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Wie vielfältig darf Europa sein? © zvg

Krux der EU: Ignorierte nationale Minderheiten

Reinhard Olt /  Zwischen Hebriden und Stiefelabsatz machen sich nach dem Brexit-Referendum weitere Fliehkräfte bemerkbar.

Seit sich Engländer und Waliser wider Schotten und Nordiren mehrheitlich für die Verabschiedung des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) entschieden haben, sind quer über den Kontinent Gründe und Folgen geradezu auf inflationäre Weise erörtert worden. Auffällig ist, dass dabei ein schon bisher unterschätztes Thema gänzlich ausser Acht geriet, nämlich Lage, Dasein und Bedürfnisse einer Gruppe von Minderheiten. Dies korreliert mit dem Stellenwert, den diese in Europa einnehmen.

Es ist eine Krux, dass sich die EU nie auf eine eigentlich wünschenswerte, weil notwendige Minderheiten-Politik eingelassen hat. Ich meine damit nicht «neue», sondern «alte» Minderheiten, nationale Minoritäten (in – aufgrund vielerlei historischer Gründe – fremdnationaler Umgebung). Es gibt deren viele, auch in EU-Europa, und einige, deren stete «Erfolglosigkeit» im Ringen um mehr Autonomie/Selbstverwaltung Sprengstoff birgt. Warum hat die EU keine substantiellen Volksgruppen-Schutzmassnahmen ergriffen? Warum haben ihre Gremien und Institutionen stets auf den – vergleichsweise machtarmen – Europarat verwiesen, bei dem die nationalen Minderheiten angeblich gut aufgehoben sind?

Zentralstaaten als Verweigerer

Weil jene traditionell zentralistisch aufgebauten und organisierten Nationalstaaten – Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen – deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Hinsichtlich Rumänien ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,4 Millionen ethnischen Ungarn – und insbesondere der ca. 700’000 Szekler – nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr (Stichwort: Trianon) gebrandmarkt wird. Ein anderes Beispiel gefällig? Frankreich (am 7. Mai  1999) und Italien (27. Juni 2000) haben zwar die am 5. November 1992 vom Europarat verabschiedete und – bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen – relativ «harmlos» bleibende «Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen» unterzeichnet; ratifiziert und inkraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.

Solange das Manko aufrecht ist, dass die «kleinen Völker» respektive «kleinen Nationen», als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche verstehen, in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Masslos enttäuscht sind sie indes von der EU, von der sie sich in gewisser Weise «Erlösung» erhofft hatten und noch immer erhoffen. Denn abgesehen vielleicht von dem vergleichsweise kompetenzarmen «Ausschuss der Regionen der EU», der allenfalls als Feigenblatt taugt, hat sich just das «supranationale Gebilde» EU gänzlich ihrer Bedürfnisse entschlagen.

Schotten und Iren

Just im Gefolge des Brexit dürften sie sich daher neuerlich und umso vernehmlicher Gehör verschaffen. Die Schotten erstreben die eigene Unabhängigkeit und den Verbleib in der EU. Mit einem weiteren, höchstwahrscheinlich erfolgreicheren Referendum ist zu rechnen. Und für die Nordiren scheint die Gelegenheit günstig, sich mit der Republik Irland zu vereinen. Sollte sich das brexit-geschwächte London gegen die manifesten Aufbegehrensmomente nördlich des Hadrianswalls und drüben in Ulster wehren, wogegen auch die Klammer United Kingdom (trotz grosser Sympathie für die sie verkörpernde, aber nicht ewig lebende Königin) letztlich wenig Wirkung entfalten dürfte, so ist dort mit vernehmlichen Erschütterungen zu rechnen.

Die genannten Zentralstaaten müssen eine derartige Entwicklung jenseits des Kanals fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Denn sie hätte Signalwirkung für nationale Minderheiten auf ihrem Territorium und/oder im Grenzraum zu Nachbarstaaten. Weder von der EU-Kommission noch vom Rat sind indes Initiativen zu erwarten, welche auf einen längst überfälligen «Europäischen Rechtsrahmen für nationale Minderheiten» hinauszulaufen hätte. Und im Europaparlament würden – gesetzt den Fall, es käme dort dazu – die jeweiligen nationalstaatlichen Bremser in den Reihen von Sozialisten/Sozialdemokraten und EVP dafür sorgen, dass darauf gerichtete Versuche ins Leere liefen.

Katalanen und Basken

Was für Schotten und Nordiren gilt, gilt umso mehr für Katalanen und Basken. Nicht die Katalanen, die sich in – von Madrid nicht anerkannten – Referenden bisher am weitesten vorwagten, sondern die Basken waren die ersten, die – anfangs und über Jahre hin mit blutigen Anschlägen – die Trennung von Spanien und den eigenen Staat zu erreichen hofften. Davon wäre naturgemäss auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque (in baskischer Sprache «Iparralde» = «Nordseite»), bekennen sich gut 100’000 Menschen zum baskischen Volk. Im Baskenland stellte Regierungschef Íñigo Urkullu – «Wir müssen auf die Ereignisse in Katalonien reagieren» – 2015 seinen Plan «Euskadi Nación Europea» vor. Er enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.

Bretonen und Korsen

Die Medien der Grande Nation geben zwar vor, das Geschehen auf den britischen Inseln habe auf Separatisten in Frankreich keine Auswirkung. Dem steht der Augenschein entgegen. Insbesondere in der Bretagne verfolgt man die schottische Unabhängigkeitsbewegung sehr genau. Viele Bretonen begleiten die Entwicklung dort mit Sympathie. Wenngleich in der Bretagne das Verlangen nach Abspaltung von Frankreich wenig ausgeprägt ist, so hört man doch gar nicht so selten, das schottische Vorpreschen werde auch anderen Volksgruppen in Europa – nicht zuletzt den Bretonen selbst – mehr Gehör und politische Eigenständigkeit verschaffen. Immerhin und wohl nicht von ungefähr sind die aufmüpfigen Bretonen bei der von Präsident Hollande initiierten grossen Gebietsreform – Reduktion der Zahl der (festländischen, nicht der überseeischen) Regionen von 22 auf 13 – ungeschoren davongekommen.

Dasselbe gilt für die Korsen, wenngleich man auch die Insel Korsika, die nicht als Region, sondern als Gebietskörperschaft gilt, einer festländischen Verwaltungseinheit – etwa Provence-Alpes-Côte d’Azur – planerisch hätte zuschlagen können. Die Nationalpartei PNC (partitu di a Nazione Corsa) tritt nicht unbedingt für die Unabhängigkeit Korsikas ein, was das Ziel bisweilen bombender Extremisten war und gelegentlich noch ist, verlangt aber mehr Selbständigkeit anstatt politischer Steuerung durch Paris. Im Elsass begnügt man sich hingegen offenbar mit einigen Zuständigkeiten in (sprach)kulturellen Angelegenheiten. Wenngleich nicht wenige Elsässer gegen die Verschmelzung ihrer Provinz mit Lothringen, der Champagne und den Ardennen zur Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine protestierten, welche vom 1. Oktober dieses Jahres an kurz «Région Grand Est» heissen wird.

Flamen und Wallonen

In Brüssel, wo oft die am weitesten wirksam werdenden Entscheidungen für die EU getroffen werden, scheint der Staat, dessen Hauptstadt Brüssel selber ist, stets unmittelbar vor seiner Auflösung zu stehen. Der Konflikt zwischen holländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen in Belgien währt schon lange und ist in den letzten zehn Jahren deutlich stärker geworden. Von den Flamen, die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der «ärmeren» Wallonie wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus. Die Deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 80’000 Menschen bewohntes Gebilde mit politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebietes Eupen-Malmedy, gehört zwar territorial zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.

Im Norden Italiens

Ausserhalb des Landes werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden Italiens unterschätzt und medial weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen im Blick auf die möglichen Folgen des Brexit und angesichts wachsender regionaler Erosionserscheinungen eine Art «Domino-Effekt» befürchten. Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, gewannen letzthin besonders im Veneto an Boden. In einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, an dem sich seinerzeit 2,36 Millionen Wahlberechtigte (73 Prozent der Wählerschaft der Region) beteiligten, antworteten 89 Prozent auf die Frage «Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?», mit einem klaren «Ja».

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Veneto ergriff die Lega Nord in der Lombardei eine ähnliche Initiative. Die Schlacht um die Unabhängigkeit sei wieder aktuell, sagt daher Lega-Chef Matteo Salvini. Und fügte am Tag nach dem Brexit-Volksentscheid hinzu: «Es lebe der Mut der freien Briten. Herz, Verstand und Stolz besiegen die Lügen, Drohungen und Erpressungen. Danke UK, jetzt kommen wir dran». Die Gegnerschaft zu seinen Bestrebungen sieht er in Rom und Brüssel. Rom macht er für hohe Steuern und Abgaben verantwortlich. Zudem spricht er sich für den Austritt Italiens aus der Euro-Zone aus.

Gegen Rom und Brüssel könne man nur gewinnen, wenn sich Lombardei, Piemont und Venetien zusammenschlössen, sagt Salvini. Die von seinem Stellvertreter Roberto Maroni geführte Mitte-Rechts-Koalition im lombardischen Regionalparlament verlangt die Umwandlung der Lombardei in eine Region mit Sonderautonomie, einen Status, den die Autonome Region Trentino-Alto Adige innehat, in welcher die Provinzen Trient und Bozen-Südtirol seit Ende des Zweiten Weltkriegs (zwangs)vereint sind. Doch just diese «Privilegien» sollen gemäss der (Staats- und Verfassungs-)Reform des italienischen Regierungschefs Matteo Renzi beseitigt werden, womit die bestehenden (Sonder-)Autonomien zwangsläufig gekappt würden. Ob die «Schutzklausel», die Renzi den Südtirolern zugesichert hat, das Papier wert ist, auf dem sie – nicht eindeutig auslegbar – fixiert ist, muss sich erst noch erweisen.

Die römischen Parlamentarier der seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen Brenner und Salurner Klause dominanten Südtiroler Volkspartei (SVP) haben alle Warnrufe – der deutschtiroler Oppositionsparteien und selbst jene von ehedem langjährigen politischen Verantwortungsträgern der eigenen Partei – in den Wind geschlagen und dem Reformvorhaben zugestimmt, über das im Herbst die Italiener abstimmen sollen. Die SVP hat sich damit aus selbstgewähltem Koalitionszwang mit dem Südtiroler Ableger von Renzis Partito Democratico (PD) politisch eindeutig positioniert; eine Festlegung, die sie – als «Minderheiten-Partei» – aus gutem Grund, nämlich der Äquidistanz zu allen italienischen Parteien, gut sechs Jahrzehnte nie traf.

Möglicherweise zeitigt das Experiment «Autonomiekonvent», auf welches sich die SVP – wiederum, um ihrem Koalitionspartner PD in Bozen und dessen Vormann Renzi in Rom zu willfahren – eingelassen hat, noch fatalere Folgen. Dieser «Konvent» soll die Vorgaben liefern, mit denen das Zweite Autonomiestatut des Jahres 1972, auf welchem die politischen, ökonomischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der selbstverwalteten Provinz Bozen-Südtirol fussen, den «veränderten Gegebenheiten» angepasst werden soll.

Faktum ist indes, dass Italien die autonomen Befugnisse des ihm nach dem Ersten Weltkrieg zugeschlagenen südlichen Tiroler Landesteils seit dem mit der österreichisch-italienischen Streitbeilegungserklärung im völkerrechtlichen Sinne beendeten Südtirol-Konflikt 1992 mittels gesamtstaatlicher, d.h. römischer «Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis» und spürbarem Finanzmittelentzug, auf den sich die SVP einliess, sukzessive entwertete. Faktum ist zudem, dass die nicht zu leugnende, aber – wiederum wider Mahnungen von Opposition und «Altpolitikern» der Partei – von der jetzigen SVP-Führung ignorierte Gefahr besteht, dass die Ergebnisse des «Konvents» in ein «Drittes Autonomiestatut» münden, dessen politischer und – vor allem rechtlicher – Rahmen bei weitem hinter jenem des Zweiten zurückbleiben dürfte.

«Los von …»

Angesichts dessen muss man sich nicht wundern, dass die Befürworter des «Los von Rom» in Südtirol immer mehr Zulauf erhalten. Und sich, wie unlängst der in Bruneck veranstaltete «Unabhängigkeitstag» erwies, mit den politischen Kräften jener Bewegungen verbünden, welche das «Los von London, Madrid, Paris, Brüssel …..» für sich beanspruchen sowie die Gewährung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verlangen. Hätte sich die EU beizeiten auf eine vernünftige Politik zum Schutz der «alten» Minderheiten eingelassen und einen verlässlichen kollektiven Rechtsrahmen zum Schutz der «kleinen Nationen» und Volksgruppen geschaffen, so wären die zwischen Hebriden und Stiefelabsatz dräuenden Fliehkräfte mutmasslich nicht so stark angewachsen. Und erhielten auch nicht zusätzlichen Auftrieb durch den britischen Exit.

+++

Dazu passt: Sternstunde Philosophie vom 26. Juni 2016 – «Ein Königreich für ein neues Europa»: Philosophin Ulrike Guérot vertritt ein Europa der Regionen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt gehörte von 1985 bis 2012 der F.A.Z.-Redaktion an, davon 18 Jahre als Korrespondent in Wien. Seit seinem Ausscheiden lehrt er an österreichischen und ungarischen Hochschulen.

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 11.07.2016 um 13:54 Uhr
    Permalink

    Genug der Analysen und Kommentare! Mich würde interessieren, was die EU ändern muss, damit sie für all die erwähnten Minderheiten, auch für die Schweiz, verträglich wird. Wer stellt in Brüssel den Wecker für die vor sich hindösenden, selbstzufriedenen und abgehobenen Politiker und Technokraten, die an der «Entmündigung Europas» (H.M. Enzensberger) fleissig arbeiten ohne dies zu merken?

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