Kommentar
Faktotum Gregor Gysi wird Alterspräsident
Das Wort Faktotum leitet sich aus dem Lateinischen ab. Fac totum heisst: «Tu alles!» Ein Faktotum ist ein Mensch, der alle nur möglichen und unmöglichen Aufgaben auf liebenswürdige oder auch sonderbare Weise erledigt. Gregor Gysi ist das wohl brillanteste Faktotum der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er hat in der DDR erst den Beruf des Rinderzüchters erlernt, ist dann Jurist geworden und hat als einer der führenden Rechtsanwälte der DDR praktiziert.
Als Gregor Gysi 20 Jahre alt war, trat er der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands bei, der Staatspartei der DDR. Im Dezember 1989 wurde er deren Vorsitzender, hat die SED zur PDS transformiert und dann mit Oskar Lafontaines SPD-Abspaltung WASG zur Linkspartei fusioniert, war Chef erst der PDS-Fraktion, dann der Linksfraktion im Bundestag, ein paar Jahre lang Oppositionschef im Bundestag, ein paar Jahre auch Präsident der Europäischen Linken. Jetzt ist er 77 Jahre alt und eröffnet morgen als Alterspräsident die 21. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags.
Eine nahrhafte Auftaktrede
Er ist nämlich der Abgeordnete mit der längsten Parlamentserfahrung im Bundestag; das macht ihn zum Alterspräsidenten. Zum Unikum macht ihn seine intensive und lebhafte Talkshowpräsenz. Er schreibt gut lesbare Bücher, er moderiert Gesprächsreihen und er tut das mit so herzlicher Eloquenz, dass es ein grosser Spass ist, bei ihm zu Gast zu sein. Die Spannbreite seines schriftstellerischen Schaffens sei angezeigt mit einem «Handbuch für Rechtsanwälte», das er 1990 im Staatsverlag der DDR herausgegeben hat, und einer Publikation, die «Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi» heisst und 2023 erschienen ist.
Von so einem Mann ist eine sehr nahrhafte Auftaktrede im Bundestag zu erwarten – eine Rede, in der sich sowohl die besonderen rhetorischen Fähigkeiten als auch seine besondere politische Lebenserfahrung zeigen. Es könnte eine Rede zur Lage der Nation 35 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung werden. Es könnte auch eine Rede zur irren und wirren Weltlage werden.
«Der Grat ist schmal»
Bei der Eröffnung des 4. Deutschen Bundestags am 17. Oktober 1961 hat der damalige Alterspräsident, es war der Bankier und Adenauer-Vertraute Robert Pferdmenges, unter dem Schock des Mauerbaus gesagt: «Die ganze Menschheit bangt um ihre nahe Zukunft … Der Grat, auf dem wir zwischen Krieg und Zukunft wandeln, ist schmal.» Das sind Sätze, wie sie Gysi morgen in seiner Alterspräsidenten-Rede auch sagen könnte. Alterspräsident Pferdmenges setzte seine Rede 1961 dann wie folgt fort: «Die Bundesrepublik ist zu schwach, um sich aus eigenen Kräften zu verteidigen. Wir stehen und fallen letzten Endes mit der Macht der Vereinigten Staaten.»
Das ist 64 Jahre her. Wie verhält sich das heute, in Trump- und Putin-Zeiten? Bei dieser Analyse hilft weder das «Handbuch für Rechtsanwälte» noch die «Currywurst mit Gregor Gysi». Vielleicht findet der Alterspräsident von 2025 zu einer so ehrlichen und radikalen Antwort, wie sie der Schriftsteller und PDS-Abgeordnete Stefan Heym als Alterspräsident des Jahres 1994 zur Migration gefunden hat: «Nicht die Flüchtlinge, die zu uns drängen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ja ,Gregor Gysi weiß seine Worte zu setzen; zudem bringen sie vieles, was die üblichen ParlamentarierInnen in einen wüsten Schwall von Schlagworten packen, garniert mit zigmal «liebe Kolleginnen und….» oder «…JA, ich sage Hier ganz KLAR» usw. sehr sprachökonomische auf den Punkt. Seine multiplen Tätigkeitspositionen verraten auch eine hohe Flexibilität des Denkens, verbunden mit einem scharfen Blick für reale politische Möglichkeiten. Das verrät den geschulten
Politfunktionär, geschult im rauhen Klima sozialistischer Linientreue – das übrigens ein Merkmal, welches bei der Ex-Bundeskanzlerin ebenso vorhanden war,allerdings nicht so direkt sichtbar. Solche Fähigkeiten hatten auch andere, wie Ernst Reuter und Herbert Wehner. Politik erfordert nicht nur die Idee, sondern auch taktisches Talent – DAS hat Sarah Wagenknecht leidvoll erfahren müssen.
Ich bin auch gespannt! Wie mutig wird er wohl sein, Tacheles zu reden? Zumuten kann ich Herr Gysi als vernünftigen, auf Wahrheit und Gerechtigkeit bedachten Menschen viel. Er müsste also die irrsinnige Schuldenmacherei und militärische Aufrüstung eindeutig an den Pranger stellen! Dass er sogar soweit gehen wird, mit der Russophobie aufzuräumen, traue ich ihm jedoch nicht zu.
Hoffentlich wird er als Bundestags-Alterspräsident seinen Kollegen ordentlich die Leviten verlesen. Er hat sowohl die sprachliche Qualität als auch die Autorität dazu. Vielleicht wird er sie daran erinnern, dass sie zuerst dem Souverän und nicht der Partei, Lobbyisten oder Thinktanks zu dienen haben. Und dass sie aufhören sollen, unseren größten Schatz, den wir haben, nämlich das Grundgesetz, bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen.
Hoffentlich wird er seine Kollegen auch daran erinnern, dass sie Schaden vom deutschen Volk abzuwenden haben und wir allen gegenüber ein guter Nachbar sein wollen. Dazu gehört auch, dass man mit jedem spricht und Lösungen findet. Drohgebärden und Kriegstüchtigkeit schaffen keinen Frieden. Den will aber das Volk.
H.Prantl hat die Eroffnungssitzung des 21. Deutschen Bundestages kommentiert – und damit auch die Rede des Alterspräsidenten Gregaor Gysi. Wie die Rede auf das Parlament gewirkt hat konnte man an dem auffälligen Verhalten der Parlamentarier ablesen : ein schon unhöfliches Beschäftigen mit anderen Dingen. Prantl: «Gysi hat seine eigene Rede zerredet». Ja,leider, redetechnisch sicher kein Glanzstück. Aber man sollte neben der Technik (abgelesen vom Blatt und auch das holprig) auch den Inhalt beurteilen. Das «round around the world» war ganz sicher überzogen, aber es enthielt durchaus diskussionswürdige Punkte : Schaffung überparteilicher Arbeitsgruppen. Allerdings : hat Gysi da nicht dem Parlament so etwas wie eine vorgezogene Ohrfeige erteilt ? Man wird sich wohl auf dieses Facit einigen können : «in der Kürze liegt die Würze». Gysi sollte sich mal in «1000-Zeichen-Zwängen» üben. So wie ich.