Die EU wandelt sich mehr als die SP-Lohnschützer zugeben
Gewerkschaften kritisieren den Europäischen Gerichtshof (EuGH) regelmässig harsch. Etwas freundlicher klingt es im SP-Strategiepapier für die Schweizer Europapolitik. Doch wirklich gebessert habe sich das hohe EU-Gericht nicht. Der EuGH habe seine Rechtsprechung bei Lohnschutzfragen angepasst, ohne den Grundsatz über Bord zu werfen, dass kollektive Massnahmen von Arbeitenden die Freizügigkeitsrechte der Unternehmen im Binnenmarkt respektieren müssten, heisst es da. Es klingt noch immer die Empörung nach, die der EuGH im Jahre 2007 mit Urteilen gegen Streiks in Finnland und Schweden europaweit ausgelöst hatte.
Die Passage auf Seite 10 setzt den skeptischen Grundton zum Lohnschutz, der sich in mehreren Passagen im SP-Strategiepapier zur Europafrage fortsetzt und verschärft. Der Lohnschutz soll «im Sinne der Autonomie der einzelnen Staaten geregelt werden», «zugunsten einer Relokalisierung der Arbeit überdacht werden», «in der Kompetenz des Gastlandes» von entsendeten Arbeitnehmenden liegen müssen, «in der Zuständigkeit der Innenpolitik» bleiben, wird in einem 17 Zeilen langen Abschnitt (auf Seiten 26 und 27) gleich vierfach betont. Der EuGH habe sich nicht einzumischen. Die Interpretation, ob die Lohnschutzmassnahmen «europarechtskonform» sind, soll allein der Schweiz vorbehalten sein. Als Konzession heisst es lediglich, dass der Lohnschutz «in Abstimmung mit den anderen europäischen Staaten und der EU» erfolgen soll. Von vertraglich vereinbarter Regelung ist aber nicht die Rede.
Was verschwiegen wird
Als Beleg, dass sich der EuGH nicht gewandelt haben soll, führt das Strategiepapier eine Studie der Europarechtsprofessorin Sacha Garben vom College of Europe in Brügge an, in der EuGH-Urteile von 2007 und 2015 analysiert und verglichen werden. Dass die EU-Richter nach dieser Publikation die Leitplanken für den Lohnschutz für entsendete Arbeitskräfte neu gesetzt haben, bleibt im Strategiepapier unerwähnt. Sie taten es in ihrem Urteil vom Dezember 2020 gegen die von Polen und Ungarn eingereichten Klagen zur Revision der Entsenderichtlinie.
Die neue Entsenderichtlinie orientiere sich nicht mehr einzig an der Dienstleistungsfreiheit als eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, ist hier zu erfahren. Sie stellt neu auch auf das im «Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV» verankerte Ziel eines angemessenen sozialen Schutzes ab. Die Rechte der in den Aufnahmemitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer werden gestärkt, hielten die Richter in ihrer Urteilsbegründung fest. Und weiter: Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen, die Arbeitnehmer in einen Mitgliedstaat entsenden, und den dort ansässigen Unternehmen soll sich unter faireren Bedingungen entwickeln. Oder anders formuliert: Die Dienstleistungsfreiheit gilt nurmehr eingeschränkt. Fairer Wettbewerb statt freier Wettbewerb ist die neue Leitplanke.
Mehr als nur eine Anpassung der Rechtsprechung
Mit Martin Höppner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung bestätigt ein Forscher den Wandel, der sich in vielen Studien als kritischer Beobachter des EuGH einen Namen gemacht hat. In einem zusammen mit Christine Haas verfassten Forschungspapier zur Frage «Dürfen europäische Gesetze Grundfreiheiten einschränken?» stellte Höppner fest, dass die EU mit der neuen Entsenderichtlinie «nicht lediglich zuvor ergangenes Fallrecht kodifizierte, sondern über den Stand der Rechtsprechung hinausging». (Seite 22). Der EuGH passt also die Rechtsprechung nicht nur an – wie im SP-Strategiepapier behauptet. Er richtet sie neu aus.
Auch der an der Universität von Antwerpen lehrende Herwig Verschwueren kommt in einem Fachartikel über das EuGH-Urteil gegen die Klagen Polens und Ungarns zum Schluss, dass mit der revidierten Entsenderichtlinie die sozialen Ziele der EU auch «für die Regulierung des Binnenmarktes und des freien Dienstleistungsverkehrs gelten».
Das SP-Strategiepapier wertet die neue Entsenderichtlinie zwar als «wichtigen Fortschritt» und würdigt das neu verankerte Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» als «rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten». Dass der EuGH im Zuge der Revision dem Sozialschutz einen höheren Stellenwert einräumt – so Höppner und Haas auf Seite 24 ihres Papiers – und die Dienstleistungsfreiheit als eine der Grundfreiheiten des Binnenmarktes eingeschränkt wurde, wird aber nicht anerkannt.
Das Papier schweigt sich auch darüber aus, welche konkreten Fortschritte die revidierte Entsenderichtlinie bringt. Die Liste an Verbesserungen ist immerhin beachtlich. Es geht nicht mehr nur um die Einhaltung von Mindestlöhnen, wie es in den Bestimmungen der Flankierenden Massnahmen in der Schweiz noch immer heisst. In der EU gilt neu die «Entlohnung» als schützenswert, zu der auch Zuschläge und Zulagen vielfältiger Art gehören. Der Kern der Arbeitsbedingungen gilt neu über die Baubranche hinaus, die Bestimmungen wurden auf grenzüberschreitende Leiharbeit erstreckt, das nationale Arbeitskampf- und Tarifrecht bleibt jetzt unberührt. Die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung folgerte, dass die Mitgliedstaaten im Prinzip «ganze Tarifverträge in die nationalen Entsendegesetze aufnehmen» könnten (Seite 7). Die Eckpunkte der revidierten Richtlinie erweitern offensichtlich den nationalen Spielraum für Lohnschutzmassnahmen.
Mehr Lohnschutz auf europäisch ist möglich
Statt an den neuen Möglichkeiten der Entsenderichtlinie anzusetzen und diese mit konkreten Inhalten zu füllen, markiert das SP-Strategiepapier an mehreren Stellen Distanz zu den europäischen Lohnschutzbestrebungen. Im Abschnitt über ein neues Europa-Gesetz ist zwar die Rede vom Ziel europarechtskonformer Lohnschutzmassnahmen, wird aber gleich wieder relativiert durch den Anspruch, die Interpretation darüber selber vornehmen zu dürfen.
Es wäre die ideale Gelegenheit für die SP, ein europarechtskonformes Lohnschutzkonzept auf der Basis der revidierten Entsenderichtlinie und der 2017 lancierten «europäischen Säule sozialer Rechte» zu erstellen. Dazu könnte ein nationaler Mindestlohn gehören, wie es die EU demnächst entscheidet, die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern, Regeln gegen die Scheinselbständigkeit und prekäre Verhältnisse für die Beschäftigten in den sogenannten Plattform-Unternehmen, die Förderung tarifvertraglicher Vereinbarungen und anderes mehr. Die Schweiz könnte auch ihr Sanktionsregime verstärken, damit es «abschreckend» wirkt, wie es selbst der EuGH postuliert.
Der Bundesrat und bürgerliche Pro-EU-Kreise mögen dafür wenig Verständnis aufbringen, wie die NZZ vor kurzem zu berichten wusste (21. Mai 2022). Das kann aber kaum Grund sein, weshalb die SP in der Lohnschutzdefensive verharrt.
Noch hat die SP Zeit, ihre Analyse über den neu geltenden Lohnschutz in der EU auf den aktuellen Stand zu bringen, die – auch von der SP-PS-Section EU beklagten – europapolitischen Unstimmigkeit zwischen dem Wunsch nach möglichst viel Zugang zum grossen Binnenmarkt und der Propagierung der lohnpolitischen Autonomie zu beheben. Der im Strategiepapier propagierte «Aufbruch» nach Europa würde glaubwürdiger.
Anspruch auf Sonderbehandlung für Nicht-EU-Mitglied Schweiz?
Warum soll die Schweiz als Nicht-Mitglied der EU nicht Anspruch auf Ausnahmen geltend machen? Der EuGH hat 2009 in einem Urteil diesen Anspruch als gerechtfertigt bezeichnet. Daran erinnert der Arbeitsmarkt-Experte der Universität Basel, Kurt Pärli, in seiner Studie «EU-Entsenderecht zwischen Markt und Sozialschutz». Da die Schweiz nicht dem Binnenmarkt der Gemeinschaft beigetreten ist, könne – so der EuGH – «die den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt gegebene Auslegung nicht automatisch auf die Auslegung des Abkommens übertragen werden, sofern diese nicht im Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist». Folglich könne die Schweiz – so Pärli – insbesondere im Bereich der Dienstleistungsfreiheit über einen gewissen Spielraum verfügen, da das Freizügigkeitsabkommen dafür nur eine Teilliberalisierung vorsehe.
Ob sich diese Haltung auch in Zukunft rechtfertigt, ist trotzdem offen. Denn die Schweiz wünscht sich viele neue Abkommen mit ungehindertem Zugang zum Binnenmarkt. Und je mehr davon, umso weniger dürfte die EU bereit sein zu Sonderregeln, erst recht nicht zu völligem Ausscheren bei einzelnen Abkommen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Dass die EU Europa zusehends zerstört, sollte spätestens mit dem Ukrainekonflikt offensichtlich sein.
Meine Überzeugung war auch einmal eine andere, aber so schade es ist, muss ich heute feststellen, dass die EU ein durch und durch neoliberales Werkzeug für die Wirtschaftsinteressen einer immer reicher und mächtiger werdenden Oligarchie ist und sich zudem über die Jahre zu einem willfährigen, blind US-amerikanischen Bedürfnissen und Befindlichkeiten folgenden Machtblock gewandelt hat.
Die politische Entblödung und das Spiel mit dem Feuer im Russland-Ukraine-Konflikt, welches sich derzeit von Tag zu Tag weiter steigert, ist die endgültige Disqualifikation für jedwelche Überlegungen, die Schweiz wäre innerhalb der EU gut aufgehoben. Im Gegenteil ist beim derzeitigen Zustand der EU anzunehmen, dass die CH diese zu guter Letzt noch überleben wird. Die EU so wie sie heute ist, ist überflüssig wie ein Kropf.
Der Artikel weist auf eine wichtige und für die Arbeitnehmerseite positive Entwicklung in der EU hin. Aber Pascal Spring sieht anderes im Vordergrund: Die EU sei die Ursache für den Russland-Ukraine-«Konflikt». Um den «Konflikt» zu lösen sind Putin und seinen silowikis alle Mittel recht. Gegenwärtig sterben täglich 200 – 300 Menschen deswegen, von zerbombten Städten noch nicht zu reden. Nein, die SP Schweiz tut gut daran ihr Strategiepapier zu überarbeiten und damit eine Führungsrolle in der Annäherung an die EU einzunehmen wäre notwendig und gut.
Die Brüsseler EU ist ein neoliberales Deregulierungs- und Privatisierungs-Projekt. Ein zentralistisch-undemokratisches zudem. Und mit einem mächtigen Gerichtshof, der sich immer mehr als Gesetzgeber gebärdet. Diese ungute Grundlage von gestern bleibt trotzaller auch hier teils wieder zitierter Gutachten und Studien bestehen. Sie hat mit linken Anliegen wenig zu tun. Die SP Schweiz weiss das eigentlich auch: «Dass die Arbeitsleistung ohne Niederlassungsrecht als ‘Ware’ ohne ‘unverhältnismässige’ Einschränkung exportiert werden kann, muss zugunsten einer Relokalisierung der Arbeit überdacht werden», steht zurecht in ihrem EU-Papier. Kurzum: Die «Personenfreizügigkeit» der EU steht beschönigend für europa-weites Saisonnier-Elend. Steht für Delokalisierung und Entwurzelung dem Kapital hinterher «entsandter» Wanderarbeiter. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran hat längst schon davor gewarnt. Doch ihre SP will unser Land da immer noch weiter mit reinreiten. Aus linker Sicht ein klares NoGo.
Indem ich erwähnt habe, dass ich die EU für ein neoliberales Instrument zugunsten einer kleinen reichen Elite hier in Europa halte, habe ich durchaus Bezug zum eigentlichen Thema des Artikels genommen; ehrlicherweise muss man das, was Herr Ramseyer hier sagt voll und ganz bejahen; im Rahmen der sogenannten Personenfreizügigkeit ging es mit den Arbeitnehmerrechten nur noch bergab. Diese Entwicklung hat schlussendlich zu einem race to the bottom geführt. Beispiel Pflegebereich: die Schweiz nimmt Deutschland die Pflegekräfte weg, Deutschland den Polen, die Polen den Ukrainern usw. Polen denkt bereits darüber nach, Pflegekräfte von den Philipinen anzuwerben.
Wohin soll das denn führen? Und beim besten Willen: ich sehe keine Bestrebungen innerhalb der EU, die daran etwas ändern wollen. Die EU so wie sie heute ist, ist eine völlig undemokratische, durchwegs nicht vom Volk legitimierte Institution. Das Parlament der EU heute hat weniger Kompetenzen als das während des deutschen Kaiserreichs.