Kommentar
Die EU provozierte den Bundesrat – zu unserem Glück
Ein Sturm der Entrüstung zog durchs Land. Brüssel hatte ihn ausgelöst mit der Äusserung, die Schweiz habe in den letzten Verhandlungstreffen keine Vorschläge gemacht, nicht gesagt, was sie am Institutionellen Rahmenabkommen wie ändern möchte. Die Reaktionen waren heftig. Das stimme nicht, war noch die höflichste Formulierung. Die EU setze Information als Waffe in den Verhandlungen ein, meinte schon angriffiger der frühere persönliche Mitarbeiter von Aussenminister Burkhalter und jetzige Nationalrat Damien Cottier. Andere kritisierten die Schweizer Korrespondentinnen und Korrespondenten, weil sie sich durch Brüssel instrumentalisieren liessen, ein Insider der Schweizer Verhandlungsequipe hat die EU-Kommission gegenüber dem Blick gar der Lüge bezichtigt.
Klar, Information ist Teil eines Verhandlungspokers. Die Wortwahl ist oft nicht zufällig, wird taktisch gezielt gewählt. Ziel: Die Gegenseite soll in die Defensive gedrängt werden. Das ist auch passiert. In der Schweiz versuchten sich zwar manche im Gegenangriff. Doch der Bundesrat geriet zum Glück in Panik, musste seine über Monate hinweg praktizierte Haltung der Informationsverweigerung aufgeben. Er wimmelte die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommissionen in Bern nicht mehr nur mit Informationshäppchen ab, sondern gab Auskunft darüber, was er zuletzt getan hat. Wegen eines Leaks konnte er auch nicht mehr anders. Und so dürfen die Bürgerinnen und Bürger des Landes jetzt wissen, was in etwa der Stand der Verhandlungen mit der EU ist – und damit viel mehr als über all die vielen Jahre der Verhandlungen mit der EU.
Die Provokation der EU-Kommission war also ein Glücksfall für das Schweizer Stimmvolk, eine Blamage aber für den Bundesrat. Nach jahrelangem Verheimlichen und Verzögern musste er etwas Licht ins Dunkel seines Handelns bringen. Man darf es auch Rechenschaft gegenüber dem Volk ablegen nennen.
Erst jetzt wissen wir, dass es um mehr als Klärungen gehen soll
Wir können jetzt einigermassen wissen, was hinter den zu Floskelwörtern verkommenen Begriffen Klärungen und Präzisierungen steckt, die der Bundesrat vor bald zwei Jahren in einem Brief an den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker geäussert hatte. Jetzt wissen wir, dass der Bundesrat mehr als nur die eine oder andere Fussnote zum vorliegenden Vertragstext anbringen möchte. Wir wissen auch, dass er den vorliegenden Text nicht mehr als «in weiten Teilen den Interessen der Schweiz» taxiert, sondern nun als unausgewogen bezeichnet. Oder anders gesagt: Was der Bundesrat vor zwei Jahren sagte, soll jetzt nicht mehr gelten. Mehr als nur eigenartig ist aber, dass er das Parlament und die politische Öffentlichkeit nicht längst darüber informiert hat. Er hätte im Inland bestimmt an Ansehen gewonnen. Er hätte spätestens dann von Nachbesserungen im Vertragstext reden müssen, als die EU über verschiedene öffentlich wahrnehmbare Kanäle Nachverhandlungen nicht mehr ausgeschlossen hatte.
Mit Journalisten-Bashing von eigenem Umvermögen ablenken
Der Bundesrat hat nicht informiert, er hat nicht mal nachvollziehbar erklärt, warum er nicht informiert. Damit hat er den aussenpolitischen Führungsanspruch, den er als Regierung erfüllen müsste, nicht wahrgenommen. Um vom eigenen Versagen abzulenken, werden die angeblich instrumentalisierten Schweizer Journalisten in Brüssel diffamiert. Der EU-Skeptiker unter den alt-SP-Nationalräten, Rudolf Strahm, machte sich in einer Kolumne mit dem Vorwurf «eingebetteter SRG-Journalisten» zum «Megaphon» der geheimnistuerischen Verwaltung.
Diese Vorwürfe gab es schon in den 1990er Jahren, zur Zeit der Verhandlungen über die Bilateralen I. Auch damals – ich war als Korrespondent in Brüssel – wurde dieser Unsinn in Bern herumgeboten, um von der schon damals betriebenen Informationspolitik auf Sparflamme abzulenken.
Was wäre jetzt, wenn die Korrespondentinnen und Korrespondenten die in Brüssel kursierenden Einschätzungen nicht weitergegeben hätten? Wir wüssten noch immer nicht, was unser Bundesrat und unsere Verwaltung tun oder auch nicht tun wollen. Sie würden noch immer verwedeln, verzögern und uns mit ihrer Geheimdiplomatie täuschen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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