UNRWA

In Gaza stützen sich alle Hilfsorganisationen auf die UNRWA ab. © SRF

Die Schweiz wird zur «Speerspitze» im Kampf gegen UNRWA

Markus Mugglin /  In Gaza werden UNRWA-Schulen bombardiert, in Bern will eine Mehrheit Gelder an UNRWA als wichtigste Hilfsorganisation stoppen.

Israels Rechtsaussen-Regierung hat in Bundes-Bern verlässliche Gefährten im Kampf gegen das UNO-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge UNRWA. Nicht nur ihre ebenso nationalistisch gesinnten Nationalrätinnen und Nationalräte von der SVP stehen stramm an ihrer Seite. Auch fast alle der FDP und eine klare Mehrheit der «Mitte» im Nationalrat reihen sich hinter der Regierung Netanjahu ein. Zuletzt geschehen am 4. Dezember.

Solidarisch mit Israel-Regierung statt mit notleidender Gaza-Bevölkerung

Der Nationalrat stimmte erneut für den Stopp jeglicher Gelder an UNRWA, wie er es schon in der September-Session getan hatte. Das Resultat fiel noch klarer aus als damals. Statt mit 99 für und 88 dagegen, stimmten jetzt sogar 109 für und nur noch 77 gegen den Zahlungsstopp an das Flüchtlingshilfswerk. Noch sieben statt vorher neun von der «Mitte» und sogar nur noch drei statt vorher neun von der FDP stimmten gegen den Zahlungs-Boykott.

Noch ist unklar, wie sich der Ständerat verhält. Seine Aussenpolitische Kommission unter ihrem Präsidenten Marco Chiesa von der SVP spielt auf Zeit. An ihrer Sitzung im Oktober wurde zwar über die Motion für den Zahlungsstopp diskutiert, doch der Entscheid vertagt – zuerst auf die November-Sitzung, dann auf Dezember und neuerdings auf den 17. Februar nächsten Jahres.  

Aussenminister Cassis intervenierte am 25. Oktober und bat darum, Vorstösse zur UNRWA später zu behandeln. Ihm stand am 29. Oktober eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrates über die Lage im Nahen Osten bevor, die er leiten musste. Das war ein Tag nach dem Entscheid des israelischen Parlaments, die Zusammenarbeit mit der UNRWA in Israel zu verbieten. Für den Auftritt des Aussenministers auf der Weltbühne wäre es schlecht gewesen, hätte nach dem Nationalrat auch die Kommission des Ständerates für ein Zusammenarbeits-Verbot mit der UNRWA votiert. Wie hätte Cassis den Verbotsentscheid der israelischen Knesset glaubwürdig kritisieren können, wie er es dann in New York tat: Dort sagte er nämlich, das Verbot sei «zu einem grossen Teil unvereinbar mit dem internationalen Recht», es bedrohe auch die Hilfe an die von grossem Leid geplagte Zivilbevölkerung – «eine Hilfe, die bisher von der UNRWA gesichert wurde».      

Was ein momentaner Aufschub des Entscheids zu sein schien, zieht sich jetzt in die Länge – mit Folgen auf der diplomatischen Bühne. «Jede Entscheidung über die Unterstützung (der UNRWA) unterliegt der Zustimmung des Parlaments». So ersuchte die Schweiz am 11. Dezember an der UNO-Generalversammlung in New York um Nachsicht in der Debatte über eine Resolution, die freiwillige Beiträge an das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge forderte. Die Schweiz stimmte der Resolution zu – zusammen mit 158 anderen Ländern. Doch den Worten mit Taten zu folgen, wie es der Volksmund rät, dieser Parole lebt die Schweiz nicht nach. Geld an UNRWA gibt es frühestens ab Frühjahr nächsten Jahres, aber nur vielleicht und vielleicht gar nicht mehr.  

Verstösst die Schweiz gegen Völkerrecht?

Will die Schweiz einen Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht riskieren? Der emeritierte Völkerrechtler von der Universität Genf, Marco Sassòli, stellte die Frage bereits im letzten Frühjahr, als die Schweiz versprochene Hilfszahlungen an die UNRWA ausgesetzt hatte. Diese Frage stellt sich nicht nur aus moralischen Gründen. Und dessen ist man sich in Bern durchaus bewusst. Die Direktion für Völkerrecht hat sich deshalb bereits im Februar mit allfälligen Risiken für die Schweiz beschäftigt. Laut dem Sender RTS hielt sie in einem Bericht fest:  «Gemäss Artikel 1 der Völkermord-Konvention sind alle Vertragsparteien, einschliesslich der Schweiz, verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Völkermord zu verhindern. In diesem Fall gilt dies nicht nur für die Lieferung von Waffen, sondern vor allem für die Bereitstellung von humanitärer Hilfe.»

Das Risiko, dass die Schweiz gegen humanitäres Völkerrecht verstösst, wurde aber als gering eingestuft. Der Direktor der Völkerrechtsabteilung, Botschafter Franz Perrez, äusserte sich gegenüber RTS überzeugt, dass eine allfällige Klage abgewiesen werden könnte. Ob das noch immer gilt? Der Botschafter meint ja. Doch die Lage ist heute eine andere als damals.

Die Schweiz hatte Mitte Januar, wie ein gutes Dutzend anderer Länder auch, die Hilfe an die UNRWA ausgesetzt, nachdem Israel Anschuldigungen gegen die UNRWA erhoben hatte, wonach Mitarbeitende des Hilfswerks am Überfall der Hamas auf Israel beteiligt gewesen seien. Der Hilfestopp der Schweiz galt, solange die Anschuldigungen nicht überprüft waren. Gleichzeitig hatte die Schweiz über andere Hilfsorganisationen Nothilfe für Gaza gesprochen.

Jetzt geht es aber um mehr als nur einen vorübergehenden Hilfestopp. Auch der politische Kontext hat sich verändert, seit Israel entschieden hat, die UNRWA zu verbieten und damit zu zerstören. Die Schweiz würde dieses Verbot sekundieren, obschon der Entscheid – wie Bundesrat Cassis vor dem UNO-Sicherheitsrat gesagt hat – zum grössten Teil unvereinbar mit internationalem Recht ist. Die Folgen für die mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza wären katastrophal. Denn eine Alternative zur UNRWA gibt es nicht in Gaza, erst recht nicht, solange der Krieg wütet. Dessen ist sich auch die Direktion für Völkerrecht bewusst. Sie belegt es selber in einem neuen, am 11. November publizierten Bericht.  

Wer die UNRWA schädigt, schädigt alle Hilfsorganisationen in Gaza

Die UNRWA ist – so ist es im Bericht nachzulesen – «seit dem Ausbruch des Krieges (…) für etwa 80 Prozent der humanitären Hilfe zuständig». Und weiter: «Sie unterstützt rund 2,2 Millionen Menschen durch die Bereitstellung von Notunterkünften, und hat zwischen Oktober 2023 und 2024 über 6,14 Millionen medizinische Konsultationen durchgeführt. Über 40 Prozent der Impfungen gegen Kinderlähmung wurden von UNRWA-Mitarbeitenden verabreicht.» Und schliesslich:  In Gaza wird die UNRWA «als die Säule angesehen, auf die sich alle anderen humanitären Organisationen stützen. Die UNRWA koordiniert die in Gaza durchgeführte humanitäre Hilfe und bündelt ihre Dienstleistungen zugunsten anderer humanitärer Organisationen.» Oder anders gesagt: Wer die «Säule» der humanitären Hilfsstruktur in Gaza nicht stützt, schwächt das ganze Hilfssystem, von dem das Überleben der mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza abhängt.

Das scheint die deutliche Mehrheit im Nationalrat nicht zu kümmern. Vom Ständerat weiss man es noch nicht, schiebt er doch seinen Entscheid Monat um Monat hinaus. Dringend scheint es seiner Kommission nicht zu sein, als ob die Menschen in Gaza in grösster Not warten könnten, wo es an Nahrungsmitteln und sauberem Wasser mangelt, Gesundheitseinrichtungen zerstört sind, die Menschen kein sicheres Zuhause haben und immer wieder neu in die Flucht getrieben werden.

Es bleibt nicht unbemerkt in Palästina, wie die Schweiz handelt. UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini erfährt es aus nächster Nähe. Bisher hätten die Menschen in Palästina gedacht, die Schweiz stehe synonym für humanitäre Tradition, sagte er kürzlich gegenüber Le Courrier (25. November 2024). Jetzt werde sie als «Speerspitze für die Auflösung der UNRWA wahrgenommen». 

Für die Schweiz ist es eine ungemütliche Situation auch mit Blick auf nächsten März, wenn sie auf Geheiss der UNO zu einer Nahost-Konferenz nach Genf einlädt. Thema ist die Einhaltung des Völkerrechts und der Schutz der Menschen in den von Israel besetzten Gebieten. Wie will die Schweiz glaubwürdig als Hüterin der Genfer Konventionen die Konferenz leiten, sollte sie gleichzeitig die wichtigste Hilfsorganisation in Gaza boykottieren?   


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6 Meinungen

  • am 28.12.2024 um 09:47 Uhr
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    In Gaza werden UNRWA-Schulen bombardiert. in Bern will eine Mehrheit Gelder an UNRWA als wichtigste Hilfsorganisation stoppen.
    Zu erinnern ist: Israel könnte den Gazastreifen, den Libanon. Syrien und den Jemen gar nicht bombardieren ohne die Waffenlieferungen der USA, Deutschlands und anderer Länder. Diese Staaten sind durch ihre Rüstungslieferungen an Israel Kriegsparteien, verantwortlich für die Zerstörungen und Massaker die Israel anrichtet.
    Meiner Meinung nach müsste die Schweiz jetzt die Kriegsmaterialexporte an die Kriegsparteien USA, Deutschland und anderer Staaten einstellen die Israel es möglich machen Krieg zu führen. Gelder an die UNWRA sollten weiter ausgezahlt werden. Waffenexporte der Schweiz, die in einen Krieg verwickelt sind, sind nach dem Kriegsmaterialgesetz nicht erlaubt
    Kleinbestandteile produziert in der Schweiz, werden heute sowieso in Waffen eingebaut, die später in Kriegen zu Einsatz kommen, da sie ohne Wiederausfuhrerklärung exportiert werden dürfen.

  • am 28.12.2024 um 10:45 Uhr
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    Am 4. Dezember hat der Nationalrat zum zweiten Mal seit September die Einstellung der Zahlungen an die UNRWA beschlossen. Am 5. Dezember hat Amnesty International in einem wegweisenden, vielbeachteten Bericht auf 296 Seiten nachgewiesen, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. Der Ständerat hat nun die Chance, ja die Pflicht, weitere Zahlungen an die UNRWA zu beschliessen. Der Schweiz und anderen westlichen Ländern, die zu den unsäglichen Verbrechen Israels schweigen, drohen Verfahren vor dem ICJ und ICC in Den Haag, weil sie ihre Pflicht verletzen, einen Völkermord zu verhindern (Völkermords-Präventionspflicht gemäss internationalem Recht und den Feststellungen des ICJ vom 26.1.24 und 19.7.24).

  • am 28.12.2024 um 12:11 Uhr
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    Mit der Unterstützung der UNRWA können wir nur entweder die humanitäre Hilfe UND die Hamas, oder aber keine von beiden mitfinanzieren. Das ist meines Erachtens schon ein grosses Dilemma. Das dies im Bericht gar nicht thematisiert wird und die Hamas nicht mit einem einzigen Wort Erwähnung findet, ist schon ziemlich einseitig. Anstatt einer differenzierten Auseinandersetzung mit dieser Problematik wird lieber versucht, das Thema in ein links-rechts-Schema zu zwängen.

  • am 28.12.2024 um 12:33 Uhr
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    Gemäss Vierter Genfer Konvention ist die Besatzungsmacht zum Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Israel macht genau das Gegenteil. Indem die Schweiz und andere Staaten (wie auch Schweden) der UNRWA die Mittel entziehen, bestrafen sie nicht nur die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebiete Gaza und Westbank, sondern auch die von ihr unterstützten palästinensischen Flüchtlinge in Jordanien, Syrien und Libanon. Die humanitäre Fassade der Schweiz bricht zusammen, ungeachtet der Lippenbekenntnisse von Herrn Cassis. Die Komplizenschaft unserer Regierungs- und Parlamentsmehrheit mit den israelischen Kriegsverbrechern ist offensichtlich.

  • am 28.12.2024 um 14:33 Uhr
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    Ich finde es Herzlos, wie einige Schweizerpolitiker sich mit dem Krieg gegen die Palestiner verhalten.
    Langsam gleitet die ganze Welt in den ABGRUND.

  • am 28.12.2024 um 19:38 Uhr
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    Stellen Sie sich vor, sie hätten einen Bekannten, nein, einen Freund, der ihnen wirklich wichtig ist. Sie merken eines Tages, dass er auf die schiefe Bahn gerät. Er wird gegenüber seinen Mitbewohnern und Nachbarn zunehmend aggressiv und gewalttätig. Er wird sogar zum Mörder. Sie wissen, er war in der Vergangenheit Opfer eines abscheulichen Verbrechens, das ihn traumatisierte. Sie verstehen, warum er tut was er tut.

    Aber gerade weil er doch ein guter Freund ist, sollten sie nicht versuchen, ihn aufzuhalten und ihm zu helfen?

    Werden sie seinen Mitbewohnern und Nachbarn nicht helfen, weil er ihnen androht, die Freundschaft aufzukündigen?

    Die Schweiz betrachtet Israel als Freund. Gerade das sollte uns verpflichten, das Richtige zu tun. Wenn in Israel wieder Vernunft einkehrt, wird sein Volk allen dankbar sein, die nicht tatenlos zugeschaut oder den Wahnsinn sogar unterstützt haben.

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