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Israelische Soldaten überwachen ein komplett zerstörtes Wohngebiet im nördlichen Gaza-Streifen, 28. Dezember 2023. © Yonatan Sindel/Flash 90

Gaza: Schiessen aus Langeweile

Pascal Derungs /  Mehrere israelische Soldaten berichten von willkürlichen Erschiessungen und Zerstörungen, von «totaler Handlungsfreiheit».

Die israelische Armee billige de facto willkürliche Gewaltanwendung in Gaza durch ihre Truppen, berichtete Oren Ziv im «+972 Magazin». Das unabhängige Online-Magazin, das von einer Gruppe palästinensischer und israelischer Journalisten betrieben wird, stützt sich dabei auf die Aussagen von sechs israelischen Soldaten, die vor ihrer Entlassung aus dem aktiven Dienst in Gaza stationiert waren. Diese bezeugen, dass es im Gaza-Krieg kaum Schiessvorschriften gebe, dass die Truppen auf Palästinenser schiessen würden, wie sie wollten, Häuser in Brand setzten und Leichen auf den Strassen liegen liessen – alles mit der Erlaubnis ihrer Kommandeure.

Diese Zeugenaussagen bestätigen Videodokumentationen des Senders Al Jazeera vom Juni 2024. Darin wurden bei drei verschiedenen Gelegenheiten sogenannte «summarische Hinrichtungen» enthüllt. Israelische Soldaten erschossen mehrere unbewaffnete Palästinenser, die in der Nähe der Küstenstrasse im Gazastreifen unterwegs waren. In jedem dieser dokumentierten Fälle stellten die Opfer keine unmittelbare Bedrohung dar.

Alle sechs vom «+972 Magazin» befragten Soldaten sagten aus, dass sie autorisiert gewesen seien, praktisch nach Belieben das Feuer auf Palästinenser zu eröffnen, auch auf Zivilisten, Frauen und Kinder.

Fünf dieser sechs Quellen berichteten anonym, wie israelische Soldaten routinemässig palästinensische Zivilisten hingerichtet hätten, nur weil diese in ein Gebiet eingedrungen seien, welches das Militär als «No-Go-Zone» definierte. Die Zeugen berichteten von Gegenden, die übersät seien mit zivilen Leichen, die verwesten oder von streunenden Tieren gefressen würden. Die Armee verberge sie nur bei der Ankunft internationaler Hilfskonvois vor den Blicken, damit keine Bilder von zerfallenden Leichen in die Welt gelangen könnten.

Uneingeschränkte «licence to kill»

Mehrere dieser Zeugen beschrieben, wie die Möglichkeit, ohne Einschränkungen zu schiessen, den Soldaten erlaubt habe, «Dampf abzulassen» oder die Langeweile ihres Alltags zu lindern. «Es herrschte völlige Handlungsfreiheit», sagte B., ein Soldat, der monatelang in den regulären Streitkräften in Gaza diente, unter anderem in der Kommandozentrale seines Bataillons. «Wenn es ein Gefühl der Bedrohung gibt, muss man sich nicht erklären – man schiesst einfach. Wenn Soldaten sehen, dass sich jemand nähert, ist es erlaubt, auf ihren Körper zu schiessen, nicht in die Luft.. Und Zeuge B. ergänzte: «Es ist erlaubt, jeden zu erschiessen, auch ein junges Mädchen, eine alte Frau.»

Zeuge B. schilderte einen Vorfall im November 2023. In Gaza-Stadt sollten die Soldaten eine Schule räumen, die als Zufluchtsort für vertriebene Palästinenser diente. «Es gab Geheimdienstinformationen, dass die Hamas Panik schüren wollte», sagte B. Die Armee habe den Evakuierten befohlen, sich in Richtung Meer zu wenden, weg vom Standort der Soldaten. Als im Gebäude Schüsse ertönten, seien die Leute weggerannt. «Einige flohen nach links in Richtung Meer, einige rannten nach rechts, darunter auch Kinder. Jeder, der das tat, wurde getötet – 15 bis 20 Menschen. Da war ein Haufen Leichen.»

Das tödliche «laisser faire» hat Tradition

Seit den 1980er Jahren weigert sich das israelische Militär, seine Vorschriften für Schiesserlaubnis transparent zu machen, trotz verschiedener Petitionen an den Obersten Gerichtshof. Laut dem politischen Soziologen Yagil Levy habe die Armee seit der Zweiten Intifada «den Soldaten keine schriftlichen Einsatzregeln mehr gegeben», was viel Raum für die Interpretation der Soldaten im Feld und ihrer Kommandeure lasse.

M., einer der Reservisten, die im Gazastreifen dienten, erklärte gegenüber dem «+972 Magazin», dass oft Schiessbefehle direkt von den Kommandeuren der Kompanie oder des Bataillons im Feld kämen, wenn keine anderen israelischen Truppen in der Gegend seien. Dann werde uneingeschränkt geschossen, «wie verrückt». Und nicht nur mit Kleinwaffen, sondern «mit Maschinengewehren, Panzern und Mörsern». Wenn kein Schiessbefehl vorliege, so Zeuge M., nähmen die Soldaten im Feld das Gesetz regelmässig selbst in die Hand. «Reguläre Soldaten, untergeordnete Offiziere, Bataillonskommandeure, auch jüngere Ränge» – wer schiessen wolle, habe die Erlaubnis.

Alle Palästinenser stehen unter Generalverdacht

Zeuge B. sagte, in Gaza sei es schwierig, Zivilisten von Kämpfern zu unterscheiden. Angehörige der Hamas würden oft «ohne ihre Waffen herumlaufen». Das habe fatale Folgen: «Jeder Mann zwischen 16 und 50 Jahren steht im Verdacht, ein Terrorist zu sein. Jeder, der sich draussen aufhält, ist verdächtig», fuhr B. fort. «Wenn wir jemanden in einem Fenster entdecken, der uns ansieht, ist er ein Verdächtiger. Du schiesst.»

Mehrere Soldaten sagten aus, dass die freizügige Schiesspolitik es israelischen Einheiten ermöglicht habe, palästinensische Zivilisten zu töten, selbst wenn sie vorher als solche identifiziert wurden. Zeuge D., ein Reservist, sagte, dass seine Brigade neben zwei sogenannten «humanitären» Reisekorridoren stationiert gewesen sei, einem für Hilfsorganisationen und einem für Zivilisten, die vom Norden in den Süden des Gazastreifens flohen.

Im Einsatzgebiet seiner Brigade hätten sie diese Zonen mit einer roten und einer grünen Linie abgegrenzt. Drangen Palästinenser in die Zone für Hilfsorganisationen ein, seien sie zur Zielscheibe geworden. «Wenn sie die rote Linie überschreiten, meldest du es über Funk und musst nicht auf die Erlaubnis warten, du kannst schiessen.»

D. sagte aus, dass Zivilisten oft in die Gebiete gekommen seien, durch die Hilfskonvois fuhren, um nach Resten zu suchen, die von den Lastwagen fallen könnten. «Die Zivilisten sind eindeutig Flüchtlinge, sie sind verzweifelt, sie haben nichts», sagte er. Nichtsdestotrotz sei es Usanz gewesen, jeden zu erschiessen, der einzudringen versuchte. In den ersten Monaten des Krieges hätten Soldaten seines Bataillons jeden Tag zwei oder drei Mal unschuldige Menschen erschossen, nur weil sie «im Verdacht standen, von der Hamas als Späher geschickt worden zu sein».

Nur einer der Soldaten, die vom «+972 Magazin» interviewt wurden, wollte namentlich genannt werden: Yuval Green, ein 26-jähriger Reservist aus Jerusalem, der im November 2023 in der 55. Fallschirmjägerbrigade diente. Green unterzeichnete einen Brief von 41 Reservisten, die sich nach der Invasion der Armee in Rafah weigerten, weiter in Gaza zu dienen. Er ergänzte gegenüber +972: «Es gab keine Beschränkungen für Munition», die «Soldaten haben nur geschossen, um die Langeweile zu vertreiben.»

Nicht einmal «sichere Zonen» sind sicher

Die Soldaten sagten aus, dass in ganz Gaza Leichen von Palästinensern in Zivilkleidung entlang der Strassen und auf offenem Gelände verstreut lagen. «Das ganze Gebiet war voller Leichen», sagte S., ein Reservist. Es rieche schrecklich nach Tod. Zwei der interviewten Soldaten beschrieben auch, wie ein internes Video Leichen zeige, die entlang der «sicheren Route» in Gaza gelegen hätten.

«Ich habe viele palästinensische Zivilisten gesehen – Familien, Frauen, Kinder», sagte S. aus. «Es gibt mehr Todesopfer als gemeldet werden. Wir waren in einem kleinen Gebiet. Jeden Tag wurden mindestens ein oder zwei Zivilisten getötet, weil sie sich in einer No-Go-Area aufhielten. Ich weiss nicht, wer ein Terrorist ist und wer nicht, aber die meisten von ihnen trugen keine Waffen.»

A. erklärte, dass das Schiessen auf «Krankenhäuser, Kliniken, Schulen, religiöse Institutionen, und Gebäuden internationaler Organisationen» eine «höhere Genehmigung» erfordert habe. Aber in der Praxis «kann ich die Fälle, in denen uns gesagt wurde, wir sollten nicht schiessen, an einer Hand abzählen. Selbst bei sensiblen Zielen wie Schulen fühlt sich die Genehmigung nur wie eine Formalität an.»

Generell, so A. weiter, «herrschte im Kommandoraum die Stimmung ‹Erst schiessen, dann Fragen stellen›. Das war der Konsens. Niemand wird eine Träne vergiessen, wenn wir ein Haus dem Erdboden gleichmachen, obwohl es keine Notwendigkeit gibt, oder wenn wir jemanden erschiessen, den wir nicht müssten.»

Auch Zeuge A. sagte aus, dass es oft nicht klar gewesen sei, ob Soldaten auf militante oder unbewaffnete Zivilisten geschossen hätten. Diese Unklarheit über die Identität der Opfer bedeute jedoch, dass man den Berichten des Militärs über die Zahl der getöteten Hamas-Mitglieder nicht trauen könne. Sie hätten «jeden Menschen, den wir töteten, als Terroristen betrachtet», sagte er. In ihrer Wahrnehmung seien alle Männer Terroristen gewesen.

Der unterschwellige Wunsch nach Vergeltung und Rache

In den ersten Wochen nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober, so A., hätten sich viele Soldaten schuldig gefühlt, dass dies vor den Augen der Armee habe geschehen können. Dieses Gefühl habe sich – auch in der israelischen Öffentlichkeit – schnell in den Wunsch nach Vergeltung verwandelt.

«Es gab keinen direkten Befehl, Rache zu nehmen», sagte A., aber wenn man vor einer Entscheidung stehe, hätten Anweisungen, Befehle und Protokolle nur einen begrenzten Einfluss. Als Drohnen Aufnahmen von Angriffen in Gaza per Livestream übertrugen, «gab es Jubel im War Room», sagte A. «Hin und wieder stürzt ein Gebäude ein – und das Gefühl ist: Wow, wie verrückt, was für ein Spass.»

Die Politik der verbrannten Erde

Zwei der Soldaten bezeugten eine systematische Politik, wonach sie besetzte palästinensische Häuser beim Abzug in Brand steckten. Auch Zeuge B. berichtete, seine Kompanie habe «Hunderte von Häusern niedergebrannt». Das Niederbrennen palästinensischer Häuser sei unter israelischen Soldaten zu einer gängigen Praxis geworden, berichtete auch die israelische Zeitschrift Haaretz erstmals im Januar 2024.

Yuval Green sagte, er sei persönlich Zeuge von zwei solcher Fälle – der erste eine unabhängige Initiative eines Soldaten, der zweite auf Befehl eines Kommandeurs. Bei besetzten Häuser laute die Doktrin: «Bevor du gehst, brennst du das Haus nieder – jedes Haus.» Dies werde auf Ebene der Bataillonskommandeure unterstützt.

«Am Ende stirbst du vor Langeweile, nach Tagen des Wartens dort», sagte Green. «Wir haben alles zerstört, was wir wollten», sagte Green aus. «Dies geschah nicht aus dem Wunsch nach Zerstörung, sondern aus völliger Gleichgültigkeit gegenüber allem, was den Palästinensern gehört. Ich habe keine Vorher-Nachher-Fotos gemacht, aber ich werde nie vergessen, wie eine Nachbarschaft, die wirklich schön war, zu Sand zerkleinert wurde.»

Für ihn habe das keinen Sinn ergeben: «Wir sind nicht in diesen Häusern, weil sie Hamas-Aktivisten gehören, sondern weil sie uns operativ dienen. Es ist das Haus von zwei oder drei Familien – es zu zerstören bedeutet, dass sie obdachlos werden.» Die Zerstörung, die das Militär in Gaza hinterlassen habe, sei «unvorstellbar». Der Frust über diese Politik sei mit ein Grund gewesen, den weiteren Militärdienst zu verweigern, sagte Yuval Green.

Die israelische Armee lässt alle Vorwürfe abprallen

Ein Sprecher des israelischen Militärs IDF habe auf die Bitte des «+972 Magazin» um Stellungnahme mit folgender Erklärung geantwortet: «Allen IDF-Soldaten, die im Gazastreifen und an den Grenzen kämpfen, wurden bei ihrem Eintritt in den Kampf Anweisungen zur Feuerfreigabe gegeben. Diese Anweisungen spiegeln das Völkerrecht wider, an das die IDF gebunden ist.» Diese Anweisungen würden regelmässig überprüft, gegebenenfalls aktualisiert und von den höchsten Beamten der IDF genehmigt. Es würden alle Einsatzsituationen berücksichtigt. Die Streitkräfte müssten bei jeder Gefährdung «die volle operative Handlungsfreiheit» haben, um Bedrohungen zu beseitigen. Den Soldaten seien Instrumente an die Hand gegeben, um komplexe Situationen in Gegenwart der Zivilbevölkerung zu bewältigen und den Schaden für Menschen gering zu halten, die keine Bedrohung für das Leben der Soldaten darstellen. Die von den Zeugen beschriebenen Ereignisse stünden im Widerspruch zu den Befehlen des Heeres und würden untersucht. Auch «das Niederbrennen von Gebäuden, das für operative Zwecke nicht notwendig ist», verstosse gegen die Befehle der Armee und die Werte der IDF. Vorfälle, bei denen die Streitkräfte nicht in Übereinstimmung mit den Befehlen und dem Gesetz gehandelt hätten, würden untersucht.

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