöhnt: Die «plötzliche Offenheit» mit der die in Bern vertretenen Bauern, die «halbe SVP» und sogar «mehrere FDP-Mitglieder» auf Baume-Schneider reagiert hätten, zeige, «wie sehr sich das politische Bern nach ein bisschen gute Laune, Fröhlichkeit und Zugänglichkeit gesehnt hat.»
Es sei ja «nicht das erste Mal», dass die männliche Parlamentsmehrheit bei einer Auswahl von zwei Frauen die «Gmögigere» gewählt habe. Der «NZZ»-Kommentar erinnert an die Appenzell Innerrhoderin Ruth Metzler, die 1999 anstelle der besser qualifizierten St. Galler CVP-Regierungsrätin Rita Roos gewählt worden sei. Mit keinem Wort erwähnt wird aber die Sozialdemokratin Ruth Dreifuss, die 1993 einen vergleichbar überraschenden Aufstieg in den Bundesrat schaffte. Und die nach zehn Jahren im Amt bis heute weit über die Linke hinaus als herausragend kompetente, glaubwürdige und in der Bevölkerung beliebte Bundesrätin in Erinnerung geblieben ist.
Ganz anders als jetzt im Fall Baume-Schneider hatte die «NZZ» im Fall von Ruth Dreifuss staatspolitisch verantwortungsvoll reagiert. «Praktisch über Nacht» habe die Bundesversammlung eine Frau gewählt, die nie in einem Parlament oder in einer Regierung gearbeitet habe. Aber sie wirke «sachlich beschlagen, intellektuell beeindruckend», schrieb die damalige Inlandredaktorin Esther Girsberger. Innert weniger Stunden sei es Ruth Dreifuss gelungen «grosse Teile der FDP-, CVP- (heute Mitte) Fraktionen zu überzeugen. «Selbst die SVP scheint mit dieser Wahl leben zu können.»
Warum sieht die «NZZ» bei Elisabeth Baume-Schneider jetzt alles so ganz anders? Warum sucht man hier auch in der «NZZ» Aufmerksamkeit durch Provokation und rüde Töne? Am Schluss platziert der «NZZ»-Kommentar auch noch einen «Schlötterling» an die Adresse des dummen Volkes, das die jurassische Bundesrätin ja sympathisch und fähig finden könnte: «Die Landesregierung hat zwar etwas menschliche Wärme nötig. Allein mit guter Laune lässt sich nicht einmal ein Land regieren, das «Benissimo» für den Gipfel der TV-Unterhaltung hält.»
Urbane Schweiz nicht mehr vertreten
Der zweite Grund für den weitherum verbreiteten Vorwurf, Baume-Scheiders Wahl sei eine Fehlbesetzung, tönt rationaler: Kritisiert wird ihre Herkunft. Sie ist in den jurassischen Freibergen aufgewachsen und wohnt jetzt in der Gemeinde Les Breuleux (1500 Einwohner, 1000m ü.M.). Der Kanton Jura mit seinen Weiden, Tannen und Rössern sei ein ländliches Bauerngebiet. Mit ihrer Wahl seien die «urbane Schweiz», die «strukturstarken Regionen», die «Wirtschaftsmotoren» in den «Grossstädten» und grossen Ballungsgebieten, die «Geberkantone» im Finanzausgleich des Bundes in der Regierung nicht mehr vertreten, las man in vielen Medien der Deutschschweiz . (Unter anderen Stimmen zum Beispiel: «20 Minuten online», «Watson», «Schaffhauser Nachrichten», «Tages-Anzeiger»).
Das sei «schlecht für die Schweiz» war die vorherrschende publizierte Meinung. Jetzt sei der Bundesrat «aus dem Gleichgewicht».
Andere und differenziertere Analysen waren selten: In verschiedenen Medien wird der Politgeograf Michael Hermann mit der Aussage zitiert, diese Bundesratswahl sei zwar «schlecht für die Dynamik», aber langfristig wichtiger, «gut für den Zusammenhalt des Landes». In der «Basler Zeitung», widerspricht Andreas Gross, der 1991-2015 als Sozialdemokrat im Nationalrat sass und seit bald 30 Jahren im jurassischen St. Ursanne wohnt, der Behauptung, der Jura sei ein Bauernkanton: «95 Prozent der Jurassier sind keine Landeier» sagt Gross. Die Freiberge seien eine «einzigartige Industrielandschaft». Pferde stünden neben Tannen, neben Fabriken und Ateliers von Hightechunternehmen. Der Wohnort der neuen Bundesrätin, Les Breuleux, gehöre «zu den reichsten Gemeinden des Kantons». Deutschschweizer JournalistInnen, die Baume-Schneiders Wahl als «Sieg der ländlichen Schweiz» beschrieben haben, empfiehlt Gross ihre Kenntnisse der Schweizer Wirtschaftsgeografie «à jour zu bringen».
Wie sehr der Jura nicht Bauernland, sondern komplexes traditionsreiches Industriegebiet ist, kann man gegenwärtig im Kino im neuen, feinen Film «Unrueh» von Cyril Schäublin sehen. Er spielt in Saint-Imier, der industriellen Kleinststadt mit einmal fast 8’000, heute noch 4’800 EinwohnerInnen im berntreu gebliebenen Südjura, wo Bundesrätin Baume-Schneider geboren wurde. Von Saint-Imier aus wurden einmal grosse Uhrenmarken wie Breitling, Blancpain, Chopard, TAG Heuer in alle Welt exportiert. Heute produziert die zur Swatch Group gehörende «Longines» in Saint-Imier und es sind neue Fabriken und Ateliers für Präzisionsinstrumente und Medizinalgeräte entstanden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das Zentrum der hochentwickelten «urbanen Schweiz», Zürich, scheint es schwer zu ertragen, dass die Banausen in der Bundesversammlung eine Bundesrätin aus der «Wüste», dem Jura, wählten, wo sich nur Schwarznasenschafe wohlfühlen.
Danke, sehe ich ebenso.
Ich habe mich über die Wahl von Baume-Schneider gefreut. Man sollte niemanden so leichtfertig unterschätzen.
Die Kompetenz möchte ich Frau Herzog auch nicht absprechen. Aber ihre Standpunkte in der Steuerpolitik werden von bürgerlicher Seite schon mehr als genug vertreten. Von einer SP-Bundesrätin wünsche ich mir da Gegensteuer.
Danke Richard Aschinger für die wichtigen Korrekturen bei den allgemein zu hörenden Medien-Stimmen.
Ich freue mich darauf, die Arbeit der neuen Bundesrätin mitzuverfolgen. Hoffentlich kann sie ihr Wissen gut einbringen und es wird ihr zugehört.