Friedensaktivistin verbrachte neun Tage in Einzelhaft
«Das Schöne war, dass ich im Gefängnis so viele Briefe bekommen habe», erklärt Ria Makein. Am 6. Juni wurde sie aus der Haft entlassen. Einen Tag vor ihrem siebzigsten Geburtstag. Sie hatte im April 2019 im Luftwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel gegen die dort gelagerten NATO-Atombomben demonstriert und wurde wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Da sie die Geldbusse nicht zahlte, musste sie 30 Tage ins Gefängnis. Sie war damals zusammen mit anderen auf den Flugplatz vorgedrungen und hatte Transparente hochgehalten, auf denen unter anderem zu lesen war «Frieden schaffen ohne Waffen».
Das war der Leitsatz der deutschen Friedensbewegung, einer Bewegung, die seit ihrer Gründung Ende des 19. Jahrhunderts mit Namen aufwarten konnte wie Bertha von Suttner, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky oder Martin Niemöller. Die Bewegung erlebte ihren Höhepunkt in den 1980er Jahren mit dem breiten Widerstand gegen die Stationierung von Raketen mit Nuklearsprengköpfen in Deutschland. Die Sitzblockaden und andere gewaltfreie Aktionen wurden später nach jahrelangen Verfahren vom Bundesverfassungsgericht als legal anerkannt. Die von Vorinstanzen Verurteilten wurden entschädigt.
Heute weht ein anderer Zeitgeist. Deutsche Grüne und Sozialdemokraten stehen stramm hinter der NATO. Wer heute den Rüstungsbetrieb stört, wird kaum auf Verständnis der Justiz treffen. Ria Makein und die 16 anderen, die 2019 am Atomwaffenlager demonstrierten, gehören zu einer aussterbenden Art: Pazifisten und Mitglieder der Friedensbewegung. Das sind Ungläubige, sie glauben weder an die Rüstungsindustrie noch an die Doktrin vom «Gleichgewicht des Schreckens». Sie glauben nicht, dass mit mehr Waffen mehr Sicherheit oder mehr Frieden geschaffen werden.
Sie sind heute die Ex-Kommunizierten in einem «christlichen Abendland», welches wieder einmal auf Panzer und Artillerie schwört.
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Den Radio-Podcast hat Klaus Jürgen Schmidt von «Trommeln im Elfenbeinturm» realisiert.
Ria Makein hatte dem Richter gesagt, sie habe keinen Hausfrieden gebrochen, denn ein Gelände, wo der Atomkrieg vorbereitet werde, könne keinen Frieden beherbergen. Und weiter: «Wenn das Gesetz genutzt wird, um die Vorbereitung von Massenmord und Krieg zu schützen, dann ist der Versuch gerechtfertigt, auf dieses Unrecht hinzuweisen und rechtlich dagegen vorzugehen.»
Sie zitierte den US-Präsidenten Dwight. D. Eisenhower: «Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschafter, sie verpulvert auch die Hoffnung ihrer Kinder.»
Wer solche Rede führt, der muss sich heute warm anziehen. Denn heute haben Rufe wie «Sieg über Russland» Konjunktur. Pazifismus ist das Schimpfwort der Stunde. Friedensaktivisten werden als nützliche Idioten des Kremls bezeichnet.
Da wird eine Suppe gekocht, die an alte Rezepte erinnert. «Wehrkraftzersetzung» und «fünfte Kolonne» sind in Deutschland keine Fremdwörter. Und die Köche dieser Suppe kümmern sich kaum um das deutsche Grundgesetz, das Pazifistinnen und Pazifisten ausdrücklich hochachtet, wenn es in Artikel 4 Absatz 3 festhält, jeder habe das Recht, den Dienst mit der Waffe zu verweigern.
US-Atomwaffen in Deutschland
Der Übungsbetrieb mit Atomwaffen und die Drohung mit Atomwaffen verstossen nicht nur gegen den Atomwaffensperrvertrag von 1968 und gegen das deutsche Grundgesetz, sondern sind auch vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) 1996 als völkerrechtswidrig gebrandmarkt worden. Ausserdem ergaben alle Befragungen, dass eine grosse Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht will, dass Deutschland Atomwaffen besitzt. Dass bislang keine deutsche Regierung in der Lage war, diesem Volkswillen Folge zu leisten, liegt an der Verfügungsmacht der USA in Sicherheitsfragen. Der deutsche Staat hat seit 1945 in dieser Hinsicht keine Souveränität.
Ria Makein argumentierte vor Gericht, die Justiz mache sich «zum Büttel des Staates, wenn sie dem militärischen Machbarkeitswahn der NATO jedes Recht gebe» und den sich wehrenden Bürgerinnen kriminelle Energie zuspreche. Sie sagte dem Richter:
«Mein Vater war nach dem letzten Krieg der einzige Überlebende von vier Söhnen meiner Grosseltern. Meine Mutter hatte in den letzten Kriegstagen ihren 17jährigen Bruder auf dem Rückzug im Osten verloren. Ich bekam Gelegenheit, die Realschule zu besuchen und konnte nach Abschluss einer Lehre als Industriekauffrau in Düsseldorf studieren. Dies wurde mir nur durch staatliche Unterstützung möglich. Dafür bin ich meinem Staat äusserst dankbar. In den ersten 18 Jahren meines anschliessenden Berufslebens leitete ich in Köln einen evangelischen Kindergarten. Als ich mit 29 Jahren darauf aufmerksam gemacht wurde, dass wir in Europa auf einem Pulverfass leben und mit dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss eine weitere Lunte gelegt werden sollte, begann ich darüber nachzudenken, für welche Zukunft ich diese Kinder vorbereite.»
Neun Tage lang 23 Stunden täglich in der Zelle
Der Richter hatte kein Einsehen. Die Siebzigjährige war die ersten neun Tage im geschlossenen Vollzug: täglich 23 Stunden in der Zelle, eine Stunde Ausgang auf dem Innenhof. Den Rest verbrachte sie im offenen Vollzug, sie konnte das Zimmer verlassen und in den Garten gehen. Auf die Frage, woher sie in ihrem Alter die Kraft nehme, gegen den Strom zu schwimmen, antwortet sie, es seien die persönlichen Bindungen, von denen sie sich getragen fühle: «Durch die viele Post, die mich in diesen vier Wochen erreichte, wurde mir dieses grossartige Netzwerk bewusst.»
Als Beispiele für dieses Netzwerk nennt sie die Quäker, die Deutsche Friedengesellschaft (DFG/VK) oder die «Lebenslaute», eine Gruppe von Musikerinnen und Musikern, die vor Rüstungsfabriken oder Militärübungsplätzen mit klassischer Musik und Chorgesang zivilen Ungehorsam praktizieren und dort intervenieren, wo der Staat ihrer Meinung nach Unrecht duldet.
Ende April publizierte die Journalistin Alice Schwarzer zusammen mit 27 deutschen Intellektuellen einen offenen Brief an den deutschen Kanzler Scholz. Darin bitten sie die deutsche Regierung, auf Waffenlieferungen und Eskalation mit unvorhersehbarem Ausgang zu verzichten. Stattdessen sollten alle Anstrengungen für einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung unternommen werden.
Der Aufruf entpuppte die gewaltige deutsche Empörungsbereitschaft. Im Wochenblatt «Der Spiegel» schrieb ein «Strategieberater» namens Sascha Lobo am 20. April, ein «substantieller Teil der Friedenbewegung» sei ein «Lumpen-Pazifismus» und der indische Friedensaktivist Mahatma Ghandi sei eine «sagenhafte Knalltüte» gewesen und bis heute «ein Vorbild für viele Pazifisten».
Der Musiker und Publizist Wolfgang Müller brachte im selben Wochenmagazin seine Verachtung für zivilen und unbewaffneten Widerstand auf die Formel:
«Man darf sagen, dass man lieber feige und lebendig als mutig und tot wäre […] Man soll es aber nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen.»
Angesichts der Entschlossenheit derer, die auf mehr Panzer und Artillerie zur Konfliktlösung setzen, vernimmt man im Deutschland der Talk Shows und der grossen Medien nur noch wenige pazifistische Stimmen.
Die evangelisch-lutherische Theologin Margot Kässmann sagte am 12. Mai in der ARD-Sendung Monitor: «Das Ende des Pazifismus wurde schon oft beschrieben angesichts all der Kriege, die in dieser Welt stattfinden, und angesichts derer immer wieder gesagt wird, jetzt müsse die Waffe in die Hand genommen werden. Und ich bin dankbar, dass es noch Menschen gibt, die das durchhalten und sagen: Trotz all dieser entsetzlichen Gräuel bleibe ich dabei, dass ich Waffen nicht als Lösung sehe.»
Ria Makein ist eine von diesen Menschen. Sie sagt: «Ich würde es jederzeit wieder machen. Ich bin siebzig, fühle mich aber wie fünfzig.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke Herr Scheben für Ihre Beiträge und ganz besonders für diesen. Ja es ist unglaublich und traurig, ich hätte nicht gedacht, dass ich in Deutschland so etwas noch einmal erleben müsste, dass Pazifismus und die Verweigerung des Kriegs’dienstes› als ‹toxisch›, ‹feige›, ’schäbig› oder ähnlich beschimpft wird und das Heil in immer grausameren Waffengängen gesucht wird.
Tatsächlich feige sind doch diejenigen, welche sich bis an die Zähne bewaffnen – und dann sogar noch andere für ihre Interessen sterben lassen!
Solches Vorgehen passt zu der immer mehr verbreiteten Taktik von Regierung und Konzernen, explizit auch in Deutschland, alle Menschen und Organisationen, welche sich für eine ‹bessere› oder friedlichere Welt einzusetzen versuchen, als ‹Kriminelle› oder ‹Asoziale› zu stigmatisieren oder mit schier unbezahlbaren Zivilprozessen zum Schweigen zu bringen.
Ist das die Demokratie, die angeblich unter Vernichtung so vieler Leben weltweit verteidigt wird?
Hier feiert die uralte Soldatenmoral wieder Urständ (die den meisten unbekannte dunkle Seite schon des Sokrates). Sie hat in ihrer geistigen Verblendung immer wieder zu den blutigsten Kriegen geführt, sichtbar in schrecklichster Konsequenz vor Augen geführt in den beiden Weltkriegen – und nie darf die Konsequenz daraus «nie wieder Krieg» gezogen werden. Von Peter Maiwald (1946 – 2008) wird sie trefflich auf eine kurze Formel gebracht:
Feindbild
Als Soldat
haben Sie dem Tod
mutig ins Auge zu blicken,
ermahnte der General
B. starrte ihn an.
Zitiert nach «Die Struktur der modernen Literatur» von Mario Andreotti (6. Auflage, S. 297).
Die grösste Geissel der Menschheit ist die Ungewissheit, die Unsicherheit über das, was morgen geschehen könnte. Unsicherheit führt immer wieder zur Angst; dauert sie an, kann sie krank machen. Das ist der Tribut, den wir der Evolution dafür entrichten, dass sie uns mit dem Denkvermögen ausgestattet hat, der Zusammenarbeit dem Konflikt den Vorrang zu geben. Dass dieses Denken nicht immer funktioniert beweist jeder Krieg, denn ob man ihn herausfordert oder ausführt, er kann die Ungewissheit und damit die Unsicherheit nur erhöhen. Das gilt ebenfalls für die Rüstungsindustrie und für jene Politiker wie ihre Unterstützer, die vor dieser Industrie kuschen. Die Schlussfolgerung über den mentalen Zustand der Betroffenen kann sich jeder selbst ausdenken. Ein Hoch auf Ria Makein und all ihre Mitstreiter*innen!
Ein Vertreter von Justitia et Pax Schweiz sprach sich kürzlich in Zürich auch für Waffenlieferungen an die Ukraine aus, wie die katholische Bischofkonferenz Deutschlands, wie die Grünen und die Sozialdemokraten der Bundesrepublik. – Mit Waffen Frieden schaffen lautet die Parole. – Die Kirchen mit ihren vielen Feldgeistlichen standen meist auf der Seite der deutschen Bundeswehr die sich an Kriegen beteiligte. Als Deutschland mithalf Serbien zu bombardieren und als nach dem 11. September 2001 die Bundeswehr die Freiheit Deutschlands auch in Afghanistan verteidigte, waren die Feldprediger auch dabei und gaben den Soldaten ihren Segen, wie heute der Klerus Russlands den russischen Militärs bei der «Operation» in der Ukraine.
Der Theologe und Historiker Karl Heinz Deschner hat seinerzeit in seinem Buch «Abermals krähte der Hahn, Eine kritische Kirchengeschichte» die unheilvolle Rolle der christlichen Kirchen in all den Kriegen ausführlich dokumentiert.
Ich habe den Spiegel -Artikel von Sascha Lobo im Netz kurz überflogen: er ist ein Dornengestrüpp von Hass und Unterstellungen. Mehr Worte dazu wären reine Verschwendung.
Besten Dank für diese Stellungnahme.
Wie schnell die Zeit vergangen ist. Warum habe ich immer das Gefühl, dass niemand aus der Geschichte lernen will ?
Ich gehe davon aus, dass kohärente grün/linke Politik darauf insistieren wird, auch beim Kriegsgerät thermische Motoren verbieten zu wollen.
Stellen Sie sich vor, einen F-35 mit Elektromotor im Einsatz zu sehen. Von den Tanks und Piranhas ganz abgesehen. Träumen ist schön… vielleicht ist es das Alter.
Stimme ich Ihnen als 87-Jähriger voll zu, Herr Hunkeler. Aus der Geschichte lernen kann aber nur der oder diejenige, die das ‚System Psyche‘ verstanden haben, weil sie es in der Schule gelernt haben. Diesen Unterricht gibt es bis heute nicht, weil Biologie und Psychologie nicht in Zusammenhang gebracht werden. Täten wir das, dann wüssten wir, dass uns die Evolution mit zwei Überlebensinstinkten ausgerüstet hat: Mit dem individuellen Kampf-oder-Flucht-Instinkt zum Selbstschutz, und zum Schutz der Spezies mit dem empathischen, gemeinschaftlichen Instinkt zur Vermehrung und sozialem Zusammenhalt. Da ersterer durch Angst ausgelöst wird, wird sie als Machtmittel benutzt von jenen, die selbst Angst haben und Geiseln ihres eigenen Kampf-oder-Flucht-Instinkts sind. Die existentielle Angst kann jedoch nur durch Zusammenarbeit überwunden werden. Das ist leider noch ein langer Weg, denn er widerspricht unserer Konkurrenzkultur.
Vielen Dank für diesen Artikel!
Solche Stimmen vermisse ich schmerzlich in den offiziellen Medien.
Alle lassen sich vom Kriegsgeschrei anstecken. Am meisten enttäuschen mich die Grünen.
Ziemlich krass, wie schnell die Interpretation von Meinungsfreiheit ändert, wie vormals Friedensaktivisten mit der richtigen Manipulation zu den Waffen greifen, wenn es scheinbar um den leibhaftigen Teufel geht.