Die Angst der EU-Regionen vor dem Brexit

Jürg Müller-Muralt /  Nordfrankreich zittert um Fischereiwirtschaft, Mallorca erwartet Tourismuseinbruch: regionale Auswirkungen des Brexit in der EU.

Der Brexit ist für alle Beteiligten eine Knacknuss. Das ist zum einen eine Binsenwahrheit und zum andern eine Untertreibung. Denn immer deutlicher zeigen sich auf allen Seiten die Kollateralschäden dieser Scheidung. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger hat jüngst erklärt, die Europäische Union brauche für die nächste mehrjährige Finanzperiode zusätzliches Geld. Neben neuen Aufgaben, etwa in den Bereichen Grenzschutz und Verteidigung, macht den EU-Finanzen vor allem das Ausscheiden Grossbritanniens zu schaffen: Bis zu 13 Milliarden Euro fehlen in der Brüsseler Kasse jährlich, wenn das Vereinigte Königreich als Nettozahler wegbricht.

Nervosität steigt

Viele Experten haben den kurzfristigen wirtschaftlichen Schaden unmittelbar nach dem Brexit-Entscheid zu hoch eingeschätzt, den langfristigen dagegen eher unterschätzt. Die britische Wirtschaft hat sich seit dem Austrittsreferendum 2016 recht widerstandsfähig gezeigt. Geholfen habe der globale Aufschwung, was zu mehr Export und höheren Investitionen geführt habe, schreibt der Economist in einer Analyse. Jetzt wachse jedoch die Unsicherheit, und die Konsumentenstimmung verschlechtere sich. In seinem Newsletter räumt Economist-Chefökonom Simon Baptist ein, man habe sich über die kurzfristigen Auswirkungen getäuscht: «Wir waren zu pessimistisch.» Doch in der zweiten Hälfte 2017 sei die Nervosität gestiegen, und die Investitionen gingen zurück.

Markante regionale Unterschiede

Die Aussichten verschlechtern sich allerdings nicht nur für die britische Wirtschaft. Der Brexit hinterlässt auch in den 27 verbleibenden EU-Staaten Spuren, allerdings je nach Region und nach der Ausgestaltung der Austrittsmodalitäten sehr unterschiedliche. Während in Grossbritannien und auch in Irland fast alle Regionen ähnlich stark in Mitleidenschaft gezogen werden, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen auf dem Kontinent geografisch sehr ungleich verteilt. Speziell zu spüren bekommen den Brexit viele Regionen in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Dies geht aus einer Studie hervor, welche im Auftrag des Europäischen Ausschusses der Regionen erstellt worden ist.

Erhebliche Exporteinbrüche

Die Studie zeigt, wie stark bestimmte Regionen und Städte innerhalb der EU mit der britischen Wirtschaft verflochten sind und welche Auswirkungen der Brexit auf sie haben könnte. Die Informationsplattform Politico bringt einige Beispiele. So ist Grossbritannien für Berlin der fünftwichtigste Handelspartner, für Bremen gar der drittwichtigste. Für Zypern wiederum steht UK an zweiter Stelle, sogar auf Platz eins in den Bereichen Dienstleistung, Investitionen und Schifffahrt. Die polnische Provinz Lublin befürchtet erhebliche Exporteinbrüche bei der Landwirtschaft. Ähnliche Sorgen plagen auch die spanische Provinz Murcia, die 75 Prozent ihrer landwirtschaftlichen Produkte ins Vereinigte Königreich exportiert.

Nordfrankreich besonders exponiert

Entscheidend ist für viele Gebiete, ob es einen harten oder einen geregelten Brexit geben wird. Kommen neue Handelsverträge, könnten die Jobverluste in der belgischen Region Flandern auf «bloss» 10’000 limitiert werden. Ein harter Brexit dagegen würde dort gemäss den lokalen Behörden bis zu 42’000 Arbeitsplätze kosten.
Besonders exponiert ist Nordfrankreich, das enge wirtschaftliche Beziehungen zu Britannien unterhält. In der Region Hauts-de-France, wo Präsident Emmanuel Macron geboren wurde, macht man sich vor allem im Automobilsektor Sorgen, der stark vom Export auf die nahe gelegene Insel abhängig ist. Gross sind auch die Befürchtungen in der Fischereiindustrie. Wenn Grossbritannien die gemeinsame EU-Fischereipolitik verlässt und möglicherweise den Zugang zu den britischen Fischereigebieten sperrt, trifft das verschiedene küstennahe Regionen sehr hart, namentlich in Frankreich. In Hauts-de-France liegt der grösste Fischereihafen Frankreichs, Boulogne-Calais, gleichzeitig das wichtigste europäische Zentrum für die Verarbeitung von Meeresprodukten. Ein harter Brexit könnte tausende von Arbeitsplätzen vernichten. Ähnliche Befürchtungen hegt man auch in den Niederlanden.

Sorgen wegen Rückwanderung

Die spanische Region Andalusien macht sich Sorgen wegen der grossen Zahl von Menschen, die im nahe gelegenen britischen Territorium Gibraltar arbeiten. Gegen 60 Prozent der spanischen Arbeitnehmenden in Gibraltar könnten betroffen sein. Ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen werden könnte der Tourismus: Die Balearen sind eine bei den Britinnen und Briten sehr beliebte Feriendestination. Und dann sind da noch die Sorgen mit der möglichen massenhaften Rückwanderung aus Grossbritannien. Verschiedene Regionen befürchten einen markanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, sollten viele ihrer in England tätigen Mitbürgerinnen und Mitbürger rasch und in grosser Zahl zurückkehren müssen.

Brisante Resultate für Verhandlungen

Die Resultate dieser Untersuchung könnten die Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien in nicht geringem Masse beeinflussen. Bisher haben die 27 verbleibenden EU-Staaten bei den Brexit-Verhandlungen eine gemeinsame Haltung eingenommen. Doch das dürfte sich ändern, wenn es um Themen geht, in denen die Mitgliedstaaten – oder eben einzelne Regionen innerhalb der Mitgliedstaaten – unterschiedliche wirtschaftliche Interessen vertreten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Brexit_Flickr_Muffinn_

Der lange Weg des Brexit

Austrittsverhandlungen bis zum Austritt aus der EU erschüttern sowohl das Königreich als auch die EU.

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2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 15.01.2018 um 11:51 Uhr
    Permalink

    Ein Beispiel für die viel zitierten «diffusen Ängste», insofern besonders für Mallorca wohl wenig zu befürchten ist. Gibt es Schweizer, die nicht in Mallorca Ferien machen, bloss weil wir nicht der EU angehören?

  • am 15.01.2018 um 12:53 Uhr
    Permalink

    Y2K Bug ! Toujours et partout !

    Les prévisions et commentaires qui, à la fin des années 90, ont déferlé à propos du «Bug de l’an 2000» (Y2k Bug) ont montré jusqu’à la caricature que ce qui allait devenir des «fake news» (nb: déjà présentes dans la Guerre des Gaules de Jules César !) était une substance universellement diffusée, comme l’azote dans l’air.

    Les anticipations négatives (»…oh, ça ne marchera pas», »…ah, vous allez perdre de l’argent», »… hoou..le ciel nous tombera sur la tête") sont une constante dans tous les milieux qui bénéficient d’une rente de situation – et donc la défendent bec et ongles contre tout changement. Milieux ? On peut parler de cartels.

    De fait, les baleines annoncées finissent le plus souvent en sardines et les ouragans en modestes zéphyrs. Le bon peuple et ses médias adorent poivrer leur existence en se faisant peur; c’est bien connu.

    S’agissant du Brexit, on peut dire sans hésiter: «Much Ado About Nothing» (Shakespeare, 1600). Tout au moins : beaucoup de bruit(s) pour pas grand chose.
    Juste un point: un retrait anglais va-t-il changer un iota à cette monumentale idiotie glyphosatée qu’est la politique agricole commune ? Nenni.
    Le reste à l’avenant. Le Brexit n’est pas un inverse de l’Anschlus de 38.

    Alors: keep cool, please.

    Gil Stauffer – 2300

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