Europa im heiklen Clinch zwischen den USA und China
Die Zeit drängt. Europa – wie auch der Rest der Welt – muss reagieren auf die Rivalität zwischen China und den USA und die neuen globalen Verhältnisse, folgern Elvire Fabry und Giorgio Gugliotta vom Jacques Delors-Institut «Notre Europe» in ihrer Studie «Europe’s response to the Sino-American rivalry». Sie beschreiben und analysieren, wie die Rivalität zwischen den USA und China die Natur der Globalisierung ändert und wie Europa davon betroffen wird (siehe 1. Teil: «Blockalisierung statt Globalisierung: Vereint gegen China»).
«NextGenerationEU», «RePowerEU», «A Green Deal Industrial Plan for the Net-Zero Age». Das sind nur drei einer viel grösseren Zahl neuer Initiativen, mit denen die Europäische Union seit der Pandemie ihre gemeinsame Wirtschaft stärken und neu ausrichten will. Mit «NextGenerationEU» soll Europa gesünder, grüner und digitaler werden, mit «RePowerEU» sich von den fossilen Energieträgern aus Russland entkoppeln und eine nachhaltige Energieversorgung sichern, mit dem «Green Deal Industrial Plan for the Net-Zero Age» die staatlichen Beihilfevorschriften lockern, um die Produktion klimafreundlicher Technologien zu fördern mit dem Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein.
Das ist noch längst nicht alles, was sich die EU als Reaktion auf die Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die grossen Herausforderungen von Klimawandel bis Digitalisierung vornimmt. Beschlossen sind auch ein «Europäisches Chips-Gesetz», eine «Batterie-Richtlinie», ein «Fit for 55»-Paket, ein Gesetz über «kritische Rohstoffe», ein CO2-Grenzsteuerausgleich zur Abwehr klimaschädlicher Importe und mehrere neue handelspolitische Abwehrinstrumente zum Schutz vor unfairem Wettbewerb.
Die EU rüstet auch finanziell auf. Mit dem Programm «NextGenerationEU» im Umfang von 800 Milliarden Euro setzte sie die Wirtschaft nach dem durch die Pandemie verursachten Einbruch wieder in Gang. Jetzt wird über die Schaffung eines Souveränitäts-Fonds diskutiert und gerungen.
Abrücken vom «Free flow»
Die Zeit eines möglichst offenen und auf Wettbewerb getrimmten Binnenmarktes und des Glaubens an selbstregulierende Märkte ist vorüber. Es soll sich nicht wiederholen, was nach der grossen Finanz- und Bankenkrise 2008/09 geschah, als der wirtschaftliche Absturz erst nach acht Jahren wieder wettgemacht war und das Vertrauen in die EU auf einen historischen Tiefpunkt absackte. «Wir haben aus der Finanzkrise gelernt», erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2021 in ihrer «State of the Union»-Rede. Mit dem «NextGenerationEU»-Finanzprogramm wurde der pandemiebedingte Wirtschaftseinbruch schon nach zwei Jahren wettgemacht.
Doch der EU geht es um mehr, als nur die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. «Strategische Autonomie», «europäische Souveränität» oder «geopolitisches Europa», heisst es abwechselnd und meint: weniger Abhängigkeit von aussen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat 2017 in seiner denkwürdigen Rede an der Sorbonne für eine europäische Souveränität plädiert und für ein Europa, das Schutz bietet. Ursula von der Leyen meldete in ihrer ersten Rede zur Lage der Union im Herbst 2021 den Anspruch einer «geopolitischen Kommission» an und meinte, dass die EU «die Sprache der Macht» lernen müsse. War «strategische Autonomie» lange Zeit nur in der Verteidigungs-, Sicherheits- und auswärtigen Politik das Ziel, so strebt es die EU es jetzt auch industrie- und handelspolitisch, klima- und energiepolitisch sowie über internationale Partnerschaften an.
Grosse Verletzlichkeit
Es brauchte die Pandemie und den Krieg in der Ukraine, damit «strategische Autonomie» mehr als nur ein Versprechen wurde. Die beiden Krisen haben die EU gelehrt, dass wirtschaftliche Interdependenzen sich schlagartig als Dependenzen herausstellen. In der Pandemie fehlten plötzlich Masken, aber nicht nur. Lieferketten wurden gestört. Es wurde der EU bewusst, dass zwei Drittel der Importe pharmazeutischer Wirkstoffe aus China und Indien stammen. Mit dem Krieg in der Ukraine wurde die einseitige Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl zur Falle. Und wenn mit der Dekarbonisierung die Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern abnimmt, droht an deren Stelle die Abhängigkeit von den für die Energiewende erforderlichen Rohstoffen Kobalt, Kupfer, Nickel und Lithium aus fernen Ländern und insbesondere aus China.
Zwei Drittel der Produktionskapazitäten für die für viele Anwendungen unverzichtbaren Lithium-Ionen-Batterien befinden sich in China. Die EU erzeugt nur ein Prozent aller Rohstoffe, die für die Produktion von Batterien erforderlich sind. Sie bezieht 98 Prozent ihres Bedarfs an seltenen Erden aus China, 71 Prozent ihres Bedarfs an Platin aus Südafrika. Das Reich der Mitte verfügt bei den Solarpanels über einen Marktanteil von 75 Prozent, die EU hingegen von nur noch knapp drei Prozent.
Die EU kann nicht anders. Sie muss sich weniger von den Launen anderer Länder abhängig machen. Hinzu kommt der Wettkampf der Giganten USA und China, zwischen denen Europa sich positionieren muss.
USA und China distanzieren sich vom Freihandel
Die USA und China rücken ab von den bisher geltenden Freihandelsregeln. Doch sie tun es auf verschiedene Art. China macht es weniger offensichtlich und nicht in direktem Bruch mit den WTO-Regeln. Es verstösst gegen deren Geist, indem es staatlich-kontrollierte Unternehmen grosszügig unterstützt und sich beliebig bei den ins Land geholten Technologien westlicher Herkunft bedient. Gleichzeitig wehrt es sich dagegen, über bindende Regeln für staatliche Beihilfen und für die Regulierung staatlich-kontrollierter Unternehmen zu verhandeln.
Die USA umgekehrt verstossen mit protektionistischen Massnahmen offen gegen WTO- Regeln. Sie behandeln einheimische und ausländische Unternehmen verschieden, bauen neue Zollschranken auf, betreiben Industriepolitik, um die Produktion zurück ins Land zu holen. Sie gehen zugleich auf Distanz zur WTO. Ein Schiedsgerichtsurteil gegen Stahl- und Aluminiumzölle hatte Donald Trump mit der Begründung zurückgewiesen, dass es nicht an der WTO sei, sich in US-amerikanische Sicherheitsfragen einzumischen.
Was unter Donald Trump begann, führt Joe Biden fort; er geht noch darüber hinaus. Er rückt gezielt vom Freihandel ab und tritt für einen «Handel für die Mittelklasse» ein. Damit reagiert er auf zwei zusammenhängende Entwicklungen. Er will die Arbeiterschaft in den traditionellen Industriezweigen zurückgewinnen, die durch den Handel mit Billigprodukten aus chinesischen Fabriken ihre Jobs verloren und sich politisch von den Demokraten abgewandt haben. Gleichzeitig reagieren die USA auf den rasanten technologischen Aufstieg Chinas als neuer grosser Herausforderer und Wettbewerber. Die USA wollen ihre Führungsrolle behaupten.
Europa in der Klemme
Das industriepolitische Abrücken von WTO-Regeln hat für Europa mehr als nur einen bitteren ordnungspolitischen Beigeschmack. Gravierend sind die wirtschaftlichen Folgen des im August von den USA beschlossenen «Inflation Reduction Act», der eigentlich ein «Import Reduction Act» ist. Denn er zielt weniger gegen die Inflation, wie der Name irreführend suggeriert. Das Gesetz will vielmehr den Import reduzieren. Es bevorteilt heimische gegenüber ausländischen Produzenten von «grünen Gütern» und stellt dafür Begünstigungen im Umfang von nicht weniger als 369 Milliarden Dollar bereit. Um einen direkten Verstoss gegen die WTO-Regeln und damit allfällige Klagen zu vermeiden, werden nicht die Zölle erhöht, sondern über Subventionen und Steuervergünstigungen in den USA ansässige Produzenten von Batterien, Elektroautos und anderen zukunftsträchtigen Technologien bevorteilt.
Europa wurde vom «Inflation Reduction Act» völlig überrascht. Die EU brauchte mehrere Monate, bis sie sich gegen Ende 2022 mit der Bitte um Korrekturen und Zugeständnisse für europäische Unternehmen an die USA wandte. Gebracht hat es wenig.
Die USA und die EU verhandeln zwar im «Transatlantischen Handels- und Technologierat – TTC» über die Zusammenarbeit in Handels-, Technologie- und Sicherheitsfragen. Der Rat diskutiert allerdings nicht über die Diskriminierung europäischer Unternehmen auf dem US-amerikanischen Markt. Seine Themen sind vielmehr die transatlantische Abstimmung bei den Sanktionen gegen Russland und bei den Export- und Investitionskontrollen gegenüber China. Es geht um «de-coupling» oder «de-risking». Soll sich der Westen möglichst weitgehend abkoppeln von China und Russland oder im Falle Chinas nur die mit den grossen Abhängigkeiten verbundenen Risiken stark reduzieren?
Die USA wollen die EU einbinden in ihrem geo-ökonomischen Wettstreit mit China über die technologische Vorherrschaft. Selbst transatlantisch orientierte Stimmen wie Jeremy Shapiro und Jana Puglierin vom European Council on Foreign Relations bezeichnen das Vorhaben als die «derzeitige Vasallisierung» Europas durch die USA. Deutschland und Frankreich als wirtschaftlich bedeutendste EU-Länder wissen um die Risiken einer schnellen Abkoppelung vom grossen Markt China. Selbst «de-risking» ist für sie riskant. Die niederländische Handelsministerin Liesje Schreinemacher warnte jüngst gar: «Europas grüner Übergang wird ohne China nicht möglich sein».
Auf dem Weg zu strategischer Autonomie
Die Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die sich zuspitzende Rivalität zwischen den USA und China haben Europas Schwächen schmerzlich offengelegt. Die EU reagierte mit zahlreichen Initiativen, Programmen und Richtlinien. Die Abhängigkeit von russischen Energieträgern wurde stark abgebaut, der Abbau der Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen soll folgen. Die EU will 2030 für rund 40 Prozent ihres Lithium-Bedarfs selber aufkommen. Der Anteil von Recycling in der Produktion von Batterien soll massiv erweitert werden. Das «Fit for 55»-Programm wird den Preis auf CO2-Emmissionen markant, wenn auch schrittweise erhöhen und soll bis 2030 deren Reduktion um 55 Prozent möglich machen. Eine CO2-Grenzabgabe auf Produkte wie Düngemittel, Elektrizität, Wasserstoff, Zement sowie Produkte aus Aluminium, Eisen und Stahl tritt auf nächsten Oktober mit zweijähriger Übergangsfrist in Kraft. Sie soll importierte Waren in Bezug auf die CO2-Kosten mit den Produkten in der EU gleichsetzen.
Schon vor zehn Jahren hat sich die EU «strategische Autonomie» zum Ziel gesetzt. Zuerst blieb es auf die gemeinsame Verteidigung beschränkt, wurde aber bald umfassender vorgegeben auch für Industrie- und Handels-, Klima- und Energiepolitik. Geschehen ist wenig.
Das soll sich ändern. Unter wachsendem Druck von aussen wird die EU mehr dazu gedrängt, als dass sie es selber geschafft hätte. Wie warnte doch selbst EU-Kommissions-Vizepräsident Josep Borrell schon vor dem Krieg in der Ukraine: «Wenn wir jetzt nicht gemeinsam handeln, werden wir irrelevant.»
Europäische Industriepolitik und die Schweiz
In der Publikation «Hinausschauen» blicken 26 Autorinnen und Autoren des «Forum Aussenpolitik – foraus» auf «26 globale Entwicklungen und die Schweiz», darunter zu den Themen «Strategische Autonomie: wie die EU unbemerkt geopolitisch wird», «Spannungen zwischen den USA und China destabilisieren die internationale Ordnung», «Geopolitische Verwerfungen einer neuen Energiepolitik», «Die Rückkehr der Industriepolitik», «Doch etwas Wandel durch Handel». Gefragt wird immer, was diese Entwicklungen für die Schweiz bedeuten? Wird die Industriepolitik der EU negative Auswirkungen auf die Schweiz haben? Kann die Schweiz gegenüber einer EU, die zunehmend Blockinteressen durchsetzt, noch eine eigenständige Aussenpolitik verfolgen? Welche Handlungsoptionen verbleiben der Schweiz angesichts der Grossmachtrivalität zwischen den USA und China? Braucht auch die Schweiz eine Industriepolitik, um allfällige Marktverzerrungen auszugleichen? Die Publikation bietet keine Antworten. Ihr Verdienst liegt darin, dass sie mit den bisher in der Schweiz verdrängten Fragen frühzeitig Diskussionen anregt, bevor das Land erneut unter Nachvollzugs-Zwang gerät. .
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
«…Europa soll gesünder, grüner und digitaler werden….»
Schon diese drei Ziele beissen sich irgendwie…eines der vielen Dilemmas der weit entwickelten und aufgeklärten Industrieländer….
Das Ziel Unabhängigkeit ist meines Wissens kein taugliches Strategisches Ziel – wenn man (nach Michael Porter) davon ausgeht, dass eine Strategie dem Zweck dienen muss, die Werte / den Wert eines «Unternehmens» zu maximieren. Unabhängigkeit per se führt m.E. nicht zu irgendeiner Wert-Steigerung der Volkswirtschaften? Im Gegenteil, weil es – als strateg. Ziel – nur Geld kostet, Produkte nicht wettbewerbsfähiger macht? Eine Competitive Strategy hieße für mich konkret Branchen/Produktschienen pushen & Neue aufbauen, mit Alleinstellungsanspruch (Comp.Advantage) UND eben unabhängig, wenn es denn ein polit. Ziel ist … Das ist eine schwierige Übung, weil es schon sehr spät ist. Aber aber dennoch ist es «nur» strateg. Handwerk z.B. Japan, China, Malaysia haben es höchst erfolgreich vorgemacht! Klassisch quasi – Alleinstellungsmerkmale generieren oder/und Bestehende nutzen usw. Die besten Grüße M.Schön