Mélenchons französischer Frühling
In den Schweizer Medien wird er kaum beachtet, regelrecht totgeschwiegen – oder als «Aussenseiter» bei der Präsidentschaftswahl abgetan. Man kann hierzulande jedenfalls fast nirgends etwas Ernsthaftes über sein hoch interessantes, links-grünes Programm («L’ Avenir en commun», die gemeinsame Zukunft) lesen. Dafür meist abwertend, dass er «empört dröhnt» oder «schimpft» und «belehrt» und jedenfalls ein «Volkstribun» sei. Der «Blick» qualifizierte ihn als «Polteri» ab. Doch in Frankreich ist er jetzt der Mann der Stunde: Jean-Luc Mélenchon.
Mélenchons Höhenflug auf Platz 3
Ende März in der beachteten TV-Sendung «On n’ est pas couché» noch damit gehänselt, dass nur 11% der stimmberechtigten Französinnen und Franzosen ihn wählen möchten, liegt Jean-Luc Mélenchon (JLM) in den neusten Umfragen nun mit 20% schon auf Platz 3 der insgesamt 11 Kandidierenden. Tendenz steigend. Eine Woche vor dem ersten Wahlgang am kommenden Sonntag, 23. April, hat er den in Korruptions-Affären verstrickten Kandidaten der etablierten Rechten («Les Républicains RL»), François Fillon, überholt (19%). Der offizielle Kandidat der noch regierenden Sozialdemokraten Holland’scher Prägung, Benoit Hamon, liegt mit nur noch gut 7% dagegen weit abgeschlagen hinter den Spitzenreitern, zu denen nun auch Mélenchon gehört. Hamons Umfragewerte sinken. Ginge es ihm nur um die Sache der Linken, müsste er sich jetzt zurückziehen – und Mélenchon unterstützen.
Denn: Vor dem 65-jährigen Mélenchon, der schon Senator und Minister in SP-Regierungen war, liegen jetzt nur noch die Rechtsaussen-Politikerin Marine Le Pen vom «Front National» und der frühere Banker, Minister und Präsidentenberater (bei Hollande), Emanuel Macron. Dieser vertritt in etwa jene sozialdemokratisch-liberale und EU-integrierte Wachstums-Politik, mit welcher schon Blair in England und Schröder in Deutschland gescheitert sind. Die Umfragewerte der Spitzenreiter Macron und Le Pen sind in den letzten Tagen von über 25 auf noch je 22% geschrumpft.
«Oligarchie» und «Kaste» sollen abfahren
Damit könnten jetzt drei Kandidierende die Präsidial-Wahl in Frankreich unter sich ausmachen, die keine der seit Jahrzehnten in Paris abwechselnd regierenden links-liberalen (PS) oder rechts-konservativen (LR) Parteien vertreten. Die Chefin der rechts-nationalen Opposition (FN), Marine Le Pen, verspottet dieses Machtkartell schon lange als «LRPS», weil darin ja doch alles einerlei sei. Der schlaue Macron, hat schon vor einem Jahr versucht, sich von dieser Pariser Elite zu distanzieren – und seine Bewegung «En Marche» gegründet – kurz EM, wie seine Initialen.
Am klarsten vertritt jedoch Mélenchon den Volksaufstand gegen den verkrusteten Pariser Machtapparat, der sich auch in neuen, ausserparlamentarischen Bewegungen manifestiert:
«Balayer l’ oligarchie, abolir les privilèges de la caste» und «Abolir la monarchie présidentielle», stehen als Forderungen ganz vorne in seinem Programm: weg mit der Oligarchie und den Privilegien der herrschenden Kaste, Abschaffung der «präsidialen Monarchie». An den Kundgebungen der Mélenchon-Bewegung «La France insoumise» (Eigenständiges Frankreich) skandiert die Masse regelmässig: «Balayer, balayer!» Da läuft jetzt eine Art «französischer Frühling».
Die «präsidiale Monarchie» gibt dem Präsidenten umfassende Macht und Befugnisse. Sie sei 1958 ebenso auf «Le Géneral» (Charles De Gaulle) zugeschnitten worden, wie die ganze 5. Republik, sagt Mélenchon (und bei weitem nicht nur er). Heute sei sie längst überholt. Gleich nach seiner Wahl will er eine konstituierende Versammlung einberufen, die eine neue Verfassung für die «6. Republik» ausarbeiten soll.
Präsidialer und parlamentarischer Unfug
Wie nötig dies und wie veraltet das politische System Frankreichs ist, zeigt sich überall: Die Machtfülle des Präsidenten erlaubt ihm, «seine» Minister und deren Präsidenten kurzerhand auszuwechseln. Er kann die Armee in Kriege schicken. Und wenn das Parlament seinen Vorschlägen nicht zustimmen will, übergeht er es einfach mit einem Dekret – wie kürzlich bei der massiven Einschränkung der Arbeitnehmerrechte. Dass Mélenchon mit dem Begriff «Monarchie présidentielle» nicht unrecht hat, zeigt sich zudem etwa an der Medienkonferenz «du Président» vor der «Presse présidentielle» (ja, das gibt es): Da steht «Le Président» dann erhöht wie ein Pfarrer auf einer Kanzel. Vor und unter ihm sitzen die erlauchten Medienleute, deren «Président» wiederum die erste (abgesprochene) Frage stellen darf. Und rechts vor dem Staatschef sitzen rund 30 Minister, wie eine Schulklasse als aufmerksame, stumme Zuhörer. In seiner Residenz sorgen derweil zwei Personen vollamtlich dafür, dass das Silberbesteck «du Président» stets auf Hochglanz poliert ist. Und auch der scheinbar linke François Hollande hält sich einen eigenen mit Steuergeldern hochbezahlten Hofcoiffeur «du Président».
Ähnlicher Unfug auch im Parlament, der Assamblée Nationale: Da ist es offenbar gang und gäbe, dass Parlamentarier ihre Familienmitglieder als (oft genug nur zum Schein beschäftigtes) «Hilfspersonal» anstellen – und ihnen so Löhne aus der Staatskasse zuschanzen. Kandidat Fillon wurde dabei ertappt («La main dans la confiture»). Vermutliche Betrugssumme: fast eine Million Euro. Sein frecher öffentlicher Kommentar dazu: «Na, und?» Kandidat ist er immer noch – obwohl eine gerichtliche Untersuchung gegen ihn läuft.
Absurd ist zudem das Wahlsystem für das Parlament: Es führt dazu, dass die beiden herrschenden Parteien die knapp 600 Parlamentssitze mehr oder weniger untereinander aufteilen können. Die rechte Opposition des «Front National», der inzwischen etwa 25% Wähleranteil hat, kommt derweil nur auf 2 Abgeordnete (0,3%). Kleinere linke oder rechte Parteien haben erst recht keine Chance. Millionen Franzosen und Französinnen sind so nie im Parlament vertreten – das ohnehin eher eine Pfründenveranstaltung ist, als ernsthaft etwas zu entscheiden. Mehrere der mittlerweile 11 Kandidierenden (Mélenchon allen voran) versprechen darum die rasche Einführung der Proportionalwahlen auch in Frankreich.
Selbstbestimmung statt «EU-Tyrannei»
Mélenchon will sogar Initiative und Referendum in der neuen Verfassung verankern. Dem obligatorischen Referendum sollen in Frankreich künftig insbesondere sämtliche EU-Verträge unterliegen, wobei der Volksentscheid respektiert werden müsse.
Denn nicht nur Frankreich will Mèlenchon «demokratisch, sozial und ökologisch» neu ausrichten. Sondern auch die Brüsseler EU. Er hält fest, EU-Präsident Juncker habe den Rahmen seiner «Tyrannei» ja selber gesetzt mit dem Spruch: «Es gibt keine demokratische Abstimmung gegen die EU-Verträge.» Das gehe gar nicht, sagt Mèlenchon: Um die «Souveränität des französischen Volks wieder herzustellen», werde er sofort nach seiner Wahl all jene Bestimmungen aussetzen, welche «das EU-Recht in sozialen und Umweltfragen über nationales Recht stellen». Wie er auch alle EU-Verträge «missachten» werde, «die unseren Service Public zerstören».
Dazu hat er einen «Plan A», der die umgehende Neuverhandlung dieser Verträge mit Brüssel vorsieht. Sollte das nicht gelingen, dann mache Frankreich gemäss seinem Plan B den «Frexit», wie zuvor schon die Engländer den «Brexit». Aus der Nato will Mélenchon sein Land so oder so sofort herausführen (wie seinerzeit schon General De Gaulle): «Die Nato ist die EU des Krieges unter Vormundschaft der USA», sagt er. «Da machen wir nicht mit, wir wollen eine EU des Friedens, wie sie ursprünglich geplant war.» Kurzum: «Europa, wie wir es geträumt hatten, ist tot», sagt der profilierteste Kandidat in Frankreichs Wahlkampf. Die EU habe «die Völker der Diktatur der Banken und Finanzwirtschaft unterworfen». Wenn diese EU nicht sofort grundlegend reformiert werde, komme es folgerichtig zum «Frexit».
«Solidarischer Protektionismus»
Aussteigen will Mélenchon auch aus der in Frankreich weit verbreiteten Atomenergie, und langfristig zu 100% auf erneuerbare Energie setzen. Das allein, werde Zehntausende neue Arbeitsplätze schaffen. Er warnt vor den üblen Folgen des Freihandels in der EU und weltweit: «Die Globalisierung bedeutet vorab Globalisierung des Geldes nur des Profits der multinationalen Firmen wegen», sagt er. In Frankreich zerstöre das die lokale Wirtschaft und führe zu Massenarbeitslosigkeit – und in ärmeren Ländern treibe es die Menschen in die erzwungene Migration.
Beispiel dafür sind etwa Lastwagenfahrer aus Rumänien: Sie finden daheim kaum Arbeit, werden durch französische Firmen nach rumänischem Recht angestellt, arbeiten aber für ein paar 100 Euro Monatslohn entwurzelt und isoliert in Frankreich. Auch am Wochenende müssen sie in ihren Fahrer-Kabinen auf dem Firmengelände hausen. Sozialleistungen zahlen ihre Patrons in Frankreich nicht. Diese unfaire, in der EU aber kaum sanktionierte Konkurrenz durch ausgebeutete Migranten treibt lokale Transporteure in Frankreich reihenweise in den Ruin. Sie zahlen ihren einheimischen Chauffeuren brutto mitsamt Sozialleistungen anständige 3000 Euro im Monat – und werden durch den «freien» EU-Markt zu Hunderten kaputtgemacht.
Dieses Unwesen werde er sofort stoppen, verspricht Mélenchon – EU-Bestimmungen hin oder her. Gegen die EU-weite «Hungerlohn-Konkurrenz», die «Frankreichs lokales Gewerbe zu zerstören» drohe, will er mit einem «Protectionisme solidaire» (einem solidarischen Protektionismus) ankämpfen. Frankreich sei der zweitgrösste Holzproduzent Europas, stellt er als Illustration dazu fest: «Wir exportieren jedoch seit Jahren schon fast den ganzen Ertrag unserer Wälder als unverarbeitetes Rohholz, wie früher ausgeplünderte Entwicklungsländer. Gleichzeitig importieren wir Billigmöbel aus Polen. Und Tausende gut ausgebildete einheimische Holzhandwerker sind arbeitslos und müssen unterstützt werden.» Diesen «ruinösen Unfug» werde er sofort stoppen, verspricht der Kandidat von «La France insoumise».
100 Milliarden für die Binnenwirtschaft
Mit dieser Analyse wäre doch auch die rechts-nationale Marine Le Pen einverstanden, hielt ihm der Moderator in einer TV-Debatte vor. «Natürlich ist sie einverstanden», gab Mélenchon sofort zurück, noch bevor Le Pen antworten konnte. Und er setzte gleich nach: «Und wohl auch alle anderen – oder ist einer der hier anwesenden Kandidaten nicht einverstanden?» Betretenes Schweigen. «Na, also!»
Dass einzelne seiner Forderungen auch von Le Pen stammen könnten, wird dem links-patriotischen Mélenchon immer wieder vorgehalten. Das stört ihn aber gar nicht. Wie er auch die Vorhaltungen fundiert parieren kann, sein Programm mit staatlichen Investitionen, höheren Minimallöhnen und besseren Renten, das über 100 Milliarden kosten soll, sei «niemals finanzierbar»: Schon nur die sofortige Gleichstellung der Frauen- mit den Männer-Löhnen werde sich bei den Steuern mit Duzenden von Milliarden bemerkbar machen, rechnet er vor. Zudem prellten Konzerne, Banken und Grossverdiener den französischen Staat jedes Jahr mit Steuertricks um 80 bis 90 Milliarden Euro. Das will Mélenchon rasch abstellen: «Cela sera fini, les amis!» Schulden für Investitionen zu machen sei zudem sinnvoll.
Alle gegen Mélenchon
Ökonomen haben inzwischen nachgerechnet, dass auch der mitte-links-liberale Kandidat Macron Frankreichs Schuldenberg massiv erhöhen würde – jedoch nicht für Investitionen, sondern für Steuergeschenke an Firmen und Grossverdiener: Leuten mit einem Einkommen ab 70’000 Euro pro Jahr verspricht er über 10’000 Euro Steuerrabatt. Dennoch (oder gerade deswegen) ist dieser Kandidat der Liebling der meisten Medienleute und des Pariser Polit-Establishments. Auf ihn hoffen sie für den zweiten Wahlgang vom 7. Mai, wenn nur noch die besten zwei aus der ersten Runde vom kommenden Sonntag antreten dürfen.
Noch im März sah es dabei sehr nach einer End-Ausmarchung zwischen Emauel Macron («En Marche») und Marine Le Pen («Front National») aus – wobei Macron mit gut 60% der Stimmen locker gewinnen würde. Die neusten Umfragezahlen zeigen nun aber, dass diese Einschätzung trügen könnte: Fillon und vor allem Mélenchon haben plötzlich durchaus Chancen für die Endrunde in knapp drei Wochen. Am meisten fürchtet die wirtschaftliche und politische Elite Frankreichs von allen möglichen Kombination am 7. Mai diese: Mélenchon gegen Le Pen
Damit nämlich wäre der führende Politklüngel in Paris so oder so abgemeldet. EU und Nato hätten wohl auch das Nachsehen: Frankreich würde sich selbstbestimmt und eigenständig neu positionieren – entweder rechts oder links. In Paris macht sich darob zusehends Nervosität breit. Der Ton im Wahlkampf wird rüder: «Alle gegen Mélenchon!» So lautet die Parole. Selbst der farblos-schwache Noch-Président Hollande, der längst abgewirtschaftet hat, warnt vor der «France insoumise». Experten streiten sich darüber, ob das Mélenchon schade, oder wohl eher nütze.
Dem ist das mehr oder weniger egal: Als eloquentester aller Kandidierenden, pariert er die Verbalattacken locker – und teilt selber wacker aus. Er weiss, dass «das Momentum» seit Tagen schon auf seiner Seite ist – und wohl sicher noch bis nächsten Sonntag. Sein «französischer Frühling» wird sich mit inzwischen über 400’000 eingeschriebenen Mitgliedern und Aktivisten bei «La France insoumise» ohnehin nicht mehr stoppen lassen.
Buch: «L’avenir en commun, Le programme de la France insoumise», 127 Seiten, Editions du Seuil, Euro 3.– oder CHF 5.40
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Danke für den Artikel Herr Ramseyer.
Würde J-L Mélenchon auf wundersame Weise gewählt, würde er mit grosser Wahrscheinlichkeit kurz nach Amtsantritt einem dummen aber voll und ganz selbstverschuldeten Fahrradunfall oder einer nur zur Hälfte verschluckten Fischgräte zum Opfer fallen, sofern der Coiffeur de l’Elysée nicht schon vorher an der richtigen Stelle danebenschnippelt.
So jemand darf nicht ans Ruder, soviel ist klar. Auch Le Pen wird ganz bestimmt nicht präsidenteln dürfen, siehe u.a. ihre Meinung zum Konflik in der Ukraine. Oh-là-là, mon Dieu – bzw. for God’s sake – das darff nischt sain!
Wem nach knapp vier Monaten Trump noch immer nicht klar ist, welche Kreise wirklich Einfluss darauf haben, was wo und wie geschehen darf und was nicht, dem ist beim besten Willen nicht mehr zu helfen. Und nein, es geht nicht um die Illuminaten oder Reptilianer, sondern um ein kaputtes System indem sehr, sehr viel Geld -welches eigentlich keinen wirklichen Wert besitzt- unglaublich viel Schaden anrichtet und darum, dass die Mitglieder der «Pfründenveranstaltung» in Frankreich in grossem Ausmass dieselbe Ideologie vertreten, wie jene die «änet em Teich» in den letzten vier Monaten ganz ungeniert ihre Muskeln zur Schau gestellt haben. Aber corporatocracy ist ja momentan noch ein Begriff für Spinner. Deshalb: Der junge und dynamische Herr Macron wirds werden, dafür werden Dassault, Bouygues und Konsorten schon sorgen. Il se peut que ce sera la dernière fois. Ou pas, mais osons l’espoir!
Macron als enthusiastischer Befūrworter von EU und NATO wird’s richten!
Vielen Dank für diesen spannenden Artikel! Ich kehre soeben von einer 3-wöchigen Frankreich-Reise zurück, wo ich zufällig auf ein kleines, schmales Büchlein von Jean-Luc Mélenchon stiess: «L’ère du peuple», Edition Pluriel, février 2016. Ich las es mit wachsender Begeisterung und plante in der Tat, nach meiner Rückkehr Infosperber darauf aufmerksam zu machen. In diesem 117 Seiten zählenden Büchlein argumentiert Mélenchon fast ausschliesslich als engagierter Ökologe, nennt bemerkenswerte (m.E. fundierte) Zahlen und zeigt – je nach politischem Standpunkt – mögliche Wege für eine ökologisch vertretbare Politik mit höchstmöglicher Schonung unserer Ressourcen. Natürlich wütet er auch gegen «die Oligarchie des Geldes», mit handfesten Argumenten. Die Ideen Mélenchons sind nicht utopisch, sondern visionär, also umsetzbar, wenn der politische Wille vorhanden ist. Nachdem er im Anschluss an die Wahl am So-Abend Macrons in einem Video freundlich für seinen Sieg gratuliert (und somit die Hand gereicht) hat, würde ich mir wünschen, dass Mélenchon mindestens als Berater gewürdigt würde, denn seine Ideen verdienen es, in aller Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert zu werden.