Kommentar

Erdoğan wird rechts überholt

Gudrun Harrer © zvg

Gudrun Harrer /  Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge in der Türkei und Wolfsgruss an der EM zeigen: Die Saat des Ultranationalismus geht auf.

Seit bald zwei Jahrzehnten ist die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan fest in islamistisch-nationalistischer Hand und wurde zum Lehrbuchbeispiel dafür, wie autokratischer Populismus demokratische Strukturen und Institutionen schwächt. Entgegen den Erwartungen – das verheerende Erdbeben im Februar 2023 hatte eklatantes Staatsversagen offengelegt – wurden im Mai 2023 Erdoğan als Präsident und seine AKP im Parlament bestätigt. Gerade in der Krise wollten viele Türken und Türkinnen nicht auf ihren starken Mann verzichten.

Bei den Lokalwahlen Ende März 2024 wurde jedoch eine neue Entwicklung offenbar: Politische Kräfte in der Türkei setzten an, Erdoğan rechts zu überholen. Diese Kräfte werden stärker. Der Wolfsgruss, mit dem der türkische Fussballspieler Merih Demiral die österreichische Nationalmannschaft in Leipzig quasi verabschiedete, war nur ein kurzes Schlaglicht auf die Normalisierung ultranationalistischen Gehabes. Parallel dazu spielten sich Anfang Juli fast über die gesamte Türkei verteilt pogromartige Szenen gegenüber syrischen Flüchtlingen ab. Es war nicht nur eine Hatz auf Menschen, dahinter steht eine politische Kampagne.

Erdoğan, dessen Rücktritt bei den Ausschreitungen immer wieder gefordert wurde, wird persönlich für die Anwesenheit der mindestens 3,2 Millionen Syrer und Syrerinnen verantwortlich gemacht. Sie haben sich seit Ausbruch des Kriegs 2011 teilweise ein neues Leben aufgebaut und werden nicht mehr nach Hause zurückkehren. Die Türkei, viele Türken und Türkinnen, haben Enormes geleistet bei der Aufnahme von Menschen aus dem vom Assad-Regime in Krieg und Ruin getriebenen Syrien – auch zum Vorteil Europas. Und ja, Geld hat Ankara auch dafür bekommen. Die politischen Kosten der inneren Verwerfungen in der Türkei haben sowohl Erdoğan als auch die Europäer nicht einkalkuliert.

Die Abschiebung versprochen

Seit geraumer Zeit verfolgt Erdoğan ein aussenpolitisches Projekt, um zu retten, was nicht zu retten ist: Syrische Flüchtlinge sollten in grosser Zahl in einen von der Türkei kontrollierten Grenzstreifen auf syrischem Territorium abgeschoben werden. Das gehörte zu seinen Wahlversprechen. Abgesehen von der praktischen Machbarkeit – wer soll die Menschen wie versorgen, woher soll das Wasser kommen? – rennt Erdoğan auch mit dem Kopf gegen eine politische Wand. Mit Bashar al-Assads militärischem Mentor Wladimir Putin verhandelte der türkische Präsident vor Kurzem wieder darüber bei einem Treffen in der kasachischen Hauptstadt Astana. Aber Putin hätte sich von Erdoğan vielleicht auch einiges gewünscht, was dieser nicht geliefert hat: etwa eine nachhaltige Blockade der Nato-Erweiterung.

Erdoğan, der 2011 trotz vorheriger enger Kontakte Assad als Erster fallen liess, ist bereit, auch vor dem syrischen Präsidenten selbst zu Kreuze zu kriechen. Die von der Türkei gehaltenen islamistischen syrischen Oppositionsmilizen, die der türkischen Armee in Syrien als lokale Statthalter dienen, fürchten – zu Recht – fallengelassen zu werden. Während in der Türkei türkische Nationalisten syrische Flüchtlinge jagten, griffen syrische Demonstranten in den türkisch kontrollierten Teilen Syriens die türkische Armee an. Die Syrien-Politik Erdoğans ist eklatant gescheitert, in der Abenddämmerung seiner politischen Karriere kracht es an allen Ecken und Enden.

Dieser Artikel ist zuerst im «Standard» erschienen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Gudrun Harrer ist leitende Redakteurin des österreichischen «Standard» und unterrichtet Moderne Geschichte und Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Wien.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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