Chile Porträts Opfer der Militärdiktatur

Ein Ausschnitt aus der Galerie der Opfer der Militärdiktatur im Museo de la Memoria in Santiago. © Josef Estermann

Chile: Der lange Schatten von Pinochet

Josef Estermann /  Das reichste Land Südamerikas kämpft noch immer mit den Nachwehen der Diktatur von Augusto Pinochet.

Red. Josef Estermann, regelmässiger Autor bei Infosperber, lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien. Momentan befindet er sich auf Vortragsreise in Argentinien, Bolivien und Chile.

Seit dem 11. März 2022 hat Chile mit dem Staatspräsidenten Gabriel Boric eine ausgesprochen linke Regierung. Zuvor wechselten sich die eher konservativen Präsidenten Aylwin, Frei und Piñera mit den progressiven Präsidenten Lagos und Bachelet ab. Aber bis 1990 war das Land während fast siebzehn Jahren mit eiserner Hand von General Augusto Pinochet geführt worden. Die extreme Rechte, die sich noch immer Pinochet zugehörig fühlt, ist noch heute allgegenwärtig.

Neoliberalismus und Diktatur

Chile gilt als das erste Versuchsfeld eines Neoliberalismus, wie er von Friedrich von Hayek und den Chicago Boys ab 1985 umgesetzt wurde. Die Diktatur von Pinochet bot dafür den geeigneten institutionellen Rahmen. Staatsbetriebe wurden systematisch privatisiert, genauso wie das Rentensystem, der Gesundheitssektor und das Bildungssystem. Dank des «Wirtschaftswunders» konnte sich Pinochet so lange an der Macht halten und auch nach seiner demokratisch erfolgten Abwahl bis zu seinem Tod 2006 Immunität geniessen.

Chile Terrassenhäuser Bauboom
Diese Terrassenhäuser zeugen vom Bauboom in Viña del Mar.

In keinem anderen Land Lateinamerikas ist diese dunkle Vergangenheit bis heute so wenig aufgearbeitet, geschweige denn verarbeitet worden. Augusto Pinochet und die Zeit der Diktatur werfen noch immer lange Schatten. Der Gegner von Gabriel Boric in der Stichwahl zum Staatspräsidenten, José Antonio Kast, gilt als Verehrer von Pinochet und gehört zur extremen Rechten wie Bolsonaro in Brasilien, Milei in Argentinien oder Trump in den USA. Sein Vater war Mitglied der NSDAP und deutscher Wehrmachtsoffizier, bevor er 1950 nach Chile auswanderte.

Pinochets Verfassung noch immer in Kraft

Die sozialen Unruhen von 2019 – in Chile sind sie als estallido social bekannt – entzündeten sich zwar an den angehobenen Preisen des öffentlichen Verkehrs in Santiago, weiteten sich aber schon bald auf das ganze Land aus und erfassten weite Teile der unzufriedenen Bevölkerung. Eine der Forderungen war die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, da noch immer die Verfassung aus der Diktatur von Pinochet galt, in welcher der Neoliberalismus festgeschrieben worden war.

2021 wurde die verfassungsgebende Versammlung in einem basisdemokratischen Prozess gewählt, ohne dass die traditionellen Parteien einbezogen worden wären. Vorsitzende der Versammlung war eine Vertreterin des indigenen Volkes der Mapuche, das im bisherigen politischen System immer diskriminiert und unsichtbar gemacht worden war. Während eines Jahres erarbeiteten insgesamt 154 Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung das «progressivste Grundgesetz der Welt».

Chile Wandmalerei Valparaiso
Das Recht, in Frieden zu leben: Wandgemälde in Valparaiso.

«Fuder zu stark überladen»

In Artikel 1 und 2 steht: «Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Es ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch. Es konstituiert sich als solidarische Republik.» Doch am 4. September 2022 wurde die neue Verfassung mit 62 Prozent vom chilenischen Volk deutlich abgelehnt. Was war geschehen? Christian Viera, einer der Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung und Professor für Verfassungsrecht an der Universität von Valparaiso, sagte mir gegenüber, dass das «Fuder zu stark überladen» worden sei. Der Verfassungstext enthielt nicht nur die Ehe für alle oder die Legalisierung der Abtreibung, sondern auch eine weitgehende Autonomie für indigene Völker wie die Mapuche oder Aymara, ein plurinationales Staatsmodell wie in Bolivien oder die Grundsätze der Solidarwirtschaft.

Der gesellschaftliche Aufbruch hatte eine breite Koalition von linken Kräften und damit den Sieg von Gabriel Boric ermöglicht, aber der Verfassungstext von 2022 bleibt vorerst ein Ladenhüter. Die Rechte machte sich gleich daran, einen Gegenentwurf zu präsentieren, der die seit der Diktatur erworbenen Freiheiten und Rechte weitgehend rückgängig machen wollte. Am 17. Dezember 2023 sprachen sich 56 Prozent der chilenischen Bevölkerung ebenfalls gegen diesen – dem ersten diametral entgegengesetzten – Verfassungsentwurf aus. Somit bleibt die unter General Augusto Pinochet 1980 erlassene Staatsverfassung mit vielen inzwischen erfolgten Anpassungen in Kraft.

Das Museum erfüllt eine Erziehungsaufgabe

Auf Initiative von Staatspräsidentin Michelle Bachelet wurde 2010 in der Hauptstadt Santiago das «Museum der Erinnerung und der Menschenrechte», Museo de la Memoria y de los Derechos Humanos, eingeweiht. Damit sollte ein sichtbarer Ort geschaffen werden, damit die Gräueltaten des Staatsstreiches vom 11. September 1973 und der Militärdiktatur unter Pinochet nicht vergessen gehen. Über 28’000 Oppositionelle wurden Opfer von Gefangenschaft und Folter, 2’298 wurden vom Regime umgebracht und 1’209 Personen gelten noch immer als verschwunden. Immer wieder stösst man auf Massengräber. Über 200’000 Chileninnen und Chilenen flohen ins Exil, viele auch in die Schweiz.

Chile Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1973
Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1973: Repression in den Strassen – Pablo Neruda ist gestorben – Chile gewinnt in der Schweiz gegen Xamax Neuchâtel.

Das Museum erfüllt eine wichtige Erziehungsaufgabe, spielen doch viele Chileninnen und Chilenen die Zeit der Diktatur noch immer herunter. Viele «verzeihen» Pinochet die Menschenrechtsverletzungen, da er Chile vom Kommunismus befreit und wirtschaftlich zum reichsten Land Südamerikas gemacht habe. Bei Familienangehörigen der Opfer ist die bleierne Zeit der Repression allerdings noch sehr frisch im Gedächtnis.

Das Museum hält die Erinnerung an die Gewalt und den Staatsterror wach, aber auch an den Widerstand und den Kampf der Opposition, den Mut kirchlicher Solidarität und den Einfallsreichtum im Umgehen der Pressezensur. Viele erhoffen sich, dass die aktuelle Regierung von Boric diese dunkle Zeit in der Geschichte Chiles aufarbeitet und damit zu einer Versöhnung in einer immer stärker polarisierten Gesellschaft beiträgt.

Erneute Militarisierung des Mapuche-Gebiets

Allerdings ist der anfängliche Schwung des linken Bündnisses Apruebo Dignidad («Ich stimme der Würde zu») weitgehend verpufft, und die Regierung von Boric kämpft an vielen Fronten um ihr Überleben. Chile liegt im Index der Vereinten Nationen zur Menschlichen Entwicklung (PNUD) auf Platz 44, gleich hinter Portugal und San Marino, aber noch vor den europäischen Ländern Slowakei, Ungarn oder Rumänien. Politische Streitpunkte bilden im Moment der Umgang mit den Bodenschätzen, insbesondere Lithium, und dem indigenen Volk der Mapuche.

Zur Zeit, als ich in Viña del Mar am Pazifik weilte, wurden in der südlicher gelegenen Provinz Araucanía drei Polizisten umgebracht. Die Medien wiesen mit dem Zeigefinger sofort auf die militanten und zum Teil gewaltbereiten Mapuche. Präsident Boric hatte die Ordnungskräfte im Zuge seiner Politik der Inklusion im März 2022 aus der Region abgezogen, musste diese aber schon nach zwei Monaten wieder in die Araucanía schicken, womit er eines seiner Wahlversprechen brach.

In der Region leben nicht nur die Nachfahren des stolzen Volkes der Mapuche, die von den Spaniern nie besiegt und auch vom unabhängigen Chile nur mit Müh und Not integriert werden konnten. Auch die Interessen von Landwirtschaft, Energiegewinnung und Tourismus führen regelmässig zu teilweise blutigen Konflikten mit der indigenen Bevölkerung. Grossgrundbesitzer, darunter auch einige im 19. Jahrhundert aus der Schweiz ausgewanderte Bauern, widersetzen sich einer schon lange fälligen Landreform.

Die Regierung ist weitgehend gelähmt

Auf der anderen Seite kämpft die Regierung gegen den Druck der neoliberalen Rechten und der faschistoiden Ultrarechten, die beide eine weitgehende Reprivatisierung der Bodenschätze im Norden des Landes fordern. Eines der mächtigsten Lithium-Produktions-Unternehmen wird vom Ex-Schwiegersohn von Pinochet geführt. Die Allianz von Boric hat in der Abgeordnetenkammer nur 37 von insgesamt 155 und im Senat bloss 4 von 50 Sitzen inne. Sie ist also auf Konzessionen an die Opposition angewiesen.

Im November 2025 stehen die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Es ist höchst ungewiss, ob die Linke den spektakulären Sieg von 2021 wiederholen kann. Trotz der generell guten Wirtschaftsdaten machen viele Chileninnen und Chilenen die Regierung von Boric für einen relativen Wohlstandsverlust verantwortlich – Chile ist im Index der PNUD von Rang 40 auf 44 gefallen. Die erneute Militarisierung der Araucanía und die Deals mit der neoliberalen Elite stossen zudem bei der eigenen Anhängerschaft immer mehr auf Unverständnis.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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