Kommentar

Gaza: Ende der Hamas-Alleinherrschaft?

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Fakten-Futter für unsere Diskussion: Joseph Croitoru schildert Entstehung und Entwicklung der Hamas.

Ein ruhiges und beunruhigendes Buch. Ruhig, detailliert und faktenorientiert erzählt der israelisch-deutsche Historiker Joseph Croitoru die Geschichte der Hamas, die – zieht man das beunruhigende Fazit für die Diskussion hierzulande – als klerikal-totalitäre Terrororganisation erscheint.

Islamisierung

Von Verirrung oder fehlgeleiteter Entwicklung der Organisation kann keine Rede sein. Die Hamas, die 1987 im Zusammenhang der ersten Intifada aus dem Ableger der ägyptischen Muslimbrüderschaft heraus gegründet wurde, verfolgte von Anfang an das Ziel, im nicht besonders religiösen Palästina ein militant-islamisches, dem Dschihad verpflichtetes Regime zu errichten. Nach 2007, als die Hamas sich in Gaza gewaltsam an die Macht gekämpft hatte, zeigte sie, was gemeint war: Zensur, Frauenschikanen, Sittenwächter, Scharia, Tugendkampagnen usw: Das ganze Arsenal der religiösen Finsternis. Es gab, das stimmt, noch radikalere Islamisten als die Hamas. Und, vor allem, bemerkenswert und von Croitoru zwar erwähnt, aber wenig ausgeleuchtet: Die palästinensische Zivilgesellschaft verhinderte manch extreme Schreckensmassnahme. Da zeigte sich die Hamas taktisch klug, bei allzuviel Opposition zuckte sie zurück.

Keinen Frieden!

Die Hamas ist «zugleich politische Bewegung, Wohlfahrtsorganisation und Miliz». Ihr militärischer Arm, der seit 1991 von der Kampf- und Terrorgruppe der Qassam-Brigaden gebildet wird, gewann allerdings im Laufe der Entwicklung immer mehr Einfluss innerhalb der Organisation –   Einfluss in Wort und Tat. Die antisemitische Gründungscharta von 1988 ist zwar im Laufe der Jahre relativiert worden, aber die Grundlagen des politischen Programms der Hamas sind bestehen geblieben: Der Konflikt mit Israel sei ein religiöser,  Moslems stünden gegen Juden. Und er sei nur mit Gewalt zu lösen. Die Hamas hat alle Friedensbemühungen konsequent bekämpft, und zwar nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Mit Selbstmordattentaten in den 90er Jahren hat sie zum Scheitern des Friedensprozesses von «Oslo» und zum Erstarken der friedensfeindlichen israelischen Rechten wesentlich und ganz bewusst beigetragen. Brutal hat sie die PLO bekämpft, vor allem von dem Moment an, als diese dem Terrorismus abschwor und den politischen Weg einer Verständigung mit Israel gehen wollte. Es ist schockierend zu lesen, wieviel palästinensisches Blut die Hamas vergossen hat, im Kampf gegen die PLO, durch Liquidierung von Kollaborationsverdächtigen und nicht zuletzt dadurch, dass sie die Bevölkerung immer wieder in bewaffnete Kämpfe gegen Israel gehetzt hat, obwohl die Opferzahlen auf palästinensischer Seite jedes Mal und vorhersehbar so grotesk viel höher waren als auf israelischer. Allerdings ist noch schockierender, dass die Hamas von falschen Palästinenserfreundinnen noch immer als Teil der palästinensischen Befreiungsbewegung bezeichnet wird.

Israels Wahn

Israelische Regierungen haben – teils absichtlich, teils ungewollt, teils in Kauf nehmend – zum Erstarken der Hamas beigetragen. Der Grund war allemal, dass sie in ihrer Verblendung mit allen Mitteln die Entstehung eines palästinensischen Staates verhindern wollten. Vor der Gründung der Hamas hat Israel die Islamisierungsbemühungen unterstützt, um die PLO zu schwächen, ohne die Gefahren zur Kenntnis zu nehmen, die in der beabsichtigten Verwandlung des Palästina-Konflikts in einen religiösen Konflikt lagen.  

Bei der Zerstörung des Friedensprozesses klappte das Zusammenspiel zwischen den Radikalen beider Seiten, Hamas und israelischer Rechten, geradezu perfekt. Sie schaukelten sich gegenseitig hoch. Je rechter die israelische Regierung und Volksmeinung, desto plausibler die Hamas-Forderung nach einer Zerstörung Israels. Je aggressiver die Hamas, desto rechter wurde Israel. Israelische Regierungen sorgten zuverlässig dafür, dass die politische Versöhnungs-Strategie der PLO erfolglos blieb – ein Grund dafür, dass die Hamas triumphierte und die PLO an Einfluss verlor.

Bis zur Attacke des siebten Oktobers genehmigte die israelische Regierung beachtliche Geldtransfers an die Hamas und stellte für Arbeiter Einreisebewilligungen nach Israel aus. Sie ermöglichte so die Entfaltung der Hamas.

Es gab Anzeichen

Erst recht haarsträubend ist, was Croitoru zur Vorgeschichte der Invasion vom siebten Oktober recherchiert hat. Es fehlte nicht an Warnungen, dass sich an der Grenze des Gaza-Streifens etwas zusammenbraue, aber Armeeführung und Regierung Israels waren taub, denn sie waren obsessiv damit beschäftigt, die aggressiven Siedler der Westbank zu schützen und zu unterstützen, um ihre verbrecherischen Annexionsabsichten voranzubringen. Zwei von vielen schockierenden Fakten:  

Eine der israelischen Soldatinnen, denen die Bedienung der Überwachungsanlagen entlang des Grenzzauns zu Gaza oblag, sagte einem hochrangigen Offizier der Gaza-Division, der die Militärbasis einen Monat vor dem Angriff des siebten Oktober besuchte: «Hier wird es Krieg geben und wir sind nicht vorbereitet». Der Offizier reagierte lediglich mit einer Rüge dafür, dass sie es gewagt habe, ihn direkt anzusprechen. (S. 173)

Die Folge dieser allgemeinen und staatlichen Verblendung im Vorfeld des siebten Oktober beschreibt Croitoru so:

«So waren in der Zeit vor der terroristischen Grossoffensive im Grenzgebiet zum Gazastreifen gerade mal vier Armeebataillone fest stationiert, deren Trupps an diesem Samstag wegen des Feiertags nur zur Hälfte einsatzbereit waren, während gleichzeitig in der Westbank zweiunddreissig Bataillone operierten.» (S. 172 f) «Zudem waren die örtlichen Abwehrgruppen der israelischen Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten, inklusive der illegalen ‘Aussenposten’, bei der Versorgung mit Waffen bevorzugt worden, während das Militär die Bereitschaftstrupps in den Orten rund um den Gazastreifen immer weiter vernachlässigte – nicht nur durch sukzessiven Entzug der Waffen, sondern auch durch die Reduzierung des Trainings und des direkten Kontakts.» (S. 174)

Ausblick

Croitoru vermutet, das Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza sei gekommen: «Ihre eineinhalb Jahrzehnte währende Alleinherrschaft in Gaza wird in die Annalen der Region wohl als weiterer gewaltsam verhinderter Versuch eingehen, ein islamistisches Regime zu etablieren – ähnlich dem ihrer Mutterorganisation, der Muslimbrüder in Ägypten.» (S. 194) Das könnte ein Funken Hoffnung sein, wenn Israel gleichzeitig auch die rechtsradikale Netanyahu-Regierung samt ihrer Unterstützung im Volk loswürde.

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Joseph Croitoru: Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel. C.H.Beck München 2024, 22 CHF, 18 Euro.


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Eine Meinung zu

  • am 25.08.2024 um 13:39 Uhr
    Permalink

    Ich weiss, dass mich sogleich der Bannstrahl der Diffamierung treffen wird. Die Hamas ist eine islamistische Organisation, die für meine politischen Vorstellungen jenseits jeglicher Akzeptanz ist, aber, sie ist das Resultat der Besatzung nicht deren Ursache.
    Anstatt einer einseitigen Beschreibung des irrenden Israel und der bösartigen Hamas würde ich eine nüchterne geschichtliche Analyse vorziehen, wie es Professorin Helga Baumgarten in mehreren ihrer Bücher macht. Um die Umstände zu begreifen kann man sich auch den Film zu Gaza 2018 der US-Investigationsjournalistin Abby (Abigail) Martin anschauen.
    Oder man versuche sich in die Gefühlslage eines jungen Bewohners des abgeriegelten Ghettos Gaza zu versetzen – seine Schwester wurde von einem Scharfschützen getötet, Frau und Kinder von einer Bombe zerfetzt und das Elternhaus dem Erdboden gleich gemacht – und sich dann die Frage stellen: an wen sollte er sich wenden?

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