Gaza: «Ich träume jede Nacht von Nahrung»
Nachdem die US-Regierung ihr 30-tägiges Ultimatum an Israels Regierung ohne Konsequenzen hat verstreichen lassen, ist die humanitäre Lage in Gaza katastrophaler denn je. Die Menschen essen Hundefutter oder teilen sich einen Dattelkeks: die eine Hälfte am Mittag, die andere am Abend. Es bahnt sich eine gigantische Hungersnot an.
Augenzeugenbericht aus Gaza
Der Journalist Abubaker Abed versucht, neben seiner Suche nach etwas Essbarem für seine Familie, die Weltöffentlichkeit ob der unerträglichen Situation vor Ort ins Bild zu setzen. Den Augenzeugenbericht, auf dem dieser Artikel basiert, hat er auf «Drop Site News» publiziert.
Vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der brutalen Bombardierung des Gazastreifens durch Israel kamen täglich noch 500 Lastwagen mit Lebensmitteln in den schmalen Landstreifen. Schon damals war dies nicht ausreichend für eine ausgewogene Ernährung der Bevölkerung von über 2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Heute überqueren noch 45 Lastwagen mit humanitärer Hilfe die Grenze, und die kommerziellen Transporte von Lebensmitteln für die Märkte sind komplett eingebrochen.
Das «Ultimatum» der US-Regierung: Bloss eine «Idee»
Die US-Regierung forderte über ihren Aussenminister Anthony Blinken ein Minimum von 350 Lastwagen pro Tag; ansonsten würde sie «ihre Politik gegenüber der Regierung von Netanyahu revidieren» müssen. Das Ultimatum lief vor zwei Wochen ab. Die Situation ist nicht etwa besser geworden, im Gegenteil. Doch seitens der USA geschah… nichts. Der Sprecher des State Department, Vedant Patel, meinte lakonisch, dass es sich beim Ultimatum von Blinken bloss um eine «Idee» gehandelt habe.
Inzwischen verhungern immer mehr Menschen, vergiften sich mit verdorbenen Lebensmitteln oder kommen durch Bombenbeschuss um beim Versuch, irgendetwas Essbares zu finden.
Gewürze gelten als Lebensmittel
Abubaker Abed berichtet von seiner eigenen Familie: «Wir sind gezwungen, Tierfutter in Dosen zu essen, gemischt mit minderwertigem Reis, der sich anfühlt, als würde man Plastik kauen. Wir leben in Deir al-Balah, und wie überall in Gaza gibt es auf den Märkten nichts zu kaufen. Wir essen in der Regel eine Mahlzeit am Tag, meist etwas Dosenfutter zusammen mit Olivenöl und Za’atar [eine Gewürzmischung]. Um Brot zu backen, müssen wir von Wanzen befallenes Mehl verwenden. An manchen Tagen, wenn wir nichts anderes finden, sind wir gezwungen, absurde Preise für verrottetes Gemüse zu zahlen. Ich habe starke Magenschmerzen. Ich würde lieber fasten, als das zu essen.»
Yasmeen Abu-Hmeidan ist eine Mutter von vier kleinen Kindern, die nach Deir al-Balah geflüchtet ist, südlich des grossen Flüchtlingslagers Nuseirat. Sie erzählte Abubaker Abed: «Kürzlich nahm ich meinen einen Monat alten Säugling mit und stand mehr als drei Stunden in der Schlange für eine Dose Milch und eine Tüte mit Windeln. Aber ich habe nichts bekommen. Unsere übliche Mahlzeit sind gekochte Bohnen oder Erbsen, aber wir haben nicht immer welche, oder sogar das Feuerholz, um sie zu kochen, fehlt. Stattdessen essen wir vielleicht etwas Za’atar oder Dukka [andere Gewürzmischung] mit ein paar Broten, die meist altbacken sind. Mein fast zweijähriger Sohn leidet jetzt an Zahnbluten, weil er keine Milch mehr bekommt. Ich kann weder Milch noch Medikamente für ihn auftreiben. Hier in Gaza müssen wir unerschwingliche Summen bezahlen, um überhaupt etwas zu bekommen. Für eine Linsensuppe muss man zum Beispiel 20 Dollar bezahlen. Es ist wirklich wahnsinnig.»
Statt echte Eier Fotos von Eiern im Internet
Andere Eltern berichten, dass ihre Kinder vor Hunger im Schlaf schrieen und am Morgen um ein Ei flehten. Da es solche aber nicht mehr gebe, zeige man ihnen Fotos von Eiern im Internet. Im Norden von Gaza sei die Situation aufgrund der harten Massnahmen des israelischen Militärs noch dramatischer. Abubaker Abed berichtet von einem 48-jährigen Mann, der auf der Suche nach etwas Essbarem von einem israelischen Panzer unter Feuer genommen wurde. Er und weitere Begleiter wurden schwer verletzt.
Abbas Saleh – so heisst der Mann – meinte gegenüber Drop Site News: «Israel nimmt gezielt Menschen ins Visier, die auf der Suche nach Nahrung und Wasser sind. Wir können kaum eine Mahlzeit pro Tag bekommen. Das ist eigentlich keine Mahlzeit, sondern nur ein Stück Brot oder eine Dose mit Lebensmitteln, die schon vor Monaten abgelaufen sind. Während der letzten Invasion habe ich viele Tage ohne einen Bissen überstanden. An mehreren Tagen hatte ich den ganzen Tag über nur einen Dattelkeks. Ich habe ihn in zwei Hälften geteilt, eine für den Tag und die andere für die Nacht. Manchmal essen wir ein paar selbst angebaute Pflanzen wie Malven. Sogar das Wasser hier ist verseucht.» Er habe bereits über 30 Kilo abgenommen.
Aushungern als Kriegsstrategie
Inzwischen hat die israelische Regierung auch die kommerziellen Lieferungen für noch bestehende Märkte und Geschäfte gestoppt. Diese konnten für all jene Menschen, die noch Geld haben, immerhin die erforderlichen Grundnahrungsmittel bereitstellen. Für Abubaker Abed ist klar, dass es sich um eine gezielte Strategie seitens Israel handle, die Bevölkerung in Gaza auszuhungern. Dies wird allgemein als «Genozid» definiert.
Träumen vom Lieblingsessen
Abubaker Abed beschliesst seinen Augenzeugenbericht mit den folgenden Worten: «Ich habe wirklich Lust auf mein Lieblingsgericht, Schakschouka [arabisches Eiergericht]. Aber es gibt keine Eier und nicht einmal Tomaten, um es zuzubereiten. Unsere Qualen sind unbeschreiblich. Unser Schmerz ist unermesslich. Wir sind ausgehungert und zittern vor Angst und Kälte. Aber niemand unternimmt etwas, um diese Tragödie zu beenden. Ich weiss nicht, wann es ein Ende haben wird, aber ich träume von dem Tag, an dem ein Waffenstillstand verkündet wird und ich in die Trümmer meines Hauses zurückkehren und all die Gerichte essen kann, von denen ich in den letzten 14 Stunden geträumt habe.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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