Der Bundesrat «bedauerte» US-Angriff und «verurteilt» Russland
Die Empörung wäre mit Recht gross gewesen, hätte die Schweizer Regierung nach der Invasion Russlands in die Ukraine erklärt:
«Der Bundesrat bedauert die Anerkennung von Luhansk und Donezk. Die Ukraine trägt eine Mitschuld, weil sie diesen Bezirken keine Autonomie gemäss ‹Minsk II› gewährte.»
Tatsächlich hatte der Bundesrat auf die Invasion Russlands nicht derart relativierend und zurückhaltend reagiert, sondern den Angriff klar verurteilt und Russland einer Verletzung des Völkerrechts bezichtigt.
Ganz anders aber, als die USA im Jahr 2003 den Irak angriffen. Der Bundesrat reagierte ziemlich verständnisvoll. Trotzdem löste er in den Medien keine Empörung aus. Die USA begannen den Krieg gegen Irak ohne Uno-Mandat und ohne ernsthaft bedroht zu sein. Es war ein völkerrechtswidriger Krieg, der eine halbe Million zivile und militärische Opfer fordern sollte.
Es geht hier darum, zu zeigen, wie unterschiedlich die Schweizer Regierung reagiert.
Bundesrat: «Eklatante Verletzung des Völkerrechts»
Im Fall Russlands sprach das Aussendepartement von einer «eklatanten Verletzung des Völkerrechts» und bestellte den russischen Botschafter in Bern ein, um ihm die Haltung der Schweiz klarzumachen.
Im früheren Fall der USA von 2003 «bedauerte» Bundespräsident Pascal Couchepin, dass sich die USA ohne Zustimmung der Uno für die Anwendung von Gewalt entschieden hätten. Aber, ergänzte Couchepin: «Auch Iraks Präsident Saddam Hussein trägt eine schwere Mitschuld.». Die Schweiz verhalte sich in diesem Konflikt neutral.
Damals hatte der Bundesrat darauf verzichtet, den US-Botschafter in Bern ins Bundeshaus zu zitieren, um ihm die Verurteilung der Schweiz mitzuteilen. Laut der Nachrichtenagentur AP sagte Staatssekretär Franz von Däniken an einer Pressekonferenz, der Schweizer Botschafter in den USA werde im Weissen Haus vorstellig.
Am Tag nach Kriegsbeginn hatte der Tages-Anzeiger getitelt: «Der Tag der Befreiung ist vielleicht nahe» und von der «Operation Freiheit Irak» geschrieben.
Als Russland fast zwanzig Jahre später Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannte, titelte der Tages-Anzeiger am 23. Februar 2022 Klartext: «Der Brandstifter versetzt die Welt in Schockstarre».
Kritischer Kommentar im Berner «Bund»
Der damalige «Bund»-Auslandredaktor und langjährige Korrespondent in den USA, Johann Aeschlimann, hatte 2003 am Tag nach Kriegsbeginn in Irak kommentiert:
«Für ein Land, welches seine Stellung in der Welt dermassen am Völkerrecht definiert, hat die Schweiz sich zum Kriegsausbruch ausgesprochen zahm geäussert. Die Erklärung, welche Bundespräsident Couchepin gestern Morgen vor der Vereinigten Bundesversammlung vorlas, schlängelte sich an allen eindeutigen Marksteinen vorbei. Insbesondere unterliess sie es, einen Bruch des Völkerrechts klar festzustellen, das amerikanische Vorgehen zu verurteilen oder umgekehrt das Vorgehen der Alliierten zu unterstützen.
Hauptpunkte der von Couchepin und dem Aussenministerium entworfenen Erklärung sind:
• Die Schweiz «bedauert», dass die USA sich ‹über die Uno-Charta hinweggesetzt haben›.
• Irak trifft ‹schwere Schuld› am Krieg, weil Saddam Hussein Grundrechte verletzt, Massenvernichtungsmittel an sich gebracht, Kuwait überfallen und Uno-Resolutionen missachtet hat.»
In der Situation in der Ukraine bestünde die «Schuld» der Ukraine darin, dass sie sich explizit weigerte, wie im Abkommen «Minsk II» vereinbart, die Verfassung zu ändern und den beiden russisch sprechenden Regionen Luhansk und Donezk einen autonomen Status zu gewähren.
Eine solche «Schuld» der Ukraine oder des Irak rechtfertigt in keiner Weise diese Angriffskriege. Sie zeigen lediglich, dass Kriege nicht ohne Vorgeschichte im luftleeren Raum entstehen.
Abkommen Minsk II:
Die Vereinbarungen von «Minsk II» umfassen – grob skizziert vom wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags – eine umfassende Waffenruhe und die Einrichtung einer Pufferzone, einen Gefangenenaustausch, die Überwachung des Waffenstillstandes durch die OSZE, eine Verfassungsreform in der Ukraine mit der Einräumung eines «Sonderstatus» für die Rebellengebiete rund um Donezk und Luhansk, die Durchführung von Lokal- bzw. Regionalwahlen, die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen an der Grenze zu Russland sowie eine Amnestie für Straftaten im Zusammenhang mit dem Ostukraine-Konflikt.
Die Ukraine sagte über die Einhaltung der Waffenruhe hinaus zu, informelle Kampfverbände aufzulösen, ein Amnestiegesetz, ein Sonderstatusgesetz und eine Verfassungsänderung zu erlassen, Sozial- und Rentenzahlungen an die Bevölkerung in den Gebieten wiederaufzunehmen sowie eine Strategie zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des Konfliktgebiets zu entwickeln.
Die beiden Minsker-Abkommen sind original in russischer Sprache. Eine englische Übersetzung ist hier zu finden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Dass sich die Schweiz kulturell westlich orientiert sieht, wie auch Österreich, ist unbestritten.
Das bedeutet aber nicht, dass auch Handlungen westlicher Regierungen mit Skepsis hinterfragt werden können, wenn diese anerkannte Grundwerte/-regeln missachten, umdeuten, etc.
Neutralität ist nach meinem Verständnis, sich der Mühe zu unterziehen, die Interessenslage aller Konfliktbeteiligten zu beachten und zu verstehen. Das heißt nicht, diese uneingeschränkt zu akzeptieren, aber auch nicht, sie zu missachten. Hussein war das schlagende Beispiel: solange er den Krieg gegen den Irak im Sinne Amerikas geführt hat, war er geliebt worden. Und was die MVW´s betrifft, sind diese bisher von Niemand gefunden worden. Neutralität sollte nur EIN Maß kennen!
Ich habe darüber, ob die Meinung der Schweiz international relevant ist, so meine Zweifel. Man müsste hier auch das Schweizer Verständnis von Völkerrecht einmal kritisch beleuchten. Oft wird es so dargestellt, als handle es sich dabei um ‹Gesetzte›, die, wie im Falle des Schweizer Strafgesetzes, durch einen Gesetzgeber, auf demokratischem Wege, erlassen worden und die akribisch zu befolgen seien. Beim Völkerrecht handelt es sich aber in Wirklichkeit um ‹Normen und Regeln›, welche Staaten in bilateraler oder multilaterales Weise, untereinander vereinbart haben und sich IN DER REGEL daran halten. Oft sind wichtige Staaten aber gar nicht Partei dieser Vereinbarungen. Es kommt aber auch vor, dass es Ausnahmen zur Regel gibt oder zumindest Unterschiede in der Auslegung existieren. Bei diesen Regeln und Normen gibt es regelmässig auch ‹Normenkollisionen› und es ist Auslegungssache, welche nun Priorität hat. Diese Auslegung der Staaten wird meist gesteuert durch die nationalen Interessen.
Der damalige Irak unter Saddam war 2003 durch Sanktionen und den 1. (nach anderer Lesart 2.) Golfkrieg 1991 bereits zermürbt und zu keiner außenpolitisch bedrohlichen oder militärisch-terroristischen Handlung gegen die USA fähig. Es gab auch keine bedrohte us-amerikanische Minderheit im Irak, es fand auch keine religiöse Verfolgung von Christen statt. Der Irak hatte auch keine Absicht, eine den USA feindliche Macht in sein Territorium zu lassen. Wie man es dreht und wendet: der Irakkrieg 2003 ist seitens der Angreifer (USA und Verbündete) ein in jeder Hinsicht unrechtmäßiger Akt, mithin ein Verbrechen.
Gleiche Schieflage in deutschen Medien: Die Verwendung des Wortes „Angriffskrieg“ im redaktionellen Kontext:
Z.B. Süd. Zeitung.: während der ersten fünf Wochen des Irak-Krieges 2003 wurde das Wort „Angriffskrieg“ 54 Mal verwendet, davon aber nur 7 Mal in redaktionellen Beiträgen der SZ gemünzt auf die USA. Die übrigen Mal als Zitat in Berichten von Demonstrationen, dann jeweils nur in der Lokalausgabe.
In den ersten fünf Wochen des Ukrainekrieges kam das Wort „Angriffskrieg“ dagegen 484 Mal und zwar überwiegend in den überregionalen Teilen der SZ vor.
Ganz ähnlich im Bremer Monopolblatt Weser-Kurier: In fünf Wochen des Ukrainekrieges wurde „Angriffskrieg“ 212 Mal in 118 Artikeln abgedruckt, in den ersten fünf Wochen des Irakkrieges nur 29 Mal in 16 Art., dort auch praktisch nie als redaktionelle Situationsbeschreibung.
Ganz ähnlich bezogen auf den Kosovokrieg: 21 X „Angriffskrieg“ nur als Zitat in 11 Artikeln (Art.), aber 720 X „Krieg“ in 201 Art. und 46 X „Intervention“ in 15 Art.
Man kann davon ausgehen dass der CH Bundesrat die (vermeintlichen) eigenen Interessen über alles setzt, in diesem Fall eine «gute Beziehung zu den USA». Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die hochgelobte Neutralität der Schweiz als Farce. Laut dem damaligen Geheimdienstler Jacques Baud, der vor dem Irakkrieg in seinem Bericht erwähnte dass keine Anzeichen für das von den USA kommunizierte Narrativ erkennbar seien, bzw. ein Angriff nicht gerechtfertigt wäre, wurde diese Tatsache von der CH Regierung zwar zur Kenntnis genommen, ihm aber versichert, dass die Schweiz von guten Beziehungen zu den USA abhängig wäre …….. . Dass damals im Irak keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden ist inzwischen ja bestätigt. Für mich offenbart sich zunehmend, dass auch die CH Regierung unter der «Fuchtel» der Amerikaner steht, auch in Bezug auf andere Themen.