EU-Wahl: NGOs kritisieren intransparente Werbung
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2024 war ein Super-Wahljahr: Rund die Hälfte der Weltbevölkerung war aufgefordert, eine neue Regierung zu wählen. Viel wurde dabei über die Rolle von Sozialen Medien diskutiert, zuletzt über vermutete russische Einflussnahme via Tiktok in Rumänien. Auch das Europaparlament wurde in diesem Jahr neu gewählt. Welche Rolle im EU-Wahlkampf Online-Werbung und politisches Targeting auf wichtigen Social-Media-Plattformen gespielt haben, hat in den vergangenen Monaten die Bürgerrechtsorganisation «Civil Liberties Union for Europe» zusammen mit anderen NGOs untersucht.
Grundlage für den kürzlich veröffentlichten Bericht sind detaillierte Untersuchungen des Social-Media-Wahlkampfs in sechs EU-Ländern, die von Nichtregierungsorganisationen in Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen und Ungarn durchgeführt wurden. Als technischer Partner unterstützte die britische NGO «Who Targets Me» die Forschung. Sie stellt ein Browser-Tool bereit, mit dem Menschen automatisiert Werbeanzeigen aus ihrem Facebook-Feed erfassen lassen und den Forscher:innen als Datenspende zur Verfügung stellen können.
Im Fokus der Untersuchung stehen Youtube und Facebook. Letzteres ist aufgrund seiner riesigen Nutzer:innenschaft und der umfangreichen Optionen, Personen zielgerichtet Anzeigen auszuspielen, laut dem Bericht noch immer die wichtigste Plattform für den digitalen Wahlkampf. Andere Plattformen konnten aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Daten bei der Analyse nicht einbezogen werden. X (ehemals Twitter) beispielsweise sieht sich gerade mit einem Aufsichtsverfahren der EU-Kommission konfrontiert, weil es Anforderungen an die Werbetransparenz nicht erfüllt. Tiktok wiederum erlaubt gar keine Wahlwerbung – zumindest offiziell, denn der chinesische Plattformkonzern Bytedance hat Probleme, diese Regel konsequent durchzusetzen.
Insgesamt warnt die Civil Liberties Union davor, dass intransparentes Targeting bei politischer Werbung die Integrität des demokratischen Diskurses gefährdet. Die Nichtregierungsorganisation empfiehlt daher eine drastische Beschränkung der Targeting-Möglichkeiten, mehr Transparenz von Parteien und Plattformen sowie eine stärkere Durchsetzung und Harmonisierung von EU-Regeln.
Bis zu 500 unterschiedliche Zielgruppen
Etwa 350 Millionen Menschen waren im Juni 2024 zur Wahl eines neuen Europaparlaments aufgerufen. Die EU hat dabei einen drastischen Rechtsruck erlebt, im neuen EU-Parlament sind konservative, nationalistische und antidemokratische Kräfte so stark wie nie.
Die Erklärung hierfür allein in Social Media zu suchen, wäre verkürzt. Doch politisches Targeting steht aufgrund des hohen Manipulationspotenzials und Datenschutzbedenken seit langem in der Kritik. Die Berliner Datenschutzbeauftragte Meike Kamp hatte vor der EU-Wahl deshalb die deutschen Parteien aufgefordert, auf Targeted Advertising zu verzichten – ohne Erfolg. Den Untersuchungen der NGOs zufolge setzten bei der EU-Wahl Parteien des gesamten politischen Spektrums in erheblichem Masse auf zielgerichtete Werbung in Social Media.
Insbesondere zwei Targeting-Werkzeuge von Facebook gehören inzwischen zum Standard-Repertoire der politischen Werbung: sogenannte Custom Audiences und Lookalike Audiences. Bei der erstgenannten Werbeform stellen die Werbetreibenden benutzerdefinierte Zielgruppen zusammen, zum Beispiel anhand von Likes für die Facebook-Seite einer Partei oder von Interaktionen mit bestimmten Posts. Werbetreibende können zudem Listen mit eigenen Mailadressen oder Telefonnummern nutzen, um zum Beispiel Unterstützer:innen auf der Plattform gezielt ansprechen zu können.
Lookalike Audiences wiederum erlauben es beispielsweise, Zielgruppen zusammenstellen, die ihrem Datenprofil nach genau denjenigen Gruppen entsprechen, die bereits Fans der Partei sind. Ein Werbetreibender kann bis zu 500 verschiedene Custom Audiences bespielen. Die «Civil Liberties Union» warnt, dass beide Targeting-Instrumente dafür genutzt werden können, jeweils unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Versprechen zu umwerben. Im Bundestagswahlkampf 2021 hatte beispielsweise die FDP unterschiedliche Aussagen zum Thema Klimaschutz ausgespielt, je nach vermuteter Affinität der Zielgruppe.
Auch das Targeting anhand von Alter und Interessen habe bei der EU-Wahl eine grosse Rolle gespielt, so der Bericht. Facebook hatte auf politischen Druck hin 2022 zumindest die Möglichkeit eingeschränkt, detailliertes Targeting mit sensiblen Daten vorzunehmen. Google war noch weiter gegangen und hatte bei der EU-Wahl die Targeting-Möglichkeiten deutlich eingeschränkt. Auf Google-Diensten wurde die Zielgruppen-Auswahl nur noch anhand von Geografie, Alter, Geschlecht sowie Kontext-Targeting angeboten, also zum Beispiel Werbung bei bestimmten Suchbegriffen oder Videoformaten. Die Civil Liberties Union begrüsst diese Einschränkung sehr, kritisiert aber, dass das Targeting nach Geschlecht weiter möglich sei.
Die bulgarische Nichtregierungsorganisation «BHC» hatte mehrere Fälle gefunden, in denen politische Werbetreibende nach Geschlecht unterschieden und bestimmte Inhalte zum Thema Kindergesundheit nur an Frauen ausgespielt hatten. «Männer und Frauen sollten gleichermassen über die Haltung einer bestimmten Partei zur Gesundheit von Kindern informiert sein», fordert deshalb die «Civil Liberties Union». Ausserdem sollten alle Menschen die gleichen Versprechen erhalten, egal ob ihre Unterstützung für eine Partei als gesichert, möglich oder unwahrscheinlich angesehen wird.
«Wir wissen es schlicht nicht»
Die gute Nachricht, zumindest in Relation: Im Vergleich zur US-Wahl im Herbst scheint das Ausmass der manipulativen Wahlwerbung in Europa deutlich geringer ausgefallen zu sein. In den USA hatten insbesondere die republikanische Partei und Pro-Trump-Organisationen mit gezielten Desinformations- und Demobilisierungskampagnen gegen die demokratische Bewerberin Kamala Harris Stimmung gemacht. Die Plattformen haben diese Strategien mit ihren umfangreichen Targeting-Möglichkeiten verstärkt und dabei wenig gegen Lügen und Hass unternommen.
So schaltete beispielsweise eine von Elon Musk mitfinanzierte Organisation unterschiedliche Werbeanzeigen zum Nahostkonflikt bei arabischen und jüdischen Communitys im Land. Die Anzeigen gaben sich dabei als Werbung von Harris-Unterstützer:innen aus und stellten die Politikerin mal als glühende Palästina-Verfechterin und mal als beinharte Israel-Unterstüzerin dar, deren Nahost-Politik überwiegend von ihrem jüdischen Ehemann bestimmt werde. Andere Werbeanzeigen verbreiteten falsche Wahlversprechen der Politikerin.
Derart undemokratische Wahlwerbung ist den Nichtregierungsorganisationen bei der EU-Wahl nicht untergekommen. Das sei allerdings kein Grund zur Entwarnung, meint Orsolya Reich von der «Civil Liberties Union». Die Exzesse unfairer Wahlkampftaktiken in den USA liessen sich zum einen mit landesspezifischen Faktoren wie dem polarisierten Wahlsystem erklären. Zum anderen fehle aufgrund der Intransparenz von Plattformen und Parteien die Datengrundlage, um mit Sicherheit sagen zu können, wie der EU-Wahlkampf auf den Plattformen eigentlich gelaufen sei.
«Wir wissen schlicht nicht, wie ausgefeilt, unfair oder manipulativ das Targeting in Europa ist», kritisiert Reich die Intransparenz der beteiligten Akteur:innen. Politische Parteien seien grundsätzlich nicht bereit, ihre Kampagnenmethoden öffentlich zu machen. Social-Media-Plattformen würden nicht erklären, nach welchen Kriterien Werbetreibende ihre Zielgruppen zusammenstellen und wie die Algorithmen funktionieren, die darüber entscheiden, wer auf ihrer Plattform was zu sehen bekommt.
Kritik an Intransparenz
Zwar stellen Alphabet und Meta wie von der EU vorgeschrieben Datenbanken bereit, in denen Werbeanzeigen auf ihren Plattformen dokumentiert werden. Ausserdem halten sie getrennte Verzeichnisse für politische Werbung vor. Allerdings lasse die Informationstiefe und Benutzerfreundlichkeit der Werbebibliotheken stark zu wünschen übrig, so die Kritik der Nichtregierungsorganisationen.
Bei Googles Werbedatenbank fehle beispielsweise eine Stichwortsuche. Nutzer:innen müssen stattdessen den genauen Namen der Werbetreibenden angeben, um illegitime Aktivität aufdecken zu können. «Diese Einschränkung behindert massiv die Fähigkeit, ein breites Spektrum an politischer Werbung wirksam zu überwachen und zu analysieren.»
Metas Werbebibliothek biete mit einer Stichwortsuche und unterschiedlichen Filtermöglichkeiten eine deutlich bessere Funktionalität. Allerdings biete die Datenbank zu wenige Informationen zu den Targeting-Kriterien, nach denen Werbetreibende die Zielgruppen zusammengestellt haben. So werde zwar angegeben, dass eine Anzeige in mehreren Versionen unter Verwendung von Custom-Audience-Listen geschaltet wurde, nicht jedoch, welcher Art diese Listen sind. Also: Ob sie zum Beispiel mit eigenen Daten der Werbetreibenden oder aus Nutzerinteraktionen wie dem Liken einer Fanpage erstellt wurden.
Ausserdem kritisiert «Liberties», dass Meta aggregierte Targeting-Daten für einen bestimmten Werbetreibenden nur 90 Tage lang verfügbar macht, was die Nachforschungsmöglichkeiten einschränke. Auch die von Facebook angebotene Funktion «Warum sehe ich diese Anzeige?» sei irreführend. Anstatt Einblicke in aussagekräftigere Targeting-Kriterien zu bieten, liste die Funktion in der Regel oberflächliche Informationen wie Stadt und Alter auf. «Diese Auslassung verschleiert die wichtigeren Faktoren, die Einfluss darauf haben, wie Anzeigen ausgeliefert werden, und schränkt die Transparenz für Nutzer und Forscher gleichermassen ein», kritisiert der Bericht. Nutzer:innen werde unterdessen suggeriert, die Infos seien vollständig.
EU muss Regeln besser durchsetzen
Insgesamt sehen die Nichtregierungsorganisationen den demokratischen Diskurs und somit auch die Integrität von Wahlen durch das intransparente Targeting weiterhin gefährdet. Sie appellieren deshalb an die Europäische Union, bestehende Regeln effektiv durchzusetzen und, wo nötig, nachzubessern.
Mit Blick auf die Wirksamkeit der bestehenden Vorgaben kommt der Bericht zu einem durchwachsenen Urteil. Demzufolge gehen die «Civil Liberties Union» und ihre Partnerorganisationen davon aus, dass beispielsweise beim Einsatz von Metas Custom-Audience-Funktion regelmässig gegen Datenschutzrecht verstossen wird. Bürger:innen müssten schliesslich explizit eingewilligt haben, damit Parteien ihre Daten mit Meta teilen dürfen. Das Erstellen von Custom Audiences auf Basis von Likes für politische Inhalte wiederum verstösst nach Ansicht der NGOs gegen den Schutz der DSGVO für besonders sensible Daten.
Angesichts der Mängel bei der Transparenz über das politische Targeting sehen die NGOs auch Handlungsbedarf beim Digital Services Act. Die EU müsse hier bei Tech-Konzernen für eine strikte Durchsetzung der Vorgaben sorgen. Der Bericht empfiehlt der EU ausserdem, insbesondere grosse Plattformen und Suchmaschinen zu mehr Transparenz über die Algorithmen zu zwingen, die für die Auslieferung der Werbung zuständig sind.
Eine 2023 verabschiedete EU-Verordnung, die das Targeting und die Transparenz politischer Werbung regelt, wird grösstenteils erst im Oktober 2025 wirksam. Die «Civil Liberties Union» kritisiert, dass bislang nur wenige Mitgliedstaaten Gesetze zur nationalen Umsetzung der Regeln auf den Weg gebracht hätten. Auch Deutschland hat dies vor dem Ende der Ampel-Koalition nicht mehr geschafft. Dass eine neue Regierung dies bis Oktober 2025 nachholt, gilt als ausgeschlossen.
Für die in Deutschland anstehende Bundestagswahl kommen die neuen Regeln aber ohnehin zu spät. Für die grösste Veränderung bei der politischen Werbung sorgt deshalb gerade kein neues Gesetz, sondern Google: Vor wenigen Wochen kündigte der Plattformkonzern an, bis zum Wirksamwerden der neuen EU-Regeln im Oktober 2025 gar keine politische Werbung mehr zuzulassen. Neben Parteien und Politiker:innen wird es also noch mehr als ohnehin schon von Meta abhängen, ob wir einen transparenten und fairen Online-Wahlkampf erleben werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Ingo Dachwitz ist Redakteur bei netzpolitik.org.
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