Ein Buch zur rechten Zeit – und gerade deshalb ein Risiko
Die Polizei war Freund, indem sie vor möglichen gewaltsamen Störungen warnte, aber nicht Helfer genug, um den Anlass zu schützen, den der Verein UND – das Generationentandem für den 2. November in Steffisburg BE geplant hatte. Eine Vertreterin des Vereins sagte dem «Bund», deshalb und weil das Geld für einen privaten Sicherheitsdienst fehlte, habe man die Veranstaltung abgesagt. Noch vor wenigen Monaten hatte ich eine solche Lesung aus dem Buch «Kaddisch zum Gedenken» der Berner Psychiaterin und Künstlerin Eve Stockhammer besucht, wo wohl niemand unter den vielen Gästen auch nur einen Gedanken an die Sicherheit verschwendete. Was ist das für ein Buch, und was ist das für eine Zeit geworden, in der die Lesung Angreifer anziehen könnte?
Es ist ein Buch, das just dieses Jahr erschienen ist und die Erinnerung an den Judenmord durch die Nazis wachhält, indem Überlebende und Hinterbliebene sowie deren Nachkommen selber zu Wort kommen. Durch den Angriff der Hamas und die Reaktion Israels erhält das Werk eine Aktualität, bei der sein eigentliches Anliegen – das Gedenken – in den Hintergrund gedrängt wird, obwohl es gerade jetzt noch dringender nötig ist. «Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg» – unter diese Losung stellt der Journalist Werner van Gent sein Vorwort.
Verstummten zu einer Stimme verholfen
Die Autorin und Herausgeberin Eve Stockhammer leistete einst psychotherapeutische Freiwilligenarbeit bei der Kontaktstelle für Holocaust-Überlebende in der Schweiz. Einigen von diesen hat sie dabei geholfen, über das Erlittene reden und sogar schreiben zu können. Das Buch enthält 25 Berichte von ihnen oder aus ihrem Umfeld. Es ist illustriert mit historischen Fotos sowie von der Autorin gemalten Porträts und Sinnbildern. Auch der Titel wird erklärt: Kaddisch ist ein jüdisches Trauergebet für den Seelenfrieden der Verstorbenen – für unzählige Ermordete war es ungesagt geblieben.
In ihrem eigenen Kapitel schreibt Stockhammer über ein Fotoalbum, das 20 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter – einer Überlebenden – zum Vorschein kam und sie zu Nachforschungen bewog: «Über ihre Kindheit konnte meine Mutter nicht sprechen, keine ihrer zahlreichen Verwandten, die ermordet wurden, erwähnen. Sie hat geschwiegen und nochmals geschwiegen. Vielleicht um ihre Kinder zu schonen, vielleicht um sich selber zu schützen?» Um dieses Schweigen, das eigene oder das der Eltern, und um seine mühselige und lückenhafte Überwindung geht es in vielen der Berichte. Geschrieben sind sie teils aus eigener, oft lange verschütteter Erinnerung, teils aufgrund beharrlichen Bemühens, etwas über beinahe spurlos Verschwundene in Erfahrung zu bringen.
Schmerzhafte Sachlichkeit
Der Ton ist durchwegs sachlich und tut oftmals gerade dadurch weh, denn er zeigt das Grauen nackt. Der Grund, weshalb diese Betroffenen sich zum Schreiben durchgerungen haben, spricht aus vielen Schlusssätzen. Lothar Beutin ist nach dem Krieg in Berlin geboren und mit einem Familiengeheimnis um seine (jüdische) Grossmutter aufgewachsen, das er schliesslich lüftet. Er schreibt: «In einer Zeit, in der Haltung, Einstellung und Herkunft mehr gefragt sind als gegenseitige Toleranz und freier Meinungsaustausch, sind ähnliche Entwicklungen, wie sie sich mit der Naziherrschaft manifestierten, jederzeit und überall in der Welt möglich. Daher muss eine Lehre aus der Geschichte sein, sich solchen Tendenzen entgegenzustemmen, von welcher Seite und in welchem Gewand sie auch immer auftreten mögen.»
Sein Wort in jedes Ohr! Wer das Buch gelesen hat, wird auch besonders hellhörig, wenn heute von Nazi-Methoden oder dergleichen die Rede ist. Derlei Gleichsetzungen werden hüben und drüben gerade häufig angestellt – nicht um Unheil zu bannen, sondern um Feinde anzuprangern. Auch deswegen sind die Kontroversen um den Gaza-Krieg so heftig aufgeheizt, dass ihnen sogar die Lesung eines Buches wie «Kaddisch zum Gedenken» zum Opfer fällt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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