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«Recht und Pflicht»: Wählen in Frankreich. © CC

Frankreichs Uhren ticken nicht anders

Johann Aeschlimann /  Die rechte Revolte findet auch in Europa statt. Der nächste Akt im Stück spielt in Frankreich. In der Hauptrolle: Marine Le Pen.

Wir sind alle von Donald Trump besessen und wissen mehr über seine derzeitige Ehefrau als über die Akteure auf dem eigenen Kontinent. Die Furcht vor Trump belebt den alten Glauben an amerikanische Allmacht, nährt finstere Untergangsszenarien und verdrängt die Vorstellung eigener, anderer Weichenstellungen. Dabei finden in der engeren Nachbarschaft in Europa bedeutende Wahlentscheide statt. Zum Beispiel in Frankreich, wo am 23. April die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfindet (die Stichwahl ist am 7. Mai). Neben einer Reihe von Kleinkandidaturen stehen vier Hauptfiguren zur Wahl: Der Linke Benoît Hamon (Parti Socialiste), der Bürgerliche François Fillon (Les Républicains), der Neue Emmanuel Macron (Partei En Marche) – und die Radikal-Rechte Marine Le Pen (Front National).
Was läuft im Westen? Der Schweizer Journalist Rudolf Balmer verfolgt und beschreibt das Geschehen in der Grande Nation seit 30 Jahren.

Ist in Frankreich ein Trump-Effekt zu beobachten?

Rudolf Balmer: Auf jeden Fall stellt sich die Frage des Populismus. Ähnlich wie anderswo in Europa gibt es einen Trend zu einem grossen Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den traditionellen Parteien, den Institutionen, den Medien und auch gegenüber der Wissenschaft. Das erinnert am stärksten an einen Trump-Effekt.
Trumps Sieg hat natürlich eine Rückwirkung in Europa, im Speziellen in Frankreich. Auch hier rechneten die meisten nicht damit, dass eine Figur wie Trump Wahlen gewinnen kann. Dass dies in den USA möglich war, gibt der Vorstellung Auftrieb, dass Marine Le Pen in Frankreich siegen könnte.

Hier wir dort lagen die Umfragen zu den Vorwahlen und die Prognosen der Medien daneben. Gehört das auch zum Trump-Effekt?

Rudolf Balmer: Auf jeden Fall verlaufen diese Wahlen ganz anders als man es sich noch vor einem Jahr vorgestellt hat, in mehreren Punkten. Erstens ist der amtierende Präsident François Hollande so unpopulär und seine Bilanz so umstritten, dass er es gar nicht wagen konnte, zur Wiederwahl anzutreten. Das ist neu. Seine drei letzten Vorgänger haben es alle ein zweites Mal – Mitterrand und Chirac wurden wiedergewählt, Sarkozy abgewählt. Hollande hat kapituliert. Das schafft eine ganz neue Ausgangslage. Jetzt gibt es keinen Kandidaten, der mit der Bilanz der abgelaufenen Amtszeit antritt und diese verteidigt. Neu ist ebenfalls, dass mit Marine Le Pen erstmals eine Rechtsextremistin Aussicht auf die Staatspräsidentschaft hat. Das ist nicht mehr auszuschliessen. Noch vor ein paar Jahren hätte ganz Frankreich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und beteuert, niemals, niemals könne eine Partei mit diesem faschistischen Hintergrund eine so wichtige Wahl gewinnen.

Die Vorwahlen ergaben saftige Überraschungen.

Rudolf Balmer: Auf allen Seiten, ja. Bei den Bürgerlichen ist François Fillon von der Parteibasis mit einem sehr liberalen Programm gewählt worden. Das ist überraschend, weil Liberalismus in Frankreich praktisch ein Schimpfwort ist. Die Leute setzen noch auf den Staat und staatliche Subventionen und Interventionen. Inzwischen ist Fillon bereits wieder auf dem Schleudersitz, weil der Canard Enchaîné eine Affäre rund um die Anstellung von Familienmitgliedern mit Steuergeldern enthüllt hat. Überraschend ist auch der linksliberale Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der sich im Gegensatz zu den bisherigen Gepflogenheiten nicht rechts oder links situiert, sondern irgendwo in der Mitte. Das ist etwas Neues, und das Überraschende ist, dass er als Topfavorit gilt.

Ist Hollandes Erbe eigentlich so lausig?

Rudolf Balmer: Hollandes Bilanz ist nicht so schlecht, wie sie von den Medien dargestellt wird und wie sie die Bürger weitgehend sehen. Aber man müsste ihm vorwerfen, dass er ganz zu Beginn seiner Präsidentschaft nicht öffentlich Inventar gemacht hat. Er hat seinen Mitbürgern nicht klar gesagt: Frankreich geht es schlecht, Frankreich ist hoch verschuldet und ich bin gezwungen, auch unpopuläre Massnahmen zu ergreifen. Das hat er versäumt, aus einer unverständlichen Versöhnlichkeit und Kompromissbereitschaft. Sein Pragmatismus nachher ist natürlich schlecht angekommen, weil die Leute zu Recht das Gefühl hatten, dass er sein eigenes Programm und damit seine Wähler verraten habe.

Wer ist denn der sozialistische Kandidat?

Rudolf Balmer: Es ist bezeichnend, dass auch die Sozialisten einen internen Oppositionellen aufgestellt haben Das zeigt, dass Hollande auch bei den Sozialisten sehr umstritten ist, und dass sie Hollandes Bilanz nicht als Wahlprogramm akzeptieren. Bezeichnend ist auch, dass der Kandidat, er heisst Benoît Hamon, nicht zu den Favoriten gehört, zumindest nicht bisher. Man kann jedoch Überraschungen nicht mehr ausschliessen. Hamon hat es immerhin geschafft, Wahlbündnis mit den Grünen zu schliessen, die angesichts der erfolglosen Kampagne ihres Vertreters auf eine eigene Kandidatur verzichten.

Le Pen eine Rechtsextremistin, ihre Partei faschistisch: Sie verwenden harte Worte. Haben wir es nicht mit einem anderen, geläuterten und gezähmten Front National zu tun? Marine Le Pen und ihre Partei scheinen salonfähig.

Rudolf Balmer: Es ist Le Pen und dem Front National tatsächlich gelungen, sich weitgehend zu verharmlosen. Das liegt vor allem an der Wortwahl im Auftritt. Im Unterschied zu ihrem Vater, dem Parteigründer, vermeidet Marine Le Pen rassistische oder gar antisemitische Äusserungen tunlichst. Sie selbst – und das ist vielleicht die einzige wirkliche Veränderung – ist keine Antisemitin. Aber die Banalisierung des Programms des Front National ist nur Schminke. Dahinter steht dieselbe Partei wie zur Zeit ihres Vaters, nationalistisch. Der Feminismus zum Beispiel, den Frau Le Pen gerne selber verkauft, dient im Parteiprogramm nur dazu, den Islam und die Moslems in die Schäm-Dich-Ecke zu stellen. Sie versteht es, sich mit ihrer Partei als Opfer des Systems darzustellen und die ganzen demokratischen Errungenschaften Frankreichs exklusiv für sich zu beanspruchen. So wird zum Beispiel die Laizität zum Instrument, um die Moslems als Staats- und Gesellschaftsfeinde zu verfemen.

Faschistisch?

Rudolf Balmer: Das nationalistische Programm steht klar in der Tradition von europäischen Bewegungen, zu denen ich auch Faschismus und Nationalsozialismus zähle. Es unterscheidet sich wenig von der Politik, wie sie heute in Ungarn praktiziert wird. Das zeigt die Richtung an, in die es gehen könnte.

Für die «Nation» und gegen die Fremden – das kennen wir in der Schweiz. Hierzulande wird auch Abneigung gegen Europa eingesetzt, um Wahlen zu gewinnen. Welchen Stellenwert hat die Europäische Union im Wahlkampf?

Rudolf Balmer: Seit dem Brexit steht in Frankreich das Thema Europa ganz klar im Vordergrund. Gerade Le Pen und der Front National können das Misstrauen und die Verärgerung über die Krise der EU für sich ausnützen. Sie sind nicht die einzigen. Der Souveränist Nicolas Dupont-Aignan und der Linkspopulist Jean-Luc Mélanchon surfen auf der gleichen Welle.

Frexit – Frankreichs Austritt aus der EU?

Rudolf Balmer: Die Angst vor einem Frexit steht bei dieser Wahl im Raum. Das geht um wie ein Gespenst. Der einzige Kandidat, der sich klar für eine positive Lösung in Europa ausspricht, ist der Linksliberale Macron. Das ist ein Phänomen. Bei keinem anderen Kandidaten werden Europafahnen geschwenkt. Alle anderen setzen in der einen oder anderen Form auf die Krise der EU und fordern zum allermindesten eine Neuorientierung, Verhandlungen über EU-Verträge oder sogar den Austritt wie Frau Le Pen.

Was kommt unter Präsidentin Le Pen auf Europa zu?

Rudolf Balmer: Le Pen hat das klar gesagt. Sie macht sich zur grossen Verteidigerin der Volksrechte und möchte zumindest formell eine direkte Demokratie wie in der Schweiz, mit Initiative und Referendum. Eine der ersten Massnahmen, sagt sie, wäre eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU. Sie sagt, vorher würde sie in Brüssel versuchen, eine Wiederherstellung der nationalen Souveränität zu erreichen, und sie weiss genau, dass dies nicht möglich ist. Die Konsequenz wäre dann eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU und aus dem Euro. In einer ersten Phase würde sie den französischen Franc paritätisch an den Euro binden. Das haben ihr offenbar ihre Wirtschaftsberater suggeriert. Denn ein Austritt aus dem Euro würde Frankreich teuer zu stehen kommen. Die Staatsschulden sind in Euro notiert, und eine Abwertung des Franc gegenüber dem würde die Last höher machen.

Sind die Flüchtlinge ein Thema für sich?

Rudolf Balmer: Die Flüchtlingsfrage ist praktisch ein Tabu in dieser Wahldebatte. Eigentlich spricht niemand davon, ausser die Fremdenfeinde. Sie wollen die Grenzen schliessen und das Schengen-Abkommen begraben. Das heisst, die Flüchtlinge, die jetzt aus Mitteleuropa in den Westen kommen, nicht in Frankreich aufzunehmen und an der Durchreise zu hindern. Frankreich ist für Flüchtlinge ohnehin keine gute Adresse. Im Unterschied zu Deutschland hat Frankreich nur wenige syrische Flüchtlinge aufgenommen, von den versprochenen 30 000 kamen bestenfalls 3000 ins Land.

Man las viel über die Situation in Calais. Was ist dort jetzt los?

Rudolf Balmer: Die Lage in Calais und am Ärmelkanal überhaupt ist nach wie vor dramatisch. Die Räumung des Lagers in Calais hat wie erwartet nichts gelöst. Die Flüchtlinge, die nach Grossbritannien wollen, leben jetzt zum Beispiel in einem Lager in Dünkirchen, das aus allen Nähten platzt, oder sie versuchen, irgendwo unterzukommen. Auch am Rand von Paris wurde ein Durchgangslager geschaffen, das übervoll ist. Es ist keine wirkliche Lösung gefunden. Das ist den meisten peinlich, deshalb wird nicht darüber gesprochen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Rudolf Balmer ist Pariser Korrespondent für die Basler Zeitung, die tageszeitung (Berlin) und Die Presse (Wien). Er twittert unter @parisinfos.

Zum Infosperber-Dossier:

Frankreich_Falgge

Wahlen in Frankreich

Am 10. April 2022 findet die erste Runde der nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Die beiden mit den meisten Stimmen treten am 24. April zur Stichwahl an.

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2 Meinungen

  • am 3.03.2017 um 18:17 Uhr
    Permalink

    Warum braucht denn Frankreich überhaupt ein Staatsoberhaupt? Fillon muss zuerst seine Vergangenheit bewältigen, Emmanuel Macron ist ein verkappter fahnenflüchtiger Sozialist mit einem Mutterkomplex und Marine Le Pen ist aufgrund ihres Wirtschaftsprogrammes nicht wählbar. Frankreich, «quel catastrophe», Frankreich ist längst unregierbar. In Frankreich ist nur der Bordeaux geniessbar!

  • am 5.03.2017 um 07:09 Uhr
    Permalink

    Soso, das ist der Korrespondent, der bei der Basler Zeitung und der taz die Meinung über Frankreich macht. Und für den ist alles, was irgendwie national ist, «faschistisch"? Hingegen wer wie Macron die staatlichen Sozialleistungen zusammenstreichen will, ist «linksliberal"? Ganz schön borniert, fanatisch und simple-minded, dieser «Experte».

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