Protest

Massendemos trotz Verboten und Polizeigewalt: Nach der Verhaftung von Ekrem Imamoğlu gehen in der Türkei Hunderttausende auf die Strasse. © ZDF

Die Türkei im Würgegriff einer dunklen Autokratie

Amalia van Gent /  Auf den Strassen der Türkei wird der Machtkampf zwischen Demokratie und Diktatur unerbittlich ausgetragen. Bisher unentschieden.

«Seht auf dieses Meer von Menschen! Seht die zwei Millionen Menschen, die hier versammelt sind!». Özgür Özel, Vorsitzender der grössten türkischen Oppositionspartei CHP, blickte von der Redner-Tribüne auf die Menschenmenge, die sich auf einem riesigen Gelände direkt am Marmarameer eingefunden hatte. «Wir lassen uns nicht einschüchtern!», rief er euphorisch. Er kündigte regelmässige Protestaktionen an – «Jeden Samstag in einer türkischen Stadt» – solange bis der inhaftierte Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu freikomme und die Regierung in Ankara vorgezogene Neuwahlen ausrufe. Ohne Proteste drohe dem Land unmittelbar die Abschaffung der Demokratie, warnte Özel seine Zuhörerinnen und Zuhörer.

Botschaften aus dem Gefängnis

«Wir lassen uns nicht einschüchtern!», antworteten die Teilnehmenden im Chor. Ihre Slogans hallten durch die Strassen Maltepes, das auf der gegenüberliegenden, asiatischen Seite der Metropole Istanbul liegt und traditionell eine Hochburg der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist. Lautstark forderten die Demonstrierenden «Recht, Gesetz, Gerechtigkeit!» und immer wieder erschallte den Ruf: «Rettung gibt es nicht allein – entweder alle gemeinsam oder keiner von uns!» – frei nach Bertolt Brecht.

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Imamoğlu zehn Tage zuvor hatte in der Türkei unerwartet eine ebenso riesige wie spontane Protestbewegung ausgelöst, die Abend für Abend das Land erschütterte. Einen Tag vor der Demonstration in Maltepe durfte sich Ekrem Imamoğlu in einem Gastbeitrag für die «New York Times» zu den Ereignissen äussern: Recep Tayyip Erdoğan, habe verstanden, dass «er mich nicht an den Urnen schlagen kann», schrieb er. Für die Vorwürfe gegen ihn und sein Team – Korruption, die Führung eines kriminellen Netzwerks und Unterstützung der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – hätten die Behörden keinerlei glaubhafte Beweise. Ähnlich wie der CHP-Vorsitzende in Maltepe warnte auch Ekrem Imamoğlu, in der Türkei drohe nicht nur eine «langsame Erosion der Demokratie», sondern «die absichtliche Zerstörung der institutionellen Grundzüge unserer Republik». Ohnehin sei die «Republik unter Herrn Erdoğan in eine Republik der Angst verwandelt worden», so Ekrem Imamoğlu.

Evolution der CHP

Die Republikanische Volkspartei (CHP) ist die Partei des Republik-Gründers Kemal Atatürk. 1923 gegründet, bezweckte sie nichts weniger als eine Kulturrevolution loszutreten; sie stützte sich dabei auf sechs eiserne Prinzipien. Die zwei wichtigsten davon waren der sogenannte Laizismus und der Nationalismus. Laizismus, einfach erklärt, bedeutete, dass islamische Werte und Kultur im neuen Staat verpönt waren – denn Atatürk wollte einen modernen «westlichen Staat». Der Nationalismus bezog sich primär auf die kurdische Minderheit: Gemäss der kemalistischen Doktrin gab es in der Türkei keine Kurden; sie wurden kurzerhand in «Bergtürken» umbenannt.

Aus Protest gegen die grotesken, von oben befohlenen kemalistischen Prinzipien brachen immer wieder Aufstände der gläubigen Muslime oder der Kurden aus. Dreimal putschten die türkischen Generäle und lösten Parlament und Parteien auf, folterten unzählige Bürger in den Gefängnissen – immer im Namen der Rettung der kemalistischen Republik. Die CHP, die sich wie die Generäle als Hüterin der kemalistischen Prinzipien verstand, nahm jedes Mal die Aussetzung der Demokratie in Kauf. Um die Jahrtausendwende herum war sie zu einer kleinen, in sich zerstrittenen Partei im äussersten Westen der Türkei verkommen.

Ausgerechnet Ekrem Imamoğlu half mit, das Gesicht der CHP zu verändern. Als führendes CHP-Mitglied spricht er jenen Teil der türkischen Bevölkerung an, der sich an westlichen Prinzipien und Lebensstilen orientiert. Dazu zählen die breitere Bevölkerung in den urbanen Zentren, Studierende und Intellektuelle. Da er selbst aus konservativen Kreisen stammt, sein Name bedeutet übersetzt «Sohn des Imam», hat er keine Berührungsängste mit den gläubigen Massen und geniesst unter ihnen auch grosses Vertrauen. Bei den Kommunalwahlen 2019 bildete er zudem ein Wahlbündnis mit der einzigen pro-kurdischen Partei und konnte die Wahlen in Istanbul gegen Erdoğans Partei dreimal gewinnen.

Die jüngsten Umfragen sahen Imamoğlus Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2028 gegen Erdoğan voraus.

Serie von Razzien und willkürlichen Verhaftungen

Kann sich eine Gesellschaft an willkürliche Polizeirazzien und Verhaftungen im Morgengrauen gewöhnen? Nach dem vereitelten Putsch 2016, den Erdoğan seinem damaligen Rivalen Fethullah Gülen zuschrieb, wurde die Türkei zu einem Polizeistaat umgestaltet: Tausende angebliche Gülen-Anhänger wurden teils grundlos festgenommen, ihre Wohnungen im Morgengrauen von Bereitschaftspolizisten gestürmt, ihr Besitz beschlagnahmt. Für deren Familien bedeuteten die Razzien Jahre der Demütigung, des sozialen Abstiegs und der Angst. Ihr Schicksal berührte aber nur wenige – sie wurden von der breiteren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es folgten Razzien im Morgengrauen gegen kurdische Politiker und Bürgermeister, die allenfalls im Südosten des Landes zu Protesten führten. Auch die Entrechtung einzelner Dissidenten, etwa von andersdenkenden Professoren und Anwälten, schaffte es bestenfalls als kleine Meldung in die oppositionellen Medien.

Am 19. März, kurz vor sieben Uhr morgens, umstellten rund 100 Polizisten die Residenz des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu und führten ihn vor den Augen seiner Kinder wie einen gemeinen Verbrecher ab. Das war der Funke, der das Pulverfass in den Grossstädten entzündete.

Während der Proteste der letzten zehn Tage hat die Polizei nach Angaben des türkischen Innenministers Ali Yerlikaya über 2000 Menschen festgenommen – auf der Strasse oder nach Razzien in ihren Wohnungen. Dazu gehören Imamoğlus Anwalt Mehmet Pehlivan, Fotoreporter und Journalisten, die vor Ort ihre Arbeit machten und natürlich auch Demonstrierende: «Susma, sustukça sıra sana gelecek», «Schweige nicht, denn wenn du schweigst, wirst du der Nächste sein», riefen die Protestierenden, die ihre jugendlichen Gesichter meist hinter einer Maske versteckten.

Drohende Strafen für die CHP-Führung

In den schwierigen Tagen der Massenproteste erwies sich der CHP-Vorsitzende Özgür Özel als starke Figur innerhalb seiner Partei. Trotz grossem Druck der Behörden konnte er sie zusammenhalten und darüber hinaus mit seiner scharfen Rhetorik gegen die Regierung die Massen mobilisieren und mitreissen. Das Versprechen, die Regierung mit täglichen Aktionen dazu zu zwingen, Imamoğlu freizulassen und vorgezogene Neuwahlen auszurufen, musste er allerdings teilweise zurücknehmen.

Als kompetenter, starker Mann der CHP ist Özgür Özel in den letzten Tagen selber in die Schusslinie der Regierung geraten. In regierungsnahen Presseorganen ist neuerdings von einer umfangreichen Untersuchung gegen Özel die Rede. Der Vorwurf steht im Raum, beim letzten Parteitag seien Bestechungsgelder an die Delegierten gezahlt worden, damit diese für Özel stimmten. Gerüchte machen nun die Runde, wonach die Immunität mehrerer CHP-Abgeordneter im Zusammenhang mit diesem Fall aufgehoben werden könnte. Sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, würde womöglich auch Özel hinter Gittern landen und die CHP ohne Führung bleiben.

Evolution der AKP

Es war das Versprechen nach mehr Demokratie und mehr Rechte für alle, das im Jahr 2002 die islamistische AKP 2002 ins Zentrum des politischen Geschehens der Türkei katapultiert hatte. Die jungen Politiker Erdoğan und sein Vize Abdullah Gül wurden damals zum Motor eines atemberaubenden Demokratisierungsprozesses; die Todesstrafe wurde innerhalb kürzester Zeit abgeschafft, zahlreiche Maulkorbartikel aus dem Pressegesetz gestrichen und die Generalität der Kontrolle der Politik unterstellt. Noch wollten Erdoğan und Gül der Welt beweisen, dass Demokratie und Islam durchaus vereinbar seien.

Spätestens 2017 war die Türkei unter Erdoğan keine Demokratie mehr: Der Rechtsstaat wurde ausgehöhlt, die Justiz unterjocht und die Medien gleichgeschaltet. Beobachter wie der renommierte türkische Exil-Journalist Yavuz Baydar sind davon überzeugt, dass Erdoğan mit der Inhaftierung Imamoğlus die Türkei einen Schritt näher zu den zentralasiatischen Autokratien gebracht hat: Wie in Aserbaidschan, wo eine Opposition lediglich auf dem Papier oder gar nicht existiert, bezwecke «Erdoğan der politischen Opposition der Türkei das Rückgrat zu brechen und sich eine Präsidentschaft auf Lebenszeit zu sichern», sagt Yavuz Baydar.

Tatsache ist, dass die massiven Proteste gegen die Haft Imamoğlus die Machtriege um Erdoğan überrascht haben. Das hat zu einem vorläufigen Patt in dieser ersten Runde des Machtkampfs zwischen Demokratie und Autokratie geführt.

Wie weiter?

Innenpolitisch könnte lediglich die kurdische Nationalbewegung die Rolle als game-changer spielen. Die Mitglieder der pro-kurdischen Partei DEM sind schon aufgrund der jahrzehntelangen Repression auf langanhaltende Proteste eingestellt. Die DEM, die drittgrösste Partei des Landes, hält aber diesbezüglich ihre Karten noch verdeckt.

Die Demokratiebewegung der Türkei würde die Unterstützung ihrer aussenpolitischen Partner brauchen. «Zweifellos haben die jüngsten Entwicklungen – Russlands Krieg in der Ukraine, der Sturz des Assad-Regimes im Nachbarland Syrien und die Zerstörungen im Gazastreifen – die strategische Bedeutung der Türkei erhöht, vor allem wenn man bedenkt, dass sie einen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten kann», schrieb Ekrem Imamoğlu in seinem Gastbeitrag für die «New York Times». «Die Geopolitik sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, die Aushöhlung von Werten, insbesondere von Menschenrechtsverletzungen, zu übersehen. Andernfalls riskieren wir, diejenigen zu legitimieren, die die auf Regeln basierende globale Ordnung Stück für Stück demontieren. Das Überleben der Demokratie in der Türkei ist nicht nur für die Menschen in diesem Land entscheidend, sondern auch für die Zukunft der Demokratie weltweit.»

Ekrem Imamoğlu hat Recht. Es liegt tatsächlich im Interesse der EU, die Augen nicht davor zu verschliessen, was in diesen Tagen auf den Strassen der Türkei vor sich geht. Da nach dem Wahlsieg Donald Trumps die EU sich als eine der letzten Bastionen der liberalen Demokratie versteht, darf sie keine Abstriche in den Regeln der Demokratie hinnehmen. Andernfalls wird sie riskieren, sich am Rande Europas mit einem Autokraten abzufinden, der für sein Volk und für die EU noch mächtiger und noch unberechenbarer sein wird. Und was für die EU gilt, gilt freilich auch für die Schweiz.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 31.03.2025 um 14:31 Uhr
    Permalink

    Der Republikgründer Atatürk hat die kurdische Bevölkerung verraten, so wie alle anderen auch. Er versprach vor 100 Jahren, dass die Kriege nach dem Untergang des Osmanischen Reiches zu einem gemeinsamen Staat von Türken und Kurden führen sollte. Die Partei Atatürk’s, die CHP, hat das Versprechen ebensowenig gehalten wie alle nachfolgenden Regierungen. Und den Laizismus muss er wohl den Franzosen abgeschaut haben, die handhaben ihn mit nahezu religiösem Eifer. Die türkische Sprache wurde unter Atatürk fast über Nacht in die lateinische Schrift überführt, sie enthält viele französische Wörter – aber immerhin besser als englische.

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