Die USA sollen Israel vor sich selber retten
US-Aussenminister Antony Blinken reiste nach den Terroranschlägen der Hamas gleich zweimal nach Israel und in Begleitung seines Präsidenten Joe Biden elf Tage nach dem brutalen Überfall der Hamas noch ein drittes Mal. Die USA sagten Israel ihre Unterstützung zu, aber nicht nur. «Biden warns Israel to avoid 9/11 ‚mistakes‘», titelte die britische «Financial Times». Israel soll nicht den Fehler machen, den die USA nach 2001 gemacht hatten. Und Biden ergänzte, offensichtlich besorgt über die Stimmung in Israel: «Auch wenn sie diese Wut spüren, lassen Sie sich nicht von ihr auffressen.»
Nicht nur dem US-Präsidenten ist nicht geheuer, wie Israel auf den Terror der Hamas reagieren könnte. In Strategieexperten-Kreisen in Washington geht die Angst um, dass sich Israel von Rachegefühlen leiten lässt. Die als führende Strategiezeitschrift für Aussenpolitik gepriesene «Foreign Affairs» publizierte nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober mehrere Artikel, die grösste Besorgnis über die von Israel angekündigten Militäraktionen zum Ausdruck brachten.
Warnung vor ungebremster Intervention
Richard Haass, in der Zeit von 9/11 enger Berater des damaligen Aussenministers Colin Powell, warnt vor einer ungebremsten Intervention Israels. Unter dem Titel «Was Freunde Freunden schulden» erläutert er, warum Washington Israel zu einer eingeschränkten Militäraktion anhalten soll. Das Ziel, die Hamas zu zerschlagen, sei zwar verständlich, aber nicht der optimale oder gar empfehlenswerte Weg. Massiv gegen den Gaza vorzugehen, würde international sofort zu einem Aufschrei führen. Und sollte Israel erfolgreich sein, gäbe es keine alternative Behörde, die an die Stelle der Hamas treten würde, da es Israel in den letzten Jahren darauf angelegt hatte, die palästinensische Autonomiebehörde zu untergraben. Israel könne aber kein sicherer, wohlhabender, demokratischer und jüdischer Staat bleiben, wenn es nicht in absehbarer Zeit einen palästinensischen Staat neben ihm gibt.
Marc Lynch von der George Washington University bezeichnet eine militärische Invasion des Gazastreifens als «Katastrophe für Israel». Er kritisiert jene, die Israel mit maximalistischen Zielen zum Einmarsch in den Gazastreifen drängen. Sie trieben ihren Verbündeten Israel in eine strategische, humanitäre und politische Katastrophe. Die potenziellen Kosten wären ausserordentlich hoch, sei es in Form von israelischen und palästinensischen Todesopfern, der Wahrscheinlichkeit eines langwierigen Krieges oder der Massenvertreibung von Palästinensern. Hinzu komme das erschreckend grosse Risiko einer Ausweitung des Konflikts, insbesondere im Westjordanland und im Libanon, und potenziell weit darüber hinaus. Auch die Kerninteressen der USA im Nahen Osten, in der Ukraine und in Washingtons Wettbewerb mit China um den indo-pazifischen Raum würden bedroht.
Die möglichen Gewinne – abgesehen von der Befriedigung von Rachegelüsten – wären hingegen «bemerkenswert gering». Nie mehr seit dem Einmarsch der USA in den Irak habe es schon im Voraus eine so grosse Klarheit über ein bevorstehendes Fiasko gegeben.
Auch Audrey Kurth Cronin vom Carnegie Mellon Institute for Strategy and Technology warnt vor einer Strategie, die sich durch Rache leiten lässt. Israels Empörung und der Wunsch nach Rache seien verständlich. Unterdrückung als Mittel zur Bekämpfung von Terrorismus verspreche aber selten Erfolg. «Wenn israelische Regierungsvertreter davon sprechen, die Hamas um jeden Preis zu vernichten», frage man sich auch, ob sie «ausser den Folgen für die Hamas, die Zivilisten im Gazastreifen, die Geiseln, die Palästinenser im Westjordanland und die arabischen Israelis auch die potenziellen langfristigen Kosten für die regionale Stabilität, die israelische Demokratie und die jüdischen Israelis bedenken.» Ziele Israel mit der «Kampagne» auf alle Menschen im Gazastreifen ab, riskiere es einen verhängnisvollen Misserfolg.
Es geht auch um Glaubwürdigkeit
Audrey Kurth Cronin, Marc Lynch, Richard Haass und andere Autoren von «Foreign Affairs» sprechen Israel nicht das Recht ab, militärisch auf den Angriff der Hamas zu reagieren. Im Gegenteil: Es müsse es tun, aber nicht so, wie es mit einem Kampf gegen «menschliche Tiere» angekündigt wurde. Israel müsse sich strikt ans Kriegsvölkerrecht halten. Und an die USA gerichtet gibt Audrey Kurth Cronin zu bedenken, dass ihr Eintreten für internationale Normen und das Kriegsrecht zur Verteidigung der Ukraine gegen die brutale russische Invasion sich schwerlich mit der leichtfertigen Missachtung derselben Normen im Gazastreifen vereinbaren lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Es stellt sich einfach die Frage, ob 6000 oder mehr Tote Palästinenser:innen nicht bereit genug der Rache sind. Was soll der Zweck dieser Appelle sein? Das Waschen der Hände in Unschuld?
Danke für den Bericht. Ich werde in einem Bereich kommunizieren, welcher die Gefahr eines Missverständnisses vermindert. Ich ergreife niemals Partei für eine Institution, Religion, Gruppe oder Nation. Ich ergreife Partei für den wichtigsten Wert des Lebens: Wenn jeder Mensch auf der Welt, auf jede Form der Gewalt, welche jenseits von angemessener und deeskalativer Notwehr liegt, verzichten würde, dann hätten wir morgen den Himmel auf Erden. Alle Konflikte lassen sich mit Geduld, Kommunikation und dem Verzicht auch auf verbale Gewalt, friedfertig und ohne faule Kompromisse lösen. Starke Gefühle durch den Verlust Angehöriger dürfen nicht mehr die Illusion wecken, das durch kultivierte Rache (Vergeltungsschläge) oder blinde Rache (Amoklauf, Selbstjustitz) der Verlustscherz geringer werden würde. Das Verbreiten von Angst durch Drohungen, sich selbst überheben über Andere, ist bereits verbale Gewalt und der Same für den nächsten Krieg. (Frei nach Marshall Rosenberg) Möge Frieden kommen.
Die USA stehen mit dem Kriegsvölkerrecht, und dem Völkerrecht überhaupt, selbst beständig auf dem Kriegsfuss. Ihre Truppen stehen z.B. völkerrechtswidrig in Syrien (wie auch jene der Türkei), immer wieder kommt es zu Einsätzen der US-Luftwaffe auf Ziele von «Terroristen». Die Vermutung liegt also nahe, dass es hier nicht die Sorge um arabische Leben geht, sondern schlicht darum, die explosive Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen und so einen mindestens regionalen, aber möglicherweise sogar globalen, Konflikt zu provozieren. In der neue ‹Multipolaren Weltordnung› werden sich Machtzentren neu definieren und ihre Einflusssphären gegeneinander abgrenzen. Geschieht gerade in der Ukraine – und im Nahen Osten hat der Prozess gerade begonnen.