Corona-Impfpatente: Druck auf die EU wächst
Die USA, Sitzland von vier der zehn nach Umsatz grössten Pharmakonzerne der Welt, geben ihren bisherigen Widerstand innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO) gegen eine zeitweise Aussetzung der Patentschutzrechte für Corona-Impfstoffe auf. Mit dieser Entscheidung solle eine dem dringenden internationalen Bedarf entsprechende Produktion und global gerechte Verteilung von Impfstoffen ermöglicht werden, erklärte die Handelsbeauftragte der Biden-Administration, Katherine Tai, am Mittwochabend in Washington.
Blockade bröckelt
Damit wächst der Druck auf die EU-Kommission und auf die übrigen Sitzländer der weltgrössten Pharmakonzerne – darunter Deutschland, die Schweiz, Grossbritannien, Frankreich und Japan – ihren Widerstand ebenfalls aufzugeben. Diese Staaten, die EU, Brasilien, Australien, Kanada , Norwegen sowie bislang auch die USA, blockierten in inzwischen sechs Verhandlungsrunden am Genfer WTO-Sitz seit dem September letzten Jahres einen damals von Indien und Südafrika eingebrachten und seitdem von über 120 Staaten unterstützten Antrag auf Aussetzung der Patentschutzrechte.
«Die Regierung der USA glaubt fest an den Schutz geistigen Eigentums, aber im Dienste einer Beendigung der Pandemie unterstützt sie das Aussetzen dieses Schutzes für Covid-19-Impfstoffe», begründete Tai die Kehrtwende der USA. Es handle sich um eine globale Gesundheitskrise, «und die aussergewöhnlichen Umstände der Covid-19-Pandemie erfordern aussergewöhnliche Massnahmen». Ziel der Regierung von US-Präsident Joe Biden sei es, «so viele sichere und wirksame Vakzine zu so vielen Menschen so schnell wie möglich zu bringen». Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf, Tedros Adhanom Ghebreyesus, begrüsste die Entscheidung der USA als historisch.
Gründe für die Kehrtwende
Ausschlaggebend für die Kehrtwende der USA ist nach Angaben von DiplomatInnen neben den inzwischen erreichten Fortschritten bei der Bekämpfung der Pandemie im eigenen Land vor allem die dramatische Lage in Indien und auch in Brasilien. Die Biden-Administration habe realisiert, dass die Covax-Initiative und andere Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie, auf die auch die Bundesregierung und die EU bislang in ihrem Widerstand gegen eine Aussetzung des Patentschutzes
verweisen, unzureichend sind.
Mit der im Mai 2020 im Rahmen der WHO gestarteten Covax-Initiative sollten bis Ende 2021 die ärmsten Länder der Welt mit Impfstoff für die Risikogruppen versorgt werden. Doch ohne eine deutliche globale Ausweitung der Impfstoff-Produktion wird Covax nach Berechnungen der internationalen NGO-Koalition People´s Vaccine Alliance bis Ende 2021 nicht einmal zehn Prozent dieser Bevölkerungsgruppen mit Impfstoff versorgen können. Durch die weltweiten Produktionsengpässe werden nicht ausreichend Impfdosen hergestellt und der Grossteil der Produktion wird in wohlhabenden Ländern verimpft. Da Indien Hauptlieferant von Impfdosen an Covax war, nun aber seit März alle Exporte auf Grund der dramatischen Situation im eigenen Land ausgesetzt hat, könnte sich diese Prognose sogar verschlechtern.
Weitere Initiativen
Zudem würden auch andere «konkrete Initiativen, die Covax bei der Zielerreichung unterstützen würden, von Deutschland blockiert», kritisierte die evangelische Hilfsorganisation Brot für die Welt. Der Technologiepool CTAP der WHO etwa hält die Unternehmen dazu an, freiwillig Lizenzen und Knowhow zu teilen sowie Impfdosen an Covax abzugeben. Brot für die Welt forderte die deutsche Regierung auf, «dem Beispiel der USA zu folgen und sich jetzt in der EU dafür stark zu machen, den Patentschutz für Covid-19-Impfstoffe auszusetzen».
Die dramatische Lage in Indien prägte auch eine interne Beratungsrunde von WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala mit BotschafterInnen aus Industriestaaten und Entwicklungsländern am Mittwoch. Die Sitzung sei konstruktiver verlaufen als vorangegangene, erklärte ein WTO-Sprecher. Indien und Südafrika hätten angekündigt, ihren bisherigen Antrag auf Aussetzung der Patente zu überarbeiten und in der kommenden Woche einen möglichen Kompromisstext vorzulegen.
«Grossartiges Zeichen»
Die WTO-Generaldirektorin begrüsste die Kehrtwende der USA. In die bislang starren Fronten der WTO ist Bewegung gekommen. So lobte die australische Regierung – in Abkehr von ihrer bisherigen Position – die Entscheidung der USA als «grossartiges Zeichen», und Frankreich leistet in letzter Zeit keinen Widerstand mehr gegen eine Aussetzung des Patentschutzes. Eine nächste formale Verhandlungsrunde des Rates der 164 WTO-BotschafterInnen wurde für den 8./9. Juni anberaumt.
Die Patentschutzrechte sind Teil des 1994 vereinbarten WTO-Abkommens über handelsrelevante geistige Eigentumsrechte (TRIPS). Ihre Aussetzung im Fall internationaler gesundheitlicher Notlagen erfordert allerdings einen Konsensbeschluss der WTO-Mitglieder.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Darf man daran erinnern, wozu der Patent-Schutz dient? Er ist eine Entschädigung für einen geleisteten Forschungs-Aufwand. Man könnte ja allgemein Patente aufheben. Dann forscht niemand mehr oder nicht mehr seriös!
Nein, sehe ich nicht so, da es ein politischer Entscheid ist ausschliesslich patentierte Impfstoffe zu verwenden. Es fehlt der Hinweis, dass z.B. Sinovac und Sputnik mit Lizenz produziert werden kann, somit kein Patentschutz aufgehoben werden muss.
Die grossen innovativen Durchbrüche kommen überwiegend durch den Staat (!) zustande.
Diese Aussage ist für viele kompletter Irr-/Blödsinn, «da wir doch wissen: Der Staat ist träge, die Privatwirtschaft dynamisch und innovativ».
Wer an den Lippen der Reichen, der Unternehmer und deren Medien hängt, kann sich – ‹mit besten Willen› – nichts anderes vorstellen.
Nur, so ist es nicht.
Nur schon rudimentäre Kenntnisse über marktwirtschaftliche Mechanismen könnten einem eines Besseren belehren: Innovative Technologien, die Gesellschaft/Wirtschaft wirklich fundamental zu verändern vermögen, machen langfristige, über Dekaden stattfindende Forschungs- und Investitionsanstrengungen erforderlich. Solches ist für Privatunternehmen schlicht zu risikobehaftet, werden sie doch praktisch nach Quartalsresultaten beurteilt.
Die Privatwirtschaft möchte daher, dass der Staat/Steuerzahler das Risiko trägt, indem er – à fonds perdu – die kostspielige Forschung betreibt und bezahlt (das ist Risikokapital!). Erst wenn alles soweit gediehen ist, dass eine Kommerzialisierung in Sichtweite ist, steigt die Privatwirtschaft ein (und fordert den Staat ‹höflichst› beiseite zu treten) um – gleich noch mit Patentierungen – zur Verwertung/Gewinnabschöpfung zu schreiten.
Computer, Internet, Smartphone, mRNA-Impfstoff – dem Staat/Steuerzahler sei Dank:
https://www.ted.com/talks/mariana_mazzucato_government_investor_risk_taker_innovator
https://www.nytimes.com/2021/04/08/health/coronavirus-mrna-kariko.html