«Raus aus der Eskalationsspirale!»
Red. Vor zwei Wochen veröffentlichte eine Gruppe ehemaliger deutscher Generäle, Diplomaten und Friedensforscher einen realpolitischen Appell zur Deeskalation. Er hat, gerade weil die meisten Autoren sich als Transatlantiker verstehen, das Potential, wirklich etwas in Bewegung zu bringen – soweit zumindest die Hoffnung des Konfliktforschers und Publizisten Leo Ensel. Ein Gastbeitrag. (cm)
Endlich!
Und es wurde auch allerhöchste Zeit. Nachdem sich in den letzten Wochen das militärische, politische und mediale Gerangel um die Ukraine brandgefährlich zugespitzt hatte und das verbale Säbelrasseln täglich schriller wurde, meldete sich vor zwei Wochen unerwartet eine Stimme der Vernunft zu Wort. Und sie kommt nicht aus dem Lager der ‹üblichen Verdächtigen›.
Am 5. Dezember veröffentlichte eine illustre Gruppe überwiegend konservativer ehemaliger deutscher Generäle, Botschafter und Friedensforscher – darunter der ehemalige Botschafter bei der NATO und in Russland, Ulrich Brandenburg, der Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, und der ehemalige Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Michael Brzoska – einen Appell mit dem unzweideutigen Titel «Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland». Der in militärischer Kürze gehaltene Text kommt sofort auf den Punkt. Er konstatiert nüchtern, die Welt drohe in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rücke. Nun müsse umgehend alles dafür getan werden, die Eskalationsspirale zu durchbrechen.
Die prominenten Autoren – die meisten von ihnen haben das Pensionsalter längst überschritten – lassen keinen Zweifel daran, dass sie keine ‹Russland- oder gar Putin-Versteher› sind. Im Gegenteil: Sie kritisieren deutlich die (angeblichen oder tatsächlichen) «Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten in Übungen, insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte». (Was sie nicht näher ausführen.) Sie wollen Deutschland nicht aus der NATO führen oder diese gar abschaffen. Sie wollen aber auch nicht zum hundertsten Male lediglich lautstark die westlichen Werte bemühen oder die üblichen Narrative bedienen.
Kurz: Die Ex-Generäle und Diplomaten a.D., die ihre einschlägigen Karrieren überwiegend im Kalten Krieg absolvierten und daher die akute Gefahr sehr genau einschätzen können, schwingen das scharfe Schwert der immanenten Kritik! Ihre Vorschläge zur ‹Feuerwehr›, d.h. zur unmittelbaren Schadensbegrenzung und schrittweisen -verringerung, stehen auf dem festen Boden der Realpolitik.
Was sie für die Kalten Krieger in Politik und Medien umso brisanter macht.
Schritte aus der Eskalationsspirale
Das Papier hebt sich wohltuend von der üblichen Medienhysterie ab, indem es völlig selbstverständlich und ohne dies gross zu betonen auch die russischen Sicherheitsbedürfnisse als gleichberechtigt anerkennt, statt diese, wie bislang üblich, als «Quantité négligeable» reflexartig vom Tisch zu wischen. Ebenso nüchtern lassen die Autoren zwischen den Zeilen durchblicken, dass sie die westliche Sanktionspolitik wie die «einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik» für gescheitert halten. Ein möglicher Ausschluss aus dem SWIFT-System, den Biden kürzlich wortgewaltig als Sanktions-Superwaffe androhte, könnte ihrer Meinung nach gar die Sicherheitslage Europas destabilisieren – und zwar, weil er die russische Wirtschaft gefährden würde.
Man sieht, die Autoren sind – eine heute immer seltenere Eigenschaft – in der Lage, Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich auch mal in die Schuhe ihres jeweiligen Gegenübers zu stellen. Sie denken vernetzt und nicht in simplen Freund-Feind-Polarisierungen. Als Profis wissen sie, dass Gespräche immer und namentlich zu Krisenzeiten eine «Conditio sine qua non» sind, die niemals an Bedingungen geknüpft werden dürfen. Und ihre Vorschläge zum Ausstieg aus der Eskalationsspirale wären tatsächlich geeignet, das Blatt zu wenden – vorausgesetzt, sie würden umgesetzt!
Der Westen, so schreiben sie, dürfe der Eskalation nicht tatenlos zusehen oder diese gar stillschweigend billigen. Er solle vielmehr «aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden.» Im einzelnen schlagen sie vor:
- Einberufung einer hochrangigen Konferenz mit dem Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung von 1994, und zwar ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten.
- Solange diese Konferenz tage, solle auf beiden Seiten auf jede militärische Eskalation verzichtet und beiderseits der Grenze zwischen der Russischen Föderation und ihren westlichen Nachbarn keine weiteren Truppen und Infrastruktur stationiert werden. Zugleich plädieren die Autoren für die vollständige wechselseitige Transparenz bei Militärmanövern.
- Der NATO-Russland-Dialog solle ohne Konditionen auf politischer und militärischer Ebene wiederbelebt werden. Dazu zähle auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle, da mittlerweile sämtliche wesentlichen Verträge für die europäische Sicherheit gekündigt seien. Umso wichtiger seien alle Massnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz und zur Förderung des Vertrauens.
- Schliesslich solle «trotz der derzeitigen Lage» als Anreiz für Russland, zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen zurückzukehren, über weitergehende wirtschaftliche Kooperationsangebote nachgedacht werden. Es sollten Win-Win-Situationen geschaffen werden, um die derzeitige Blockade zu überwinden. – Und nun kommt der entscheidende Satz: «Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten. Mit Rücksicht darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in NATO, EU und CSTO für die Dauer der Konferenz ein Freeze vereinbart werden.» Gemeint sind hier natürlich vor allem Georgien und die Ukraine.
Es geht den Autoren also zusammengefasst darum, die Logik der Eskalation zu durchbrechen, die aktuelle Situation zu entschärfen und einen Freiraum zu schaffen, in dem Kontakte wieder geknüpft und, wenn es positiv laufen sollte, das Vertrauen Schritt für Schritt rekonstruiert werden könnte. Im optimalen Falle könnte am Ende eine neue europäische Sicherheitsstruktur stehen, die das zentrale Prinzip der Charta von Paris wieder aufnähme: «Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.»
Eine breite Diskussion ist nun fällig!
Beim Lesen dieses bemerkenswerten Textes atmet man förmlich auf: Endlich ein realpolitischer Ansatz für eine intelligente Politik statt der ewigen kontraproduktiven ‹Werte-Gebetsmühle›, die jetzt auch die neue deutsche Aussenministerin ebenso forsch wie unreflektiert bedient. Der Appell kommt exakt zum richtigen Zeitpunkt, zu einem Augenblick, wo möglicherweise auch im Verhältnis zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten etwas in Bewegung gekommen sein könnte.
Bislang waren in den vergangenen Jahren die Themen «Frieden und Abrüstung» in Deutschland eher von den Rändern besetzt. Dieser Text aber, und das macht seine Brisanz aus, hat das Potential breitere Bevölkerungskreise zu erreichen – wenn er denn kommuniziert wird.
Das Papier und seine Grundgedanken sollten daher schnellstmöglich als Start für eine breite Lösungsdiskussion in der deutschen, westlichen und russischen Öffentlichkeit, besser noch: als Ausgangspunkt einer längst überfälligen zivilgesellschaftlichen Initiative für militärische Deeskalation genutzt werden. Weitergehende Konzepte und Lösungen – Vorschläge dazu gibt es seit Langem – können später in einer entspannteren Atmosphäre entwickelt und angegangen werden, wenn die akute Gefahr gebannt ist.
Nun sind also nicht zuletzt die Zivilgesellschaften gefragt. Selbst die besten Ideen verbreiten sich bekanntlich nicht von alleine.
(Dieser Artikel ist zuerst auf der deutschen Plattform Telepolis erschienen.)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dr. Leo Ensel ist freischaffender Publizist.
Er publiziert zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. Ensel legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschliesslich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet. (Aus NachDenkSeiten).
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Endlich ein vernunftgetragener Appell von höchster Stelle, vielen Dank, Herr Ensel, dass Sie in klaren und deutlichen Worten darauf aufmerksam machen.
• Viertens:
Es sollte trotz der derzeitigen Lage über weitergehende ökonomische
Kooperationsangebote nachgedacht werden. Der Rückgang der Bedeutung fossiler Energieträger, von deren Export die russische Wirtschaft stark abhängt, birgt die Gefahr wachsender wirtschaftlicher Risiken für Russland, die wiederum politische Instabilitäten bedingen könnten. Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte einen wichtigen Beitrag zu europäischer Stabilität leisten und zudem ein Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen sein.
Lustig wie einseitig diese Abhängigkeit wahrgenommen wird.
https://ec.europa.eu/eurostat/cache/infographs/energy/bloc-2c.html
Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Die Frage stellt sich, wer ist Virginia Woolf?
Wer die Vergangenheit und die Geschichte nicht kennt und nicht kennen will und die Gegenwart verzerrt wahrnimmt, kann die Zukunft nicht erfolgreich gestalten!
Russland ist für den Westen nicht mehr Kontrahent, sondern Mitspieler, vor allem auch gegenüber China!
Das Schlüsselement ist das dritte Element des Ansatzes: «ohne Konditionen». Also: Akzeptanz der Aneignung der Krim, Akzeptanz der Existenz und der russischen Stützung der sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine. Dass die Ukraine als eigenständiges Land in diesem Dialog keine Rolle spielt und nichts zu sagen hat, versteht sich eigentlich von selbst. Mal gucken, wie das ausserhalb Deutschlands so ankommt.
Die Ukraine ist seit der Unabhängigkeit ein Spielball externer Mächte.
Wollen Sie damit sagen, dass die Ukraine nicht fähig ist, einen eigenen, demokratisch legitimierten Willen zu haben?
Was diese hoch dekorierten einstigen Leader an Weisheit versprühen, ist erfrischend ehrlich und nachvollziehbar. Ich mache mir dabei folgendes Bild: Im Auge eines Wirbelsturms herrscht Windstille. Dorthin müssen wir gelangen.
Und was Sie, Herr Wartburg, da feststellen und uns mitteilen, ist ebenso erfrischend und wohltuend: In der Kürze liegt die Würze. Gratuliere!
Die Frage stellt sich, wie man diese realpolitische Sichtweise in die Köpfe der verantwortlichen Politiker bringt. Zur Zeit scheinen da eher immer die selben Mantras wiederholt zu werden. Die Breitenmedien scheinen da schon fast lustvoll mit zu beten. Vielleicht nach dem Motto «just bad news are profitabel news».
Die Ukraine ist eines der Instrumente der USA als einzige Weltmacht über Eurasien zu herrschen! Das sagte vor über 20 Jahren schon Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski: „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“. Im Original: „The Grand Chessboard“. Aber man scheint die Absicht der USA nicht kapiert zu haben.
Ich sehe den Zusammenhang mit dem Beitrag zwar nicht ganz, dennoch möchte ich mich für den Hinweis auf das Buch bedanken. Es lässt sich mit etwas Geduld als PDF vom Internet herunterladen. Brzezinski bezeichnet in dem 1997 publizierten Werk die Ukraine zusammen mit Aserbaidschan, Südkorea, der Türkei und Iran als «critically important geopolitical pivots» (geostrategische Angelpunkte von entscheidender Wichtigkeit), wobei er die beiden letztgenannten Länder schon damals als «geostrategisch aktiv» sah. «Ohne Ukraine hört Russland auf, ein Eurasisches Imperium zu sein», ist im Buch zu lesen, «sollte Moskau wieder Kontrolle über die Ukraine, seine Menschen, seine Ressourcen und den Zugang zum Schwarzen Meer erhalten, gewinnt Russland automatisch wieder das Potenzial, ein mächtiges Grossreich zu werden.» Russland fühlt sich zwar eher bröckelig an. Trotzdem möchte ich persönlich nicht, dass Westeuropa Steigbügelhalter für ein solche Grossreichträume wird.