Türkische Truppen mischen mit in Syrien
Die Operation «Schutzschild Euphrat» wurde am 24. August Punkt 4:00 Uhr morgens eingeleitet. Nach offiziellen Angaben nahm die türkische Artillerie den nordsyrischen Grenzort Dscharablus zunächst fast zwei Stunden lang unter heftigen Granatbeschuss, dann bombardierten türkische Kampfjets IS-Stellungen auch im Zentrum dieses Städtchens. Zuletzt marschierten rund 1.000 Milizen der von der Türkei unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA) aus der Türkei ins Territorium des Nachbarlands. Mit ihnen rollten auch ein paar Dutzend türkischer Panzer. Der Grenzort Dscharablus, der nach der IS-Hauptstadt «Rakka» als die zweitwichtigste Bastion der Terrororganisation in Syrien galt, fiel innert wenigen Stunden, offensichtlich ohne wesentlichen Widerstand seitens der IS.
Sechs Minuten vor Beginn der Operation liess Ibrahim Kalin, Chefberater des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Öffentlichkeit über Motive und Ziele der Dscharablus-Operation informieren. Hauptziel des türkischen Einmarsches sei die «Säuberung des türkisch-syrischen Grenzgebiets von Terrororganisationen, wie der IS und der syrischen Kurdenmiliz YPG», twitterte er. Der türkische Innenminister Fikri Isik konkretisierte: Das Gebiet solle vom IS gesäubert werden, «das ist ein absolutes Muss, aber für uns nicht genug». Gleichzeitig mit der Vertreibung des IS müsste jedem Vormarsch der syrischen Kurden Einhalt geboten werden – schlimmstenfalls auch gegen den Willen der USA. «Ich weiss immer noch nicht, welche der beiden aus Sicht Ankaras schlussendlich die grösste Gefahr darstellt», fragte sich der politische Analytiker Semih Idiz. «Der IS oder die kurdische YPG?»
Alte Ängste, irrelevante Grenzen
Alte Ängste scheinen die Türkei wieder ganz fest im Griff zu haben, seitdem der IS seine Machtansprüche im Nahen Osten geltend machte. Im Jahr 2013 marschierten die maskierten IS-Truppen in Irak und in Syrien ungebremst voran, eroberten Städte sowie Dörfer und erklärten die bestehenden Grenzen als irrelevant. Noch schienen sie unbesiegbar zu sein und brachten nicht nur dem Nahen Osten das Fürchten bei. Ankara sah dem grausamen Geschehen an seiner südlichen Grenze aber tatenlos zu. Denn die Angst vor einer Erstarkung der Kurden überwog seine Sicherheitsbedenken.
Im August 2014 fiel das Gebiet um das Sindschar-Gebirge im irakischen Nordwesten, das traditionell die Heimat von rund 250.000 Angehörigen der religiösen Minderheit der «Jezidi» war. Jezidi werden in der Regel von orthodoxen Sunniten als angebliche «Teufelsanbeter» verfolgt. Als die Dschihadisten Sindschar einnahmen, haben sie Hunderte Männer ermordet und Tausende von Frauen verschleppt, versklavt und vergewaltigt. Mehrere Zehntausend Jeziden konnten in Panik in das unwegsame Sindschar-Gebirge fliehen, wo viele von ihnen an Hunger, Durst und Hitze starben.
Das brutale Vorgehen des IS gegen die assyrischen Christen sowie die Jezidi erschütterte die Weltöffentlichkeit und veranlasste die USA dazu, nach langem Zögern mit gezielten Bombardierungen gegen den IS zu beginnen. Weil kein einziges Land Bodentruppen ins Gebiet verlegen wollte, waren die USA in ihrem Kampf gegen den IS in Irak und Syrien auf die Kämpfer der Kurden angewiesen.
Alsbald zeigten lokale Fernsehsender erstmals Bilder einer Bewegung, die für die Region schon rein äusserlich aus dem Rahmen fiel: schwerbewaffnete weibliche Peshmergas, die über Tod und Kampf redeten sowie ganze Regimente befehligten. Die Peshmergas, wörtlich «die den Tod in die Augen schauen», bescherten beim Städtchen Kobane, welches direkt an der türkisch-syrischen Grenze liegt, dem IS die erste schwere Niederlage und befreiten auch Schindschar sowie Dutzende andere Ortschaften in Syrien und im Irak. Nun galten sich als die «effektivste» Kraft gegen den IS und wurden, allen Protesten der Türkei zum Trotz, von den USA sowie teils von Westeuropa ausgebildet und ausgerüstet. In der Türkei wuchs die Angst vor einer bevorstehenden «Neuordnung» im Nahen Osten. Parallel wuchs in Ankara die Überzeugung, wonach die traditionellen Alliierten die türkischen Sicherheitsbedenken in Bezug auf die Kurden weder berücksichtigten noch respektierten.
Linien im Sand
Die Kurden, ein schätzungsweise 30- bis 35-Millionen-Volk, leben heute in vier unterschiedlichen Staaten (Türkei, Iran, Irak und Syrien) verteilt. Das ist eine Folge der Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg. Die Kolonialmächte Frankreich und England waren damals vor allem um ihre Einflusssphären auf den Territorien des gerade in Brüche gegangenen Osmanischen Reichs bemüht. Im Mai 1916 zogen der britische Diplomat Mark Sykes und sein französischer Amtskollege Francois George-Picot auf dem Papier eine Linie, die auch heute die bestehenden Grenzen markiert. Die neue Grenzziehung hat es versäumt, zwei grosse einheimischen Völker zu berücksichtigen: die Kurden und die Juden. Aus diesem Grund kennt man sie in der Region auch als Linien im Sand.
«Das Sykes-Picot-Abkommen ist nicht mehr relevant», erklärte Anfang dieses Jahres der nordirakische Kurdenführer Masud Barzani. Das monatelange Kämpfen der Peschmergas gegen den IS und die aussenpolitische Anerkennung ihrer regionalpolitischen Rolle durch die USA, aber auch durch Russland verlieh den Kurden Zuversicht und nährte die Hoffnung, wonach sie jetzt mehr denn je zuvor in ihrer Geschichte eine reale Chance hätten, einen völkerrechtlich anerkannten, eigenen Staat zu haben. «Das kurdische Volk hat das Recht, über sein Schicksal selber zu bestimmen», sagte Barsani ferner. Dabei machte er keinen Hehl daraus, dass die schätzungsweise sechs Millionen nordirakischen Kurden die Unabhängigkeit anstrebten.
Syriens zwei Millionen Kurden forderten Anfang dieses Jahres, wenn auch keine Unabhängigkeit, doch weitgehende Autonomie. Im Schatten des Syrien-Kriegs hatten sie am 30. Januar 2014 die autonome Selbstverwaltung Rodschawa ausgerufen, die aus drei nordsyrischen Provinzen besteht. Rodschawa mutet modern an: Sie ist säkulär. Man ist bemüht, in der Verwaltung auch Nicht-Kurden und Christen zu integrieren. Da gilt zudem eine erstaunlich progressive Frauenpolitik: Mit einer Frauen-Quote von 40% ist die Frauen-Vertretung in Rodschawa für den Nahen Osten einmalig. Wegen seines säkulären Charakters und seiner Frauen-Politik wurde Rodschawa auch in Westeuropa hofiert. Rodschawa hat allerdings einen Makel: Es ist ein Ein-Parteien-Regime. Der Anspruch der dominanten Partei der Demokratischen Union (PDU) auf Alleinherrschaft darf in Rodschawa nicht hinterfragt werden. Weil die PDU von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), welche in der nationalen Bewegung der Kurden der Türkei führend ist, gegründet wurde, sind aus Sicht Ankaras die PDU mitsamt ihren Peschmergas der YPG genauso wie auch die PKK nichts anderes als Terroristen. «Hey ihr Amerikaner. Mit wem seid ihr? Mit uns oder mit den Kobane-Terroristen», fragte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan letzten Februar provokativ. Der Regierungschef Yildirim bezichtigte die USA inzwischen in aller Öffentlichkeit, im Nahen Osten einen Kurdenstaat als amerikanischen Satellit gründen zu wollen. Um die Macht der von den USA unterstützten Peshmergas einzuschränken, liess Ankara in Syrien Al-Kaida-Dschihadisten logistisch unterstützen.
«Pufferzone» oder Besatzung fremden Territoriums?
Am 6. August haben kurdische Kämpfer mit Unterstützung der US-Luftwaffe den IS aus dem nordsyrischen Städtchen Manbidsch vertrieben, Bilder von bewaffneten kurdischen Kämpferinnen, die in Freudentaumel auf den Strassen Manbidsch-Frauen in langen schwarzem Tschadors umarmen, gingen um die Welt. Nach Manbidsch bereitete die Kurdenmiliz den Angriff in Dscharablus vor und träumte davon, anschliessend weiter westlich vorzustossen und den von Kurden bewohnten Kanton Afrin in Rodschawa anzugliedern. Sie wurde vom türkischen Einmarsch völlig überrascht.
Gleich nach ihrem Einmarsch in Dscharablus machte Ankara bekannt, in Nordsyrien solle eine Pufferzone errichtet werden. Diese soll 98 Kilometer breit und 45 Kilometer tief sein. Diese offiziell «IS-freie» Zone wird zwischen Afrin und Rodschawa liegen und ihre Vereinigung unmöglich machen.
Nichts als Verlierer
Die Operation «Schutzschild Euphrat» der türkischen Armee hat erfolgreich gestartet. Der IS ist aus seiner Bastion Dscharablus vertrieben worden und ist damit, zur grosser Erleichterung aller Welt, der grosse Verlierer dieses Einsatzes.
Zu den Verlierern dürften auch die syrischen Kurden gezählt werden. Nach dem türkischen Einmarsch müssen sie nicht nur ihren Traum von einer Vereinigung mit Afrin begraben. Ihre Peshmergas haben auch das von ihnen befreite Manbidsch zu räumen. Auf Druck Ankaras haben nämlich die USA die Peshmergas zu einem Rückzug aufgefordert. Ansonsten, so schwor der amerikanische Vize-Präsident Joe Biden in Ankara, «können sie, werden sie unter keinen Umständen amerikanische Unterstützung erhalten». Auch Biden sprach diesmal Klartext, Washington hatte sich nie zuvor so deutlich auf die Seite der Türkei gestellt. Angst macht sich nun unter den Kurden breit, ob sie nicht einmal mehr wie Bauern im Pokerspiel um den Nahen Osten geopfert werden.
So sind die USA dabei, das Vertrauen ihrer vorläufig engsten Alliierten in diesem Krieg zu verspielen, ohne allerdings jenes der Türkei zu gewinnen. Nach dem gescheiterten Putsch des 15. Juli hat die anti-amerikanische Stimmung im Land neue Höhepunkte erreicht. Dutzende Verschwörungstheorien werden von offiziellen und offiziösen Kreisen in Umlauf gebracht, wonach Washington gemeinsame Sache mit dem Prediger Fethullah Gülen sowie den Kurden mache, um die Türkei zu schwächen. Ankara hat seither eine radikale Wende in ihrer Syrien-Politik vollzogen. Während seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs die Türkei nachdrücklich den Rücktritt Al-Assad forderte, zeigt sie sich nun bereit, den syrischen Herrscher für eine Übergangslösung zu akzeptieren. Assad sei ein «verbindendes Element», so neulich Regierungsschef Yildirim. Die türkische Führung spricht ferner dem Nachbarland Iran sowie Russland ausdrücklich eine bedeutende Rolle bei jeder Lösung des Syrien-Konflikts zu und will künftig mit Iran die «territoriale Integrität» Syriens garantieren: Die Türkei werde eine Teilung Syriens entlang ethnischer Grenzen nie erlauben, erklärte Yildirim und meinte, die Errichtung eines autonomen, kurdischen Teilgebiets. «Unser Standpunkt ist wohl klar.»
Das Vietnam der Türkei?
«Sind wir gerade unseren Vietnam-Krieg angetreten?», fragte sich nach dem Einmarsch der türkischen Truppen in Syrien der regierungskritische Journalist Yusuf Kanli von der Tageszeitung «Hürriyet». Er schätzte, die Türkei könnte zum grössten Verlierer dieser Operation werden, sollte sie nicht bald den Weg aus Syrien herausfinden. Zwei Tage nach dem Einmarsch detonierte im kurdischen Städtchen Cizre im Südosten der Türkei eine Bombe und legte das Polizeigebäude in Trümmern. Es gab 11 Tote und über 78 Verletzte, was den Regierungschef Yildirim veranlasste, der PKK den «totalen Krieg» zu erklären. In der Türkei leben 12 bis 15 Millionen Kurden. Kann Ankara ihre kurdische Minderheit, die sich in ihrem Staat ausgegrenzt und als Bürger zweiter Klasse fühlt, nur mit Mitteln der Repression über längere Zeit befrieden?
Der Konflikt zwischen der türkischen Armee und den Kurden im Norden Syriens spitzte sich am Samstag gefährlich zu, als die von der Türkei unterstützten syrischen Rebellen südlich von Dscharablus in heftige Gefechte mit der syrischen Kurdenmiliz verwickelt wurden. An den Gefechten sollen auch türkische Panzer beteiligt gewesen sein. Am frühen Sonntagmorgen wurde der Flughafen von Diyarbakir von kurdischen Rebellen der PKK unter Beschuss genommen. Explosionen seien in der ganzen Stadt zu hören gewesen, hiess aus dem Gebiet. Diyarbakir ist die grösste Stadt im Südosten der Türkei und gilt den Kurden als ihre heimliche Hauptstadt. «Syrien ist ein Sumpf und in diesem Sumpf hat die Türkei viel zu verlieren», twitterte gleich nach Beginn der Operation «Schutzschild Euphrat» der Co-Vorsitzende der syrisch-kurdischen Partei PYD, Salih al-Muslim. Für die Türkei hat womöglich ein neuer Albtraum angefangen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Amalia van Gent war von 1988 bis 2009 Türkei-Korrespondentin der NZZ und beschäftigt sich seither intensiv mit dem Kurdenkonflikt. Im Rotpunktverlag ist ihr Buch «Leben auf Bruchlinien – die Türkei auf der Suche nach sich selbst» erschienen.
Amalia van Gent schreibt, im Sykes-Picot Abkommen von 1916 seien zwei grosse Völker des Nahes Ostens nicht berücksichtigt worden: die Kurden und die Juden. Die Juden? Müsste es nicht Palästinenser heissen?
Regula Renschler
Frau Renschler, verwechseln sie eventuell Daten? Israel wurde nicht 1916, sondern 1948 gegründet.
Sykes und Picot hatten gar nicht die Absicht, allen Völkern der Region einen eigenen Staat zu geben. Es ging einfach um die Aufteilung des vorher osmanisch besetzten Gebietes unter die neuen Besetzer England und Frankreich.