Sperberauge
Den Krieg wieder denkbar machen
Es ist «falsch, militärische Massnahmen kategorisch zu tabuisieren», findet Hanns W. Maull. Es gehöre zu den «ärgerlichen Gemeinplätzen der aussenpolitischen Debatte um die Ukraine-Krise in Deutschland», dass es keine «militärischen Alternativen» zu «diplomatischen oder politischen Lösungen» gebe. Maull war Professor für Aussenpolitik und forscht derzeit für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die Stiftung ist Europas grösster Think-Tank und berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik. Deshalb ist es nicht ganz belanglos, was Hanns W. Maull von sich gibt.
Alle diplomatischen und politischen Lösungen würden nicht ausschliesslich, «aber doch wesentlich durch die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten bestimmt». Nach einem Verweis auf die Appeasement-Politik der Westmächte von 1938 folgert er: «Für die internationalen Beziehungen heute heisst dies, dass militärische Schutzmassnahmen bis hin zur Gewaltandrohung und sogar zur Gewaltanwendung durchaus Bestandteil politischer Lösungen sein können». Es sei «schlicht falsch und möglicherweise gefährlich, in der gegenwärtigen Krise jegliche Form der militärischen Reaktion als Schritt in die Eskalation, ja als Kriegstreiberei zu brandmarken».
Abgesehen vom historisch völlig unzulässigen Vergleich der Vorgänge von 1938 und 2014: Militärische Schritte durch den Westen fallen in der Ukraine-Krise nebst anderen Gründen schlicht deshalb ausser Betracht, weil sich sonst die beiden grössten Atommächte USA und Russland faktisch in direkter Konfrontation gegenüberstünden. Es gibt keine Garantie, dass ein grösserer militärischer Konflikt in Europa unterhalb der atomaren Schwelle bliebe; deshalb ist er auch nicht führbar. Carl von Clausewitz‘ Sentenz, wonach der Krieg «eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» sei, wird den heutigen komplexen Verhältnissen nicht mehr gerecht. Wenn Deutschlands renommierteste Denkfabrik dieser eindimensionalen Konfliktlogik Raum gibt, ist das alarmierend.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Und wo ziehen Sie die sprichwörtliche Rote Linie, Herr Müller-Muralt? Moldawien? Estland? Finnland? Polen? Natürlich lässt sich 1938 nicht mit heute vergleichen, nur: was tun mit einem Staat, der nachweislich 2009/2013 (Zapad-2009 bzw. 2013) den Angriff auf das Baltikum und Polen – auch mit nuklearer Option – geübt hat? Die Hände in den Schoss legen und abwarten, die Unabhängigkeit verlieren und den Blutzoll tragen werden die anderen?
Herr Müller-Muralt ist ein gebildeter Publizist, das zeigt nicht nur der Verweis auf Clausewitz. Nur soll man beim Begriff Krieg den Wirtschaftskrieg nicht vernachlässigen. Wasso war schon etwa ein britischer Falklandkrieg im Vergleich zu den Hungertoten zahlreicher Sanktionskriege? Und zwischen den USA und der früheren Sowjetunion gab es immerhin zahlreiche sogenannte Stellvertreterkriege, es kommt auch gar nicht darauf an, wer am Maschinengewehr usw. abdrückt, sondern wer es und warum und zu welchem Ende liefert und so diesen Krieg führen lässt.
Wer das vermeintlich Undenkbare nicht denken will, fördert dessen Realisierung. Das weiss Herr Müller-Muralt wohl auch als mutmasslicher Leser von Günter Anders, dem Worst-Case-Philosophen, jüdischen Heidegger-Schüler, Brecht-Kritiker und Exmann von Hannah Arendt.
PS.
Wenn die USA mit Drohungen eine Schweizer Grossbank hochgehen lassen könnten, ist das mindestens so Krieg, wenigstens was die 3 Faktoren betrifft a) Geld b)Geld und c)Geld, wie wenn sie einen vielleicht bald sowie nicht mehr zu benützenden Schweizer Militärflugplatz zum Spass ein bisschen bombardieren würden.
Es muss heissen: Was war schon etwa ein britischer Falklandkrieg im Vergleich zu den Hungertoten zahlreicher Sanktionskriege?
Krieg? Ach was! Sie zitieren ja selbst: «militärische Schutzmassnahmen» o.s.ä. sagt man dem heute; und nicht erst heute: Seit die Kriegsminister Verteidigungsminister und wohl schon bald Friedensminister heissen, gibt es keine Kriege mehr, schon gar nicht «von deutschem Boden aus»; bloss «friedenserhaltende Massnahmen» zum «Schutz der Menschenrechte». «Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen» (Schröder, nachdem er Serbien – nach der dritten deutschen Kriegserklärung im selben Jahrhundert – bombardieren liess). Oder Herzog: «Wir müssen bereit sein, militärische Macht einzusetzen.» Und Cohn-Bendit: «Ich wünsche mir, dass die Grünen eine Strategie zu einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die auch militärische Interventionsmöglichkeiten beinhaltet.» Und Rühe: «Mit Herrn Akashis anderthalb Bömbchen wird das nicht abgehen.» usw. usf. Alles rund zwanzig Jahre her und aktuell wie immer, wenn die Deutschen «keine Parteien mehr kennen».