Construction worker at work

24 Millionen Menschen aus ganz Europa könnten von den neuen Mindestlöhnen in der EU profitieren. Und in der Schweiz? © Depositphotos

Ein Lohnschutz, der wirksam und EU-konform wäre

Markus Mugglin /  Die EU schwenkt auf Gewerkschaftskurs ein. Doch die SP verstrickt sich beim Lohnschutz in Widersprüche, statt die Chance zu nutzen.

Es muss ein ganz besonderer Glücksmoment gewesen sein. Es war im Juni dieses Jahres. «Wie Weihnachten und Geburtstag zugleich», hiess es dazu in der Gewerkschaftszeitung «Work» (17. Juni 2022). Ein zweifaches Geschenk an die Gewerkschaften war der Anlass, überbracht ausgerechnet von der EU, die in Gewerkschaftskreisen vor allem verdächtigt wird, Lohndumping zu begünstigen.

Den doppelten Feiertag mit Weihnachten und Geburtstag zugleich hatte der frühere Unia-Co-Präsident Andi Rieger verkündet. Der EU-Rat und das Europäische Parlament hatten gemeinsam einen Entscheid für Mindestlöhne in der EU und für die Förderung von Kollektivverhandlungen gefällt. Ein Entscheid, der – so Andi Rieger – besser sei, als selbst Optimisten zu hoffen gewagt hätten. 24 Millionen Lohnabhängige würden bei einer schnellen Umsetzung substanzielle Lohnerhöhungen erhalten. Fünf Millionen allein in Rumänien, vier Millionen in Italien. Länder, wo weniger als 80 Prozent der Lohnabhängigen einem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen, müssten Aktionspläne zur Förderung von Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern erstellen.

«Es geht um Grundsätzliches», um mehr als nur einzelne sozialpolitische Verbesserungen, wie sie die EU in jüngerer Zeit beschlossen hatte, kommentierte der ehemalige Unia-Co-Präsident Rieger in seiner Europa-Kolumne: «Um die Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen».

Eine neue Zeit für die Gewerkschaften in Europa kündigt sich an. Und für die Schweiz? «Wann wird der Bundesrat der EU folgen?», fragte Andi Rieger in seiner Kolumne. Und wann die politische Linke? 

Geist der Feierstunde ist nicht übergeschwappt

In der Strategie der SP für die Schweizer Europapolitik, die Mitte August leicht überarbeitet an die Gremien der Partei verschickt wurde, hat sich der Entscheid für Mindestlöhne noch nicht wirklich niedergeschlagen. In einem Abschnitt werden zwar «erleichterte gesetzliche Mindestlöhne» und «erleichterte Gesamtarbeitsverträge» vorgeschlagen. Doch die Formulierungen bleiben vage und erstaunlich unverbindlich.    

Pro-europäische Töne sind zwar viele im SP-Strategiepapier zu finden. Die vor wenigen Jahren lancierte «europäische Säule sozialer Rechte» wird «als sozialer Wendepunkt» gepriesen. Zahlreiche Vorzüge der EU werden aufgelistet: Der Grundrechteschutz, die Aussen- und die Aussenwirtschaftspolitik, die Klimapolitik, die Unternehmenssteuern.  Europa wird als «die Erweiterung unserer politischen Heimat» gesehen und der Wunsch des EU-Beitritts wird bekräftigt, weil seine Vorteile die Nachteile eindeutig überwiegen würden.

Irrungen und Wirrungen beim Lohnschutz

Doch beim Lohnschutz dreht die Stimmung. Hier verstrickt sich die Strategie in Widersprüche zwischen Einordnen in europäisches Recht und Abschottung gegen dieses Recht. Mal heisst es, das EU-Recht bilde den Rahmen für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung eines wirksamen Lohnschutzes. Es biete grosse Interpretationsspielräume, die genutzt werden müssten (Seite 33). Wenige Seiten vorher (Seite 28) verbietet man sich hingegen das Einmischen von aussen. Die Schutzmassnahmen müssten in der Kompetenz des Gastlandes von entsendeten Arbeitnehmenden liegen, in der Zuständigkeit von dessen Innenpolitik, «im Sinne der Autonomie der einzelnen Staaten geregelt werden». Die Schweiz soll selber bestimmen können, was sie als EU-Recht konform ansieht. Auch auf Seite 10 geben die Skeptiker den Ton an, wo die mit der Revision der Richtlinie für entsendete Arbeitskräfte verbundenen Veränderungen nur selektiv beschrieben werden. Auf Seite 31 wird hingegen schon fast neidisch aufgezählt, welche sozialen Massnahmen die EU in jüngster Zeit beschlossen hat und die man sich noch so gerne für die Schweiz wünschte.

So gibt es Passagen für die Lohnschutz-Souveränisten und solche für jene, die den Lohnschutz im EU-Recht verankern und fortentwickeln wollen. Und es wird vorgetäuscht, als ob sich Unversöhnliches versöhnen liesse.  

Wie ein EU-kompatibler Lohnschutz aussehen könnte

Dank den neuen Entwicklungen in der EU wäre es gar nicht schwierig, die Widersprüche aufzulösen. Was es dazu bräuchte, wären vier Punkte:

  • Erstens müsste anerkannt werden, dass mit der vor kurzem in Kraft gesetzten Entsenderichtlinie tatsächlich ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Die Dienstleistungsfreiheit gilt nicht mehr absolut, sondern nur noch eingeschränkt. Das in der EU verankerte Ziel eines angemessenen sozialen Schutzes ist jetzt beim Lohnschutz zu beachten.
  • In diesem Sinne würde zweitens EU-Recht gemäss dem Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» den Rahmen für einen wirksamen und weiter zu entwickelnden Lohnschutz bilden.
  • Drittens gälte es im Rahmen des EU-Rechts ergänzend in einem bilateralen Abkommen sensible Punkte zu klären, damit der Lohnschutz auf die besondere Situation der Schweiz mit den höchsten Löhnen im EU-Binnenmarkt Rücksicht nimmt. Dabei wären Kriterien zur Verhältnismässigkeit von Lohnschutzkontrollen festzulegen, die insbesondere auf die Lage in den Grenzregionen zugeschnitten wären.
  • Viertens soll parallel zu den Verhandlungen mit der EU innenpolitisch ausgehandelt werden, wie die europarechtlich gewährten nationalen Spielräume für die Fortentwicklung des Lohnschutzes genutzt werden sollen. Hier könnte die Übernahme der EU-Richtlinie für Mindestlöhne und die schrittweise Erhöhung der tarifvertraglichen Vereinbarungen ein zentrales Thema sein.

Zum EU-Binnenmarkt gehört nun einmal die „Dienstleistungsfreiheit“ neben dem freien Verkehr von Waren, Kapital und Personen zu den vier Grundfreiheiten. Das mag man gut oder nicht gut finden. Eine Partei, die einen möglichst grossen diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt wünscht, kann aber das Prinzip eines freien Dienstleistungsverkehrs nicht völlig aushebeln. Und da die SP gemäss Strategie die bisher erreichte Teilnahme am EU-Binnenmarkt garantiert haben will und darüber hinaus weitere Marktzugangsabkommen wünscht, verträgt es sich erst recht nicht mit dem Anspruch auf nationale Autonomie und Interpretationen nach eigenem Gutdünken. Über Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit zugunsten eines wirksamen Lohnschutzes lohnt es sich aber zu verhandeln und zu feilschen.

Assoziierung statt Bilateralismus

Um den bilateralen Weg zu stabilisieren, strebt die SP ein Assoziierungsabkommen an. Nicht mehr Rahmenabkommen oder Institutionelles Abkommen soll es heissen. Für die neue Wortwahl führt das SP-Strategiepapier mehrere inhaltliche Gründe an. Der neue Name würde aber vor allem mit einem jahrzehntelangen Missverständnis in der Europapolitik der Schweiz aufräumen. Die sogenannten bilateralen Abkommen waren von Beginn weg nicht wirklich bilateral. Die Schweiz erhielt in Bereichen wie Personenfreizügigkeit, Luft- und Landverkehr, Anerkennung technischer Produktionsstandards und Agrarhandel Zugang zum EU-Binnenmarkt und hatte als Konzession «fremdes Recht» zu übernehmen, wie es der frühere Staatssekretär Rossier einmal treffend und zugleich politisch-provokativ formuliert hatte. Der vor 30 Jahren eingeschlagene «bilaterale Weg» markierte in einigen zentralen Bereichen der Beziehungen zur EU die Abkehr vom Bilateralismus, der vor 50 Jahren mit dem Freihandelsabkommen seinen Anfang nahm.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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Eine Meinung zu

  • NikRamseyer011
    am 2.09.2022 um 14:06 Uhr
    Permalink

    «Rahmenabkommen, Institutionelles Abkommen, Assoziierungsabkommen»: Alles Wortklaubereien, die kaschieren sollen, worum es der Brüsseler EU geht – um Einflussnahme auf unsere Gesetzgebung in direkter Demokratie und Abbau unserer Souveränität nämlich. Die EU-Funktionäre schrecken dabei nicht mal vor sachfremden Erpressungen zurück, die indes etwa bei Medtech und Börse sogleich peinlich verpufft sind. Und erst noch zu Protesten aus dem EU-Raum führten, weil die willkürlichen Brüsseler Boykotte auch EU-Firmen trafen. Es geht bei der Zwängerei der EU-Integristen in Brüssel und Bern in Richtung «Irgendwasabkommen» ja längst nicht nur um «den Lohnschutz» – sondern auch um unsere soliden öffentlichen Dienste (Service Public), die wir uns sicher nicht zwangsweise von der EU privatisieren lassen. Wer zudem den ach so guten «Arbeiterschutz» der EU bejubelt, sollte auch die laschen bis inexistenten Kontrollen (Tönnies!) erwähnen, die Brüssel auch uns partout aufdrängen will. Wieso wohl?

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