Wenn Stadtpräsidenten zu Rebellen werden
Mehr als die Hälfte der 7,5 Milliarden Menschen lebt in urbanen Regionen. Nicht zuletzt deshalb spielen Städte bei der Bekämpfung der Klimakrise eine entscheidende Rolle. Viele Städte gehen denn auch voran und setzen im Rahmen ihrer Möglichkeiten klare Akzente in der Verkehrs-, Energie- und allgemein in der Umweltpolitik – dies nicht selten in Opposition zur nationalen Regierung. Das Musterbeispiel sind die USA: Donald Trump hebt gleich reihenweise Umweltgesetze seines Vorgängers Barack Obama auf. Gemäss New York Times hat Trump bisher 85 Bestimmungen gestrichen. Doch verschiedene Bundesstaaten und Städte wie San Francisco oder New York wehren sich. Bereits 2018 hat sich etwa der New Yorker Stadtpräsident Bill de Blasio den mächtigsten Industriezweig des Landes vorgeknöpft und diverse Ölkonzerne als «die zentralen Akteure und ersten Verantwortlichen für die Krise» angeklagt. Zudem kündigte er an, alle Anlagen der städtischen Pensionskasse in Unternehmen der Öl-, Gas- und Kohleindustrie abzustossen.
Stadtpräsidenten sollten die Welt regieren
Städte ticken häufig anders als der Rest des Landes und die Zentralregierung – nicht nur in den USA. Auch in der Schweiz und vielen anderen Ländern sind es die Städte als meist auch wirtschaftlich starke Räume, die neue, ungewohnte Wege gehen. Sie sind häufig weltoffener als der Rest des Landes und stehen nicht selten links der Mitte. Der 2017 verstorbene amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber, einer der einflussreichsten Vertreter seines Fachs in den USA, hat dies schon früh erkannt und in einem seiner letzten Bücher auch provokativ thematisiert: Es wäre besser für alle, wenn Stadtpräsidenten die Welt regierten, lautet seine These im 2013 erschienenen Buch «If Mayors Ruled the World: Dysfunctional States, Rising Cities» («Wenn Stadtpräsidenten die Welt regierten: Dysfunktionale Staaten, aufstrebende Städte»).
Benjamin Barbers Diagnose einer schweren Krise der nationalstaatlich verfassten Demokratien mündet in die Forderung einer globalen Zivilgesellschaft auf grossstädtischer Grundlage. Eine der Hauptthesen des Buches lautet, sehr kurz zusammengefasst: Stadtoberhäupter handeln pragmatischer und näher an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger als die oftmals viel stärker in Sachzwängen und ideologischen Grundsätzen gefangenen Politikerinnen und Politiker auf nationaler Ebene. Barber schwebt eine Weltordnung vor, die er als «demokratischen Glokalismus» bezeichnet, eine Globalisierung und eine Weltdemokratie also, die sich stark auf eine lebendige, partizipatorische Demokratie in lokalen, städtischen Kulturen stützt. Nicht von ungefähr hat er sich auch mit den Vorzügen direkter Demokratie in Schweizer Kantonen gegenüber repräsentativen Demokratien beschäftigt.
Weltoffenheit und Klimaschutz
Ganz im Sinne Barbers dürfte der im Dezember 2019 gegründete Bund der vier Hauptstädte in Ostmitteleuropa sein. Die Stadtpräsidenten von Budapest, Prag, Warschau und Bratislava bezeichnen ihn als «Pakt der freien Städte». Sie haben unter anderem Weltoffenheit und Klimaschutz auf ihre Fahnen geschrieben; genannt werden Werte wie Freiheit, Menschenwürde, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Toleranz und kulturelle Vielfalt. Damit grenzen sie sich deutlich von ihren jeweiligen nationalen Regierungen ab und signalisieren Widerstand gegen Rechtspopulismus und Nationalismus. Stattdessen propagieren sie «eine sich von unten aufbauende Demokratie». Sie vertreten eine klar pro-europäische Politik und bezeichnen in einer Erklärung den Pakt als «progressives Netzwerk von dynamischen Städten und mündigen Bürgern, die Pragmatismus und Inklusivität fördern». Es geht den vier Stadtvätern aber nicht allein um vollmundige Bekenntnisse zu demokratischen Werten; sie wollen auch konkrete Projekte in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Wohnungspreise und Altersfragen anstossen.
Jung und unkonventionell
Bei den vier Stadtpräsidenten handelt es sich samt und sonders um relativ junge Politiker, die noch nicht lange im Amt sind. Erst im Oktober 2019 gewann Gergely Karacsony (44), ein Grüner, die Wahlen in Budapest. Im slowakischen Bratislava ist der linksliberale Matus Vallo (42) am Ruder und in Warschau der Liberale Rafal Trzaskowski (47). In Prag steht mit Zdenek Hrib (38) als einzigem Stadtpräsidenten einer grossen europäischen Stadt ein Mitglied der Piratenpartei an der Spitze. Die vier gehören damit unterschiedlichen Parteien an, was sie eint, ist allerdings ihre Opposition zu den in ihren Ländern starken populistischen Kräften und ihr Kampf gegen die Korruption.
Die Hauptstädte Ungarns, der Slowakei, Polens und Tschechiens «sind sehr dynamisch, ihre Wirtschaft wächst sehr rasch. Sie gehören teilweise zu den reichsten Regionen Europas», sagte der Historiker Ulf Brunnbauer, Professor für Geschichte Südost- und Osteuropas in Regensburg, Ende Dezember 2019 in einem Interview mit Radio SRF. «Die Hauptstadtregion Bratislava ist heute reicher als jene Wiens, während das Wohlstandsniveau in der Slowakei 300 Kilometer weiter östlich auf die Hälfte des EU-Durchschnitts sinkt. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Menschen in diesen völlig unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Situationen auch andere Werthaltungen und Interessen haben.»
Baustopp für Orbans Mega-Projekte
Besonders heftig aneinander geraten dürften der Budapester Stadtpräsident Gergely Karacsony und der ungarische Ministerpräsident Victor Orban. «Die Sache wird eskalieren und sie wird schmutzig», prophezeit die deutschsprachige ungarische Zeitung Pester Lloyd. Karacsony hat beispielsweise die gegen sozial schwache Familien gerichteten Zwangsräumungen ausgesetzt. Und er hat einen Baustopp für geplante Mega-Projekte der Orban-Regierung verhängt: Die Stadtverwaltung werde alle Baumassnahmen «auf einen städteplanerischen und ökologischen Prüfstand stellen». Zwar laufen die Ausschreibungen für die teils fetten Aufträge über die Zentralregierung, «die Stadt Budapest muss aber die Baugenehmigungen erteilen und wird das nicht tun, wenn man Rechtsverstösse entdeckt».
Budapests neuer Stadtpräsident hat Orban jüngst eine Liste zukommen lassen, unter welchen Umständen er dem Bau eines gigantischen Stadions für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2023 zustimmen wird: Er will massive Investitionen in den Nahverkehr, eine bessere Gesundheitsversorgung, insbesondere eine Erneuerung der Spitäler, «sowie – und das ist unerhört – ‘transparente Ausschreibungen und Verträge’ sowie ‘unabhängige Kontrolle’ bei der Errichtung des Stadions. Kurz: Er fordert Demokratie und Rechtsstaat», schreibt der Pester Lloyd.
Historischer Bezug zu den Hansestädten
Für den Historiker Ulf Brunnbauer stecken zwei wichtige Entwicklungen hinter der Initiative der vier Stadtpräsidenten: «Einerseits wird die Kluft zwischen den politischen Einstellungen der Menschen in den Hauptstadtregionen und jener ihrer Landesregierungen immer grösser. Andererseits ist es ein globales Phänomen, dass politische Innovationen zunehmend aus Grossstadtregionen kommen».
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Vernetzung der Städte sind keine neuen Phänomene. Darauf macht auch Benjamin Barber in seinem oben zitierten Buch aufmerksam und nennt als Beispiel die Hansestädte. Für Barber ist auch klar, dass es die Freiheitsliebe dieser Handelsstädte war, die diese Jahrhunderte nach der Blüte der Hanse zu antifaschistischen Bollwerken werden liess. Auch Ivo Mijnssen weist in der NZZ darauf hin, dass «Freie Städte» ein «Titel mit stolzer Geschichte» sei: «Viele Handelsstädte der frühen Neuzeit trugen ihn, später Danzig. Er steht für eine überregionale Bedeutung, symbolisch, wirtschaftlich und politisch». Dass die Stadtpräsidenten von Budapest, Warschau, Prag und Bratislava bei ihrer Unterzeichnung des «Pakts der freien Städte» diesen historischen Bezug im Hinterkopf hatten, ist offensichtlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ich finde diesen vielfältigen Zusammenschluss zu «freien Städten» wunderbar, weil er für einen Anfang weg von Zentralismus und Globalisierung und hin zu einer dezentraleren, erdverträglicheren und lokaleren Wirtschaft steht und die Zivilgesellschaft ins Zentrum rückt.
Die Hanse-Städte hatten aber auch über Jahrhunderte ein stabiles, sogenannt fliessendes Geld, welche unserem Fiat-Geld weit überlegen war.
Städte sind auch bei der Zustimmung für den Atomwaffenverbots-Vertrag (TPNW) als Stimme des Volkes sehr wichtig: Dafür sprachen sich bisher Zürich, Basel, Genf, Bern, Luzern und St.Gallen aus:
https://www.icanswitzerland.ch/de/
Stadtpräsidenten erscheinen weniger einflussreich als Nationalräte und sind somit für Lobbyisten und deren Geschenke weniger interessant.
Daher können Stadtpräsidenten grundsätzlich freier entscheiden und handeln.
Um das Bild korrekt abzurunden…
Budapests neuer Oberbürgermeister, Karácsony Gergely begann seine Amtstätigkeiten mit sofortiger Gehaltserhöhung (Verdoppelung) für die neuen, selbstredend aus der eigenen Reihen stammenden «Beamten». Alle Positionen wurden geräumt! Er versuchte sämtliche Entwicklungs-Bauprojekte seines Vorgängers zu stoppen. Die Erzählung, wie er zu diesem Amt gelangen konnte, würde meinen Rahmen sprengen. Es handelt sich um eine zwielichtige, charakterschwache Person, die als Bürgermeister der XIV. Stadtbezirk (Zugló) die Kassen leer zu Erbe überlassen hat, ohne bemerkbare Leistungen erbracht zu haben. Er wurde als Marionette von allen oppositionellen Parteien (DK, Momentum, Párbeszéd, MSZP) in Position gehoben, um aus der Hauptstadt heraus die aktuelle Regierung zu stürzen. Ja, die ungarische Opposition kann nur in Ungarn existieren! Vernünftige politische Programme sind Fehlanzeige, stattdessen sitzungsstörende, laute und vor allem brutale, beleidigende Zwischenrufe im Parlament. Sowas wäre in deutschem Raum keinesfalls denkbar. Die komplette Opposition in Ungarn wird von ausländischen NGO´s tatkräftig unterstützt. Die Führung der Partei «Momentum» stammt fast ausschließlich aus dem Ausland. (Canada, USA..)
Dass Informationen wie diese die wertvollen westlichen Qualitätsmedien nicht zu schmücken erlaubt sind, wundert mich nicht. Der zuerst national denkende ungarische Ministerpräsident heißt nicht gerade willkommen im Club der Neoliberalen.