Kommentar

Die Bilateralen und die Beitrittsperspektive

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsGret Haller ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE. ©

Gret Haller /  Es herrscht Verwirrung in der Schweiz, fast so wie 1992 nach dem EWR-Nein. Die Beitrittsperspektive wird heute unterschätzt.

Das damalige Umfeld ist diesbezüglich interessant. Die Schweiz bildete zusammen mit sechs anderen Staaten die EFTA, der sie heute noch angehört. Nachdem sich die 12 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf den Binnenmarkt geeinigt hatten, suchte die EG-Kommission nach Wegen, wie auch die EFTA-Staaten einbezogen werden könnten. Das Resultat war der Europäische Wirtschaftsraum EWR, dem sich die anderen sechs EFTA-Staaten anschlossen, wobei sie ihn aber offensichtlich nur als Durchgangsstation betrachteten. Vier EFTA-Staaten reichten 1992 ein Beitrittsgesuch zur Gemeinschaft ein, drei von ihnen bereits Anfang des Jahres. Dies bewog den Bundesrat zum selben Schritt. Für Finnland, Schweden und Österreich hatte der EWR genau ein Jahr Geltung, nämlich vom 1. Januar bis zum 31.Dezember 1994. Danach gehörten sie der Gemeinschaft an.

Was für die Schweiz nach dem EWR-Nein folgte, war eine diplomatische Meisterleistung. Sie schloss mit der Europäischen Union zahlreiche bilaterale Verträge ab, welche ihr den Zugang zum Binnenmarkt ebenfalls öffneten. Das war aber nur möglich, weil und nachdem sie ihr Gesuch um Beitrittsverhandlungen eingereicht hatte. Dieses ersetzte gleichsam die Beitrittsperspektive, welche die anderen EFTA-Staaten durch ihre Mitgliedschaft im EWR markierten. Daran änderte auch das Nein zum EU-Beitritt nichts, welches 1994 aus Norwegen und 2015 aus Island kam. Der EWR bleibt eine langfristige Durchgangsstation zum Beitritt.

In der Schweiz fanden die im Schatten des Beitrittsgesuches ausgehandelten bilateralen Verträge Zustimmung in verschiedenen Volksabstimmungen. Das Beitrittsgesuch galt als «eingefroren», aber in Brüssel lag es immer noch. Dass seit den Nuller-Jahren vergeblich versucht wurde, den Bundesrat zum Rückzug des Gesuches zu bewegen, blieb der EU natürlich nicht verborgen. Gedreht hat der Wind aber erst im Februar 2014 nach der Annahme der Volksinitiative über die Zuwanderung. Deren erst kürzlich offen deklarierte Absicht war es, den Bundesrat zur Kündigung des Freizügigkeitsabkommens zu zwingen.

Die EU ist ein berechenbarer Vertragspartner. Schon 2012 hatte sie der Schweiz gegenüber die Absicht geäussert, weitere Abkommen nur einzugehen, wenn der umfassende Rechtsrahmen institutionell abgesichert ist. Nach dem Februar 2014 wurde diese Forderung noch klarer formuliert. Dies ist verständlich, denn die EU kann heute nicht mehr sicher sein, dass es sich bei der Schweiz ebenfalls um eine verlässliche Vertragspartnerin handelt, wie es in den Anfängen des bilateralen Weges noch der Fall war.

Als EWR-Mitglied kann man sich der EU gegenüber allerhand leisten, auch eine Absage an den Beitritt wie Norwegen oder Island. Die Anbindung über den EWR genügt der EU als Grundlage der Zugehörigkeit zur europäischen Rechtsgemeinschaft. Wenn man ausserhalb des EWR bleiben will, wofür es heute gute Gründe gibt, sollte man dieser Zugehörigkeit in anderer Form Ausdruck geben. Zum Beispiel dadurch, dass man die Beitrittsperspektive wenigstens langfristig im Auge behält. Für den Erhalt der Bilateralen schafft dies die besseren Voraussetzungen. Ob die «chambre de réflexion», als die der Ständerat gelegentlich bezeichnet wird, den Entscheid des Nationalrates betreffend den formalen Rückzug des Beitrittsgesuches nochmals überdenken wird?

Ohne langfristige Beitrittsperspektive und ausserhalb des EWR tendiert die Schweiz zu einem gewöhnlichen EU-Drittstaat wie Kanada oder Japan. Der Gotthard-Durchstich, der im Juni gefeiert werden wird, ist technisch, finanziell und politisch sicher eine bemerkenswerte Leistung. Als Zeugnis für die Zugehörigkeit zur europäischen Rechtsgemeinschaft taugt er aber allein noch nicht.

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Dieser Beitrag ist erstmals als Editorial auf der Web-Seite der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE erschienen.

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Gret Haller ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE.

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Eine Meinung zu

  • am 7.04.2016 um 17:55 Uhr
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    Eidgenossen nehmen genüsslich die englischen EU-Austrittsgelüste zur Kenntnis. Viele wünschen sich sogar schadenfreudig ein Auseinanderfallen der EU. Sie wissen nicht mehr oder haben es als Junge gar nicht mehr erlebt, wie mühsam es für unsere Exportindustrie war, als alle umliegenden Länder noch eigene und zum Teil extrem schwankende Währungen hatten. Aber auch die Ferienreisenden hatten nach ein paar Jahren Reste von Franc, Lire, Schilling, Mark etc. zu Hause und wussten nicht wohin damit. Unsere für die Schweiz lebenswichtige Exportindustrie (ca. 60% gehen in die EU; der Handel der Gesamt-EU mit der Schweiz beträgt nur einige Prozent) hat tüchtig von der Einheitswährung EURO und der übrigen EU profitiert. Die EU hat aber noch viel mehr erreicht als nur einen erleichterten und zollfreien Binnenmarkt: Die Südstaaten hatten vor dem EU-Beitritt katastrophale Umweltverhältnisse, z.B. verkamen Seen und Flüsse zu stinkenden Gift- und Unrat-Gewässern. Die EU verpflichtete sie zu ähnlichen Umweltmassnahmen wie wir sie in der Schweiz gewohnt sind. Auch die Anforderungen an die Waren, z.B. der erlaubte Minimalgehalt an chemischen Zutaten in Lebensmitteln und die Deklarationspflicht etc. wurden verpflichtend festgelegt. All dies ganz im Sinne der Schweiz. Nur eben, die Schweiz wollte nicht beitreten – aber tüchtig von den neuen Vorteilen der EU und vom EURO profitieren. ohne Mitverantwortung zu übernehmen. Nicht ohne Grund wird der Schweiz daher «Rosinenpickerei» vorgeworfen.

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