Kriegseinsätze: Zwist zwischen Volk und Eliten
Das Volk sieht es anders als die politischen Eliten: Umfragen in Deutschland zeigen eine konstante und klare Mehrheit gegen Einsätze der Bundeswehr im Ausland. Bundespräsident Joachim Gauck (siehe Infosperber-Beitrag), Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Aussenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plädieren dagegen für «stärkere internationale Verantwortung» und rücken damit von der traditionell eher zurückhaltenden Politik des militärischen Interventionismus ab.
Gemäss einer vom «Stern» Ende Juni veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa lehnen 71 Prozent der Befragten Militäreinsätze mit deutscher Beteiligung selbst für den Fall ab, dass sich Konflikte nicht durch Diplomatie oder Sanktionen lösen lassen. Ein ähnliches Bild zeigt eine repräsentative Befragung des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid Anfang Juli im Auftrag der Wochenzeitung «Freitag»: Dort sind es 78 Prozent, also fast vier Fünftel der Befragten, welche die Aussage ablehnen, Deutschland solle «in der Welt grösseres militärisches Engagement zeigen».
Gegen «pazifistischen Sonderweg»
Die Haltung der Bevölkerung scheint also klar zu sein. Für Professor Heinrich August Winkler, einen der prominentesten Historiker Deutschlands, wirken diese Umfragen «erschreckend», da sie von den westlichen Verbündeten nicht nur als «pazifistischer Sonderweg», sondern als Ausdruck eines wachsenden Zweifels an der Westbindung interpretiert werden könnten, wie Winkler an einer Tagung der grünen Heinrich-Böll-Stiftung sagte (Link siehe unten). Das grosse Ziel des «normativen Projekts des Westens» müsse weiterhin die Durchsetzung von weltweit geltenden Menschenrechten bleiben.
Im Gegensatz zu Winkler sind die Äusserungen der Parteien teilweise etwas nebulös. Vor allem die linken Parteien geraten in ein Dilemma. Die SPD-Spitze verteidigt Gauck, weil dieser nicht pauschal ein stärkeres militärisches Engagement gefordert habe und dieses, wie die SPD, als letztes Mittel verstehe. Es gibt aber auch Stimmen in der Partei, die eine Kurskorrektur in der deutschen Aussenpolitik fordern, mit dem Ziel Krisenprävention, Armutsbekämpfung und Klimaschutz in den Vordergrund zu rücken. Deutschland solle bei der Durchsetzung der Prinzipien des Gewaltverzichts, der gemeinsamen Sicherheit und des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen eine führende Rolle spielen.
Für die Sozialdemokraten wie auch für die Grünen ist das Thema besonders belastet: Es war schliesslich die rot-grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sowie Vizekanzler und Aussenminister Joschka Fischer (Grüne), die mit der pazifistischen Nachkriegstradition der Bundesrepublik im Kosovo-Krieg von 1999 brach. Beide Parteien standen zuvor einer militärischen «Normalisierung» der deutschen Politik äusserst skeptisch gegenüber und gerieten damals in ein Dilemma: Sollten sie der brutalen Verfolgung, Unterdrückung und Vertreibung der albanischen Bevölkerung in Kosovo durch das Milosevic-Regime zusehen? Oder sollten sie in einen von der Nato geführten, von der Uno aber nicht abgesegneten Krieg gegen Jugoslawien ziehen?
Vorbei mit dem «gemütlichen Biertrinken»
Der Entscheid zur Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg stürzte die beiden linken Parteien in eine schwere Identitätskrise. Der innerparteiliche Konflikt wurde dabei nicht immer pazifistisch ausgetragen: Joschka Fischer wurde an einem Parteitag der Grünen gar mit einem Farbbeutel angegriffen, am Ohr getroffen und verletzt. Die Grünen stellten sich dann allerdings hinter die Entscheidung der Regierung und fügten sich damit dem moralisch-politischen Druck zur «humanitären Intervention.»
Die Haltung der Grünen in der derzeitigen Debatte ist deshalb von besonderem Interesse. Grünen-Chefin Simone Peter warnte kürzlich davor, Deutschlands traditionelle Zurückhaltung bei Militäreinsätzen aufzugeben. Etwas anders sieht es jedoch ausserhalb der parteiamtlichen Verlautbarungen aus. An der 15. Aussenpolitischen Tagung der grünen Heinrich-Böll-Stiftung Ende Juni setzte sich Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Stiftung, von der «komfortablen Sonderrolle» ab, die Deutschland bis 1990 genossen habe. Die Zeiten seien vorbei, in denen der «deutsche Michel» angesichts entfernter Konflikte «gemütlich sein Bier trinken konnte», sagte Fücks gemäss Tagungszusammenfassung (Link siehe unten). Die heutigen Krisen liessen sich in einer immer enger verwobenen Welt nicht mehr ignorieren.
Weniger Völkerrecht, mehr Stabilität
Die Heinrich-Böll-Stiftung hat einen Reader zu ihrer aussenpolitischen Tagung herausgegeben, in dem einige bemerkenswerte Beiträge versammelt sind (Link siehe unten). Dort wird etwa Bodo Weber, Senior Associate am Democratization Policy Council in Berlin, eine Plattform gegeben. Zu Beginn geisselt er die bisherige militärische Zurückhaltung Deutschlands scharf: «Mit dem deutschen Nein im Uno-Sicherheitsrat zur Libyen-Intervention und der vorauseilenden Ablehnung deutscher Beteiligung an einer wie auch immer gearteten, eventuellen westlichen Militärintervention im syrischen Bürgerkrieg hat Deutschland den Weg in die internationale Selbstisolation angetreten. Es hat das ‚ohne uns‘ quasi zur aussen- und sicherheitspolitischen Doktrin erhoben.»
Bodo Weber empfiehlt eine Kehrtwendung: «Die deutsche Politik muss akzeptieren, dass das bestehende internationale System, allen voran die Vereinten Nationen, nicht den Herausforderungen der Weltunordnung des 21. Jahrhunderts entsprechen. Das bedeutet praktisch zu akzeptieren, dass ein Agieren ausserhalb des bestehenden völkerrechtlichen Rahmens vonnöten sein kann, wenn die Stabilität der internationalen Ordnung gefährdet ist».
Es ist schon beachtenswert, wenn im grünen Dunstkreis derartige Thesen vertreten werden. Natürlich ist das Uno-System weit weg von einem Idealzustand. Wer allerdings die Vereinten Nationen und die durch sie möglich gewordenen völkerrechtlichen Normen – wozu auch das zwischenstaatliche Gewaltverbot gehört – derart frontal angreift, redet internationaler Anarchie und dem Recht des Stärkeren das Wort.
Auch Linkspartei zu Konzessionen bereit
Die deutsche Politik müsse auch ihren Umgang mit autoritären Regimen neu definieren, findet Weber weiter. Man könne diese Herausforderungen nicht mit den aussenpolitischen Instrumenten deutscher Ostpolitik bzw. des Kalten Krieges meistern. Und: «Zu einer Neujustierung gehört unter anderem auch anzuerkennen, dass es mitunter geboten ist, die Sprache autoritärer Herrscher zu sprechen, um von diesen überhaupt erst ernstgenommen zu werden.» Was hier konkret gemeint ist, bleibt unausgesprochen. Aber man muss annehmen, dass nicht nur die Sprache, sondern auch die Methoden gemeint sind. Für ihn heiligt offenbar der Zweck beinahe alle Mittel.
Militärische Enthaltsamkeit ist mittlerweile selbst für die Partei «Die Linke» kein absolutes Gebot mehr. Stefan Liebich, Obmann der Linkspartei im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, will «Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht ausschliessen», wie die Plattform «German Foreign Policy» schreibt (Link siehe unten). Die Autoren der Analyse machen vor allem parteitaktische Gründe für die Aufweichung der strikten Ablehnung militärischer Interventionen durch die Linkspartei aus. Darauf weisen auch Äusserungen leitender Funktionäre der Organisation hin, wonach eine künftige Koalition mit der SPD und den Grünen «an der Aussenpolitik nicht scheitern» werde.
Antithese zum Machtstaat
Die von Bundespräsident Gauck wiederbelebte Debatte über militärischen Interventionismus und das nachfolgende Ringen der Parteien um einen klaren Standpunkt zeigt die Brisanz des Themas vor allem in Deutschland. Denn Deutschland hat sich nach der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund seiner grauenvollen historischen Erfahrung so fundamental verändert wie kein anderes Land in Europa. Es versteht sich, auch nach der Wiedervereinigung von 1990, grundsätzlich als Antithese zum einstigen aggressiven Gewalt- und Machtstaat. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Es gehört zu diesem zivilisatorischen Fortschritt, dass die deutsche Öffentlichkeit militär- und sicherheitspolitische Themen mit grösster Aufmerksamkeit verfolgt. Nicht nur aus historischer Erfahrung. Sondern auch aus der Erkenntnis heraus, dass militärische Interventionen in anderen Gegenden der Welt auch aus machtpolitischen und nie allein nur aus humanitären Gründen stattfinden, und dass zudem die allermeisten derartigen Abenteuer das erklärte Ziel ohnehin weit verfehlen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Besten Dank für diese hervorragende und informationsreiche Zusammenfassung der aussenpolitisch bedeutenden Diskussion in Deutschland. Das Dilemma von «Nie wieder Krieg» und «Nie wieder Auschwitz» duldet keine simpel einseitigen Antworten. Gerade der Kosovo-Krieg hat die Konfliktgräben nicht zugeschüttet sondern vertieft: In Ex-Jugoslawien dominiert weiterhin der Nationalismus. Erschreckend ist deshalb der Totalangriff von Bodo Weber auf die völkerrechtliche Errungenschaften nach dem zweiten Weltkrieg. Heinrich Winkler argumentiert viel differenzierter. Und seine Kritik an den nationalistischen reaktionären Rechtfertigungsideologien der Putinfreunde in Ost und West ist sehr wichtig, auch innenpolitisch. «Nie wieder Krieg» und «Nie wieder Ausschwitz» müssen sich gegenseitig ergänzen.