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Demonstration für Unabhängigkeit vor dem katalanischen Wirtschaftsministerium © màrius montón / wikimedia commons

Die Gefahren des Wohlstandsseparatismus

Jürg Müller-Muralt /  Lieber die Sezession statt schwache Regionen durchfuttern: Europäische Separatisten kündigen die Solidarität auf.

Die «Guten» sind unten, die «Bösen» oben: Diese Gleichung mag als Kürzestformel in vielen sozialen und politischen Konflikten stimmen. Doch bei Sezessionskonflikten ist es nicht immer so einfach. Es gibt sie natürlich, die zahllosen Fälle, wo Minderheiten, Volksgruppen, ganze Völker fremdbestimmt und unterdrückt wurden und werden. Die Geschichte ist voll davon – und auch die Gegenwart, von Tibet, über Kurdistan und Palästina bis zur Westsahara. Dort ist die Forderung nach Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit legitim. Doch nicht jeder Sezessionskonflikt fügt sich passgenau und widerspruchsfrei ins Raster der Geschichte von Unterdrückten und Unterdrückern. Zumindest scheiden sich die Geister, wie kürzlich eine Debatte auf Infosperber zeigte: Machthaber missachten Selbstbestimmungsrecht, Selbstbestimmungsrecht nicht verabsolutieren, Selbstbestimmungsrecht erkämpft – nicht «erlaubt».

Umberto Bossis Wohlstandsstaat

Es geht im Folgenden nicht darum, wer welche Fehler im Fall Katalonien gemacht hat, und auch nicht um Fragen des innerstaatlichen Föderalismus und der regionalen Autonomierechte. Es geht allein um das Problem der Sezession und damit um den vollständigen und einseitigen Austritt aus einem Staatsverband, also um die Gründung eines neuen, souveränen Staates. Auffallend ist, dass, zumindest im westlichen Europa, wirtschaftlich gut situierte Regionen ihren Nationalstaat verlassen wollen. Katalonien ist nicht das einzige, aber das aktuellste Beispiel. Auch in Schottland, Flandern und Südtirol ist die wohlstandsseparatistische Spielart des Sezessionismus bekannt. Die extremsten Gedankenspiele hat Umberto Bossi mit seiner Lega Nord durchgespielt: Sein Padanien sollte ein Vielvölker- und Wohlstandsstaat werden, dem nicht nur der Norden Italiens angehören sollte, sondern auch Teile Frankreichs, der Schweiz, Österreichs und Deutschlands. Im Vordergrund steht bei diesen Bewegungen immer ein ähnliches Argument: Die reicheren Gebiete müssten die schwachen durchfuttern, die Umverteilung der materiellen Ressourcen im bestehenden Nationalstaat wird deshalb als ungerecht empfunden.

Den eigenen Vorteil scharf im Blick

Natürlich werden in der öffentlichen Debatte kulturelle Traditionen, die eigene Sprache und historische Gründe für die Sezessionsabsichten ins Feld geführt. Aber im Kern geht es um «Entsolidarisierung gegenüber wirtschaftlich schwächeren Regionen des eigenen Nationalstaates», und das «sollte zu denken geben, weil sie damit die Verantwortung für ihre nationalen Probleme nur auf andere europäische Staaten abschieben», schreibt Sabine Riedel, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Magdeburg, Mitarbeiterin der Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und Verfasserin verschiedener Studien zur Katalonienfrage und zu Sezessionskonflikten in Europa. Dieser Befund ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sich die katalanische, aber auch die schottische Sezessionsbewegung, betont pro-europäisch geben.

Den eigenen Vorteil lässt die katalanische Regionalregierung dabei nie aus den Augen. Eine von ihr in Auftrag gegebene Studie von 2014 zu den wirtschaftlichen und finanziellen Aspekten der Eigenstaatlichkeit hat gezeigt, dass Katalonien als selbstständiger Staat im Ranking des BIP den neunten Platz unter den EU-Ländern einnehmen würde. Es wäre direkt hinter Belgien und Deutschland, aber noch vor Finnland, Frankreich, Grossbritannien, Italien und Spanien (einschliesslich Katalonien). Die Studie verweist auch auf weitere mögliche Steuereinnahmen, «weil es einen zusätzlichen Vorteil dadurch gibt, dass nicht länger die Schulden zu bezahlen sind, die sich aus dem spanischen Haushaltdefizit ergeben». (Angaben aus einer SWP-Studie von Sabine Riedel).

Expansionistische Separatisten

Interessant ist auch der ideologische Hintergrund der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie beruft sich auf einen «progressiven» und «demokratischen» Nationalismus. Doch zeigen Dokumente der regierenden Republikanischen Linken Kataloniens (ERC), dass sie ziemlich expansionistisch denkt, wie ein Beitrag in der linken deutschen taz (Die Tageszeitung) zeigt: «Bereits in ihrer ‘Ideologischen Deklaration’ von 1993 ist von einer ‘imperialen Aufteilung’ der katalanischen Nation die Rede. Danach wird Andorra der katalanischen Region Alt Pirineu i Aran zugeschlagen, ein Teil der französischen Pyrenäen als ‘Nordkatalonien’ bezeichnet und werden die beiden spanischen Provinzen Valencia und die Balearen zum historischen Katalonien gerechnet.» Die Unabhängigkeit Kataloniens könnte also weitere heftige Territorialkonflikte nach sich ziehen.

Eigenwilliges Demokratieverständnis

Auf europäischer Ebene ist die ERC Mitglied der Europäischen Freien Allianz (EFA), die auch im Europaparlament vertreten ist. Die EFA gilt als einflussreichste Interessenvertretung des europäischen Separatismus. Sie sieht sich selbst als «eine pro-europäische Partei, die Werte der Europäischen Union, nämlich die Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit unterstützt.» Sabine Riedel hat nach einer genaueren Analyse ihrer politischen Programme «erstaunt festgestellt, dass sie zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele unter Umständen auch demokratische Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufs Spiel setzen.»

Riedel hat nach Konsultation verschiedener Quellen acht heikle Programmpunkte der in der EFA vereinigten Mitgliedsparteien zusammengestellt, die europäische Grundwerte tangieren. Drei davon sind besonders gravierend. So findet sich dort ein «Recht auf Verletzung von Verfassung und geltenden Gesetzen durch Massenbewegungen». Das widerspricht jeglichem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Massendemonstrationen und -bewegungen gehören zwar zur Meinungsäusserungsfreiheit, sie sind aber keine Entscheidungsorgane; nur autoritäre Systeme stützen sich auf Massenbewegungen als Quelle der Legitimation.

Weiter fordert die EFA, «Regionen sollen allein über Grenzveränderungen entscheiden können». Die europäische Friedensordnung dagegen beruht auf Verträgen und auf der Anerkennung bestehender Grenzen. Auch wird ein «Recht auf Einmischung in die Selbstverwaltung der Nachbarregionen und Regionen der Nachbarstaaten» gefordert. Mit anderen Worten: Die EFA bestreitet, dass das Recht auf Selbstbestimmung für alle Regionen gelten soll. Damit entstehen ungleiche Rechtsverhältnisse und Instabilität.

Die Beispiele machen klar: Selbstverständlich muss über Autonomiestatute, Föderalisierung, stärkere Selbstverwaltung innerhalb der bestehenden Staaten verhandelt werden können, heikel wird es dagegen bei Sezessionsabsichten. Will ein Gebiet vollständig aus einem Staatsverband austreten, braucht es nicht bloss einseitige Volksabstimmungen, sondern mehrjährige intensive Verhandlungen, nur schon um ein allseits anerkanntes Trennungsverfahren zu finden.

Militanter Separatismus ist ein Rückschritt

Der Schweizer Historiker und Professor Thomas Maissen hat jüngst in einem Beitrag in der NZZ am Sonntag die Katalanen zu Geduld aufgefordert; das sei es, was Katalonien vom Jurakonflikt lernen könne: «Beim Separatismus handelt es sich nicht um eine Sachfrage, die mit einem einmaligen Ja oder Nein erledigt ist, sondern um einen langfristigen Prozess, bei dem Abstimmungen, im Plural, Teil des Verfahrens sind.» Grenzen verändern sich in der Geschichte immer wieder. Man braucht bloss einen Blick wenige Jahrzehnte zurück zu werfen, auf eine Europakarte von 1989. «Die Frage ist also nicht, ob Grenzen sich verändern, sondern unter welchen Umständen. In der Regel geschieht dies durch Krieg, wie in Jugoslawien. Doch friedliche Verfahren sind möglich. Die Uno und Völkerrechtler sollten deshalb grundsätzlich Trennungsverfahren definieren, wie dies die Berner 1970 taten», schreibt Maissen. Damals beschloss das Berner Volk ein Verfahren, wann auf welcher Stufe über die Selbstbestimmung entschieden wird.

Man sollte sich aber endlich von der unhistorischen Vorstellung lösen, dass es jemals vollkommen gerechte Grenzen geben könne. Es ist verständlich, wenn manche Grenzziehung als ungerecht empfunden wird. Wer aber heute bei Sezessionsfragen zur Vorsicht mahnt, gibt eine rationale Antwort auf Europas Geschichte voller Gewalt. Der Separatismus, wenn er nicht in rechtlich ausgeklügelten Verfahren verläuft, birgt die Gefahr unkontrollierter Entwicklungen bis hin zu Bürgerkriegen. Eine der Grundideen der europäischen Integration ist es ja gerade, die Bedeutung der Staatsgrenzen generell zu relativieren, sie durchlässiger zu gestalten und möglicherweise ganz zu überwinden. Insofern sind der militante regionale Separatismus und seine nationalistische Ideologie ein Rückschritt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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7 Meinungen

  • am 24.11.2017 um 11:59 Uhr
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    Meiner Meinung nach wirft der Autor hier zu unterschiedliche Geschehnisse in einen Topf und schlägt alles über einen Leist. Im Falle Kataloniens muss doch deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Katalanen lange Jahre mehr Selbstbestimmung und Autonomie INNERHALB Spaniens gefordert haben. Die Regierung in Madrid hat immer wieder eingegriffen und innerkatalanische (progressive und zukunftstaugliche) Entwicklungen gestoppt und verboten. Dies auch in Missachtung der bestehenden Verfassung. Irgendwann hat man dann auch ernsthaft begonnen darauf hinzuweisen, dass ja vielleicht Katalonien als reichste Region auch selbständig bestehen könnte. Und nach weiteren für die Katalanen demütigende internen Niederlagen, wurde dann das Referendum ausgerufen: Wenn ihr unsere interne Selbstbestimmung dauernd unterdrückt, dann bleibt nichts anderes als die Loslösung. Und das Muster geht ja weiter: Wieder unterdrückt Madrid alles, macht es noch schlimmer und zwingt die Katalanen in den Extremismus. Wenn das so weitergeht wird bald Gewalt herrschen. Madrid scheint da wirklich so taub zu sein, bis die Bomben krachen. Das Baskenland lässt grüssen.

  • am 24.11.2017 um 16:28 Uhr
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    Spanien ist eine Monarchie. In Normalzeiten spielt der König keine Rolle. Leider spielt er heute in der Krise auch keine. Sein Vater machte das beim Putsch vom Februar 1981 besser.

  • am 25.11.2017 um 18:05 Uhr
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    Jens Martignoni bringt es sehr gut auf den Punkt. Es ist durchaus von Bedeutung, wer in der Vergangenheit welche Fehler gemacht hat im Fall Katalonien.

    Aus dem Jurakonflikt lernen könnte vor allem die spanische Regierung in Madrid. Bern hat meines Wissens nie versucht, gewaltfreie jurassische Aktivisten für Jahre ins Zuchthaus zu sperren. Man hat die Separatisten nicht einfach im Voraus zu Kriminellen erklärt. Es war kein einfacher Prozess, aber der Kanton Bern und die ganze Schweiz haben sich immerhin darauf eingelassen.

  • am 25.11.2017 um 23:49 Uhr
    Permalink

    Zu Professor Sabine Riedel
    Stiftung Wissenschaft und Politik
    https://de.wikipedia.org/wiki/Stiftung_Wissenschaft_und_Politik

    "Der Stiftungsrat soll gewährleisten, dass der Bund die Arbeit der SWP nicht beeinflusst; weder in der Forschung, noch in anderen Bereichen wie Themengebiete, Personalfragen oder die interne Organisation. Dieser Rat setzt sich aus Vertretern der Bundestagsfraktionen und verschiedener Bundesministerien sowie Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und dem öffentlichen Leben zusammen, wird jedoch mit ca. 55 % von Politikvertretern dominiert. Wirtschaft und Wissenschaft sind mit jeweils ca. 20 % vertreten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind deutlich unterrepräsentiert (bzw. treten außer dem General a.D. Karl-Heinz Lather ausschließlich in Mehrfachfunktionen auf). «

    Plausibler erscheinen mir die Erklärungen oder besser gesagt die Voraussagen zum Nationalismus und Separatismus, von Dr. Gregor Gysi, 1998 im Bundestag !

    https://www.youtube.com/watch?v=x1ef0BBtuYA

    "Gregor Gysi: »Man kann einen Kontinent nicht über Geld einen«"

  • am 26.11.2017 um 20:54 Uhr
    Permalink

    Da wird auf einen wichtigen Trend verwiesen: Reiche Regionen hegen vermehrt Separatismusträume, weil sie auf diese Weise u. a. ihre Solidarlasten loswerden möchten. Deshalb muss mit Blick auf die beispielhafte Autonomisierung des Kantons Jura kritisch gefragt werden: Wie wäre das Problem gelöst worden, wenn sich keine arme, sondern eine reiche Region hätte verselbständigen wollen? In der Frage der Nationalstaaten sollten wir sowohl kritisch als auch differenzierend über die Bücher gehen. Zum einen ist der Nationalismus effektiv verheerend, wenn es einem Territorialstaat gelingt, die narzisstischen Grössenvorstellungen seiner Mitglieder zu mobilisieren und in aggressiv-expansiver Weise an sich zu binden. Als nüchterne Zeitgenossin kann ich das längst auch im Rahmen der EU und ihrer grossterritorialen Integrations- und derzeit geradezu imperialen Expansionsansprüchen beobachten. Zum andern funktioniert ein Solidarsystem am besten, d. h. sozial nachhaltig, wenn es relativ kleinräumlich, von unten nach oben aufgebaut und transparent gegliedert ist. Die Schweiz ist dafür ein Musterbeispiel. Denn kleinräumliche Umverteilung stellt im Prinzip auf Reziprozität ab und geht zusammen mit sozialer und territorialer Integration. Nicht nur in der Schweiz, auch in der EU laufen hingegen die sozialen Kosten aus dem Ruder, je anonymer und unübersichtlicher ein Solidarsystem wird: Lange Umverteilungswege schaffen bleibende Abhängigkeit und Korruption statt Ausgleich und Integration.

  • am 27.11.2017 um 19:08 Uhr
    Permalink

    Verena Tobler Linder, die Ursache für den wachsenden Nationalismus basiert nicht, auf gefühlt hohen Sozialasten. Das ist ein vorgeschobener Grund.

    Die Ursachen erklärt, die durch viele Praxisbeispiele, untermauerte Systemtheorie.
    Ein System, vom Team bis Staat, strebt immer einen stabilen Zustand an.
    Stabiler Zustand heisst, so weiter machen, wie immer.
    Nur wenn ein starker Impuls kommt, dann kommt es zu einer Änderung.
    Der starke Impuls kam durch die Mißwirtschaft der EU. Stark wachsende Verschuldung, hohe Arbeitslosigkeit, sozialer Kahlschlag usw.
    Etliche EU Länder sind beim Brutto Inlandsprodukt ( BIP ), immer noch hinter dem von 2008 zurück. Wie auch Spanien, stecken die nach wie vor tief in der Krise.

    https://de.statista.com/statistik/daten/studie/19358/umfrage/bruttoinlandsprodukt-in-spanien/

    Wie kann ein bröckelndes System, einen Zusammenhalt schaffen ?
    Siehe ebenfalls Erkenntnisse der Systemtheorie.
    Äussere Feinde schweißen ein System zusammen.
    Der Feind der Katalanen war schon immer in Madrid, also liegt es nahe, dieses bestehende Feindbild zu nutzen.

    Die EU nutzt als äusseres Feindbild Trump, Putin, Erdogan oder Kim Jung Un genutzt, um das bröckenlde System zusammen zu halten.

    Die EU Mißwirtschaft, die seit 2008 tief in der Krise steckt, ist die Ursache für den wachsenden Nationalismus + wachsende Fremdenfeindlichkeit.
    Die Fremdenfeindlichkeit, wird durch die Sicht des Mikrokosmos verstärkt.

    http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0036.html

  • am 30.11.2017 um 17:00 Uhr
    Permalink

    Der Artikel verwechselt die Provinz Valencia mit der Valencianischen Gemeinschaft, die aus den Provinzen Valencia, Castellón und Alicante besteht.

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