Bolivien und Chile: Gegensätzliche Nachbarn
Red. Josef Estermann, regelmässiger Autor bei Infosperber, lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien. Momentan befindet er sich auf Vortragsreise in Argentinien, Bolivien und Chile.
Bolivien hat mit der Schweiz einiges gemeinsam, obwohl es 40 Mal so gross ist. Das Land wird geprägt von der Gebirgskette der Anden, die bis auf über 6500 Meter reicht (Sajama 6542 m), hat eine Hauptstadt (Sucre), die man im Ausland praktisch nicht kennt, und ist wie die Schweiz ein Binnenland. Allerdings war das nicht immer so: Bis zum Salpeterkrieg von 1879 bis 1884 gehörten die Gegenden von Antofagasta (heute Chile) sowie von Iquique und Arica (heute Peru) noch zu Bolivien.
Die langen Folgen des Salpeterkrieges (1879 bis 1884)
Auf meiner zwölfstündigen Reise von La Paz nach Arica wurde ich nicht nur mit einer atemberaubenden Landschaft, sondern auch mit den noch immer offenen Wunden dieses Krieges und den Folgen für Peru und Bolivien konfrontiert. Chile gilt bis heute bei vielen Bolivianerinnen und Bolivianern als «Erzfeind», weil das Land ihnen den Zugang zum Meer weggenommen habe. Jedes Jahr wird in Bolivien am 23. März der «Tag des Meeres» gefeiert beziehungsweise der Schmach gedacht, die Chile der stolzen Nation Bolivien im «Pazifik-Krieg» (Guerra del Pacífico) zugefügt hat.
In beiden Ländern finden sich Statuen und Plätze, Strassen und Gedenktafeln, die an die Helden dieses Krieges erinnern. An den Schulen in Bolivien werden Landkarten herumgeboten, die das verlorene Territorium im Norden Chiles wie selbstverständlich beinhalten. Der ehemalige Präsident Evo Morales hat die Frage eines souveränen Meereszugangs bis zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag getragen. Die Mehrheit der Bolivianerinnen und Bolivianer ist überzeugt, dass das Fehlen eines Meereszugangs die ökonomische Situation des Landes erklärt: Es gilt nach wie vor als das ärmste Land Südamerikas.
Sattelschlepper und Tankwagen, soweit das Auge reicht
Von La Paz (3600 m), dem Regierungssitz, geht es zuerst hinauf nach El Alto (4100 m), der boomenden Satellitenstadt auf der Hochebene der Anden. Bis Patacamaya gibt es inzwischen eine von der Regierung Morales gebaute Autobahn. Danach sind es bis zur bolivianisch-chilenischen Grenze bei Tambo Quemado noch 170 Kilometer. Vorbei am höchsten Berg Boliviens, dem Sajama (6542 m), gelange ich an den Grenzposten auf 4660 Meter über Meer.
Eine rund vier Kilometer lange Kolonne von Sattelschleppern und Tanklastern wartet auf die Abfertigung. Die beiden Häfen im chilenischen Arica und Iquique sind trotz des angespannten Verhältnisses zwischen den beiden Ländern die wichtigsten Häfen für Importe und Exporte Boliviens. Zwar hat Peru im Rahmen eines freundschaftlichen Abkommens – Peru hat im Salpeterkrieg die Regionen von Arica und Parinacota an Chile verloren – Bolivien den Hafen von Ilo im Süden des Landes als zollfreie Zone zur Verfügung gestellt, aber die Transportwege sind doch fast doppelt so lang wie jene zu den beiden erwähnten chilenischen Häfen.
Ein besonderer Grenzposten auf fast 4700 Meter Höhe
Chile hat ein strenges Immigrations- und Zollsystem. Es dauert fast zwei Stunden, bis wir wieder weiterfahren können. In letzter Zeit gab es erhebliche Probleme mit Menschen aus Venezuela, die ihr Glück vor allem in Chile suchen. Sie gelten als Taschendiebe und Unruhestifter. Deshalb möchte man ihre Einreise möglichst verhindern.
Aber auch gegen den zunehmenden Drogenhandel wird immer rabiater vorgegangen. All unser Gepäck wird von Anti-Drogen-Hunden durchsucht. Und schliesslich schützt Chile seine einheimische landwirtschaftliche Produktion vor eindringenden Keimen. Ich esse noch schnell meine beiden Bananen, bevor ich bei der Kontrolle eintreffe. Es ist untersagt, Früchte und andere landwirtschaftliche Produkte einzuführen.
Chile setzt voll auf die Digitalisierung. Noch vor dem Erreichen der Grenze gilt es, eine Zollerklärung und die Einreisepapiere auszufüllen. Aber wenn man kein Handy mit QR-Leser bei sich hat, wird es sehr schwierig. Mir half der Busbegleiter mit seinem Handy aus der Patsche. Im Alltag bezahlen Chileninnen und Chilenen praktisch nur noch mit dem Handy oder mit Karte; Bargeld gibt es nur noch ausnahmsweise, etwa bei Ausländern wie mir.
Atacama-Wüste: trocken und heftig umstritten
Von der Grenze in unwirtlicher Höhe und brennender Sonne geht es in einer atemberaubenden Fahrt auf rund 180 Kilometern hinunter auf Meereshöhe nach Arica. Zuerst kommen wir an verschiedenen Sechstausendern vorbei; die meisten davon erloschene Vulkane. Immer wieder überqueren Lamas, Alpakas und Vicuñas die Strasse; die entsprechenden Schilder warnen vor solchen überraschenden Begegnungen.
Wir fahren durch das Gebiet, das zur trockensten Gegend der Welt gehört, der Atacama-Wüste. Dieses Gebiet gehörte bis 1879 zu Bolivien und ist reich an Bodenschätzen, vor allem Salpeter und Kupfer, aber auch Lithium, das im Moment auf den Weltmärkten heissbegehrt ist. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war Salpeter als natürliches Düngemittel sehr beliebt; insbesondere Deutschland und Grossbritannien importierten riesige Mengen aus der genannten Gegend, bis die synthetischen Düngemittel Salpeter endgültig verdrängten.
Friedensvertrag und doch kein Friede
Chile schloss 1904 mit Bolivien (und Peru) einen Friedensvertrag, in dem Bolivien die Zugehörigkeit der Atacama-Region zu Chile bestätigte. Im Gegenzug gewährte Chile Bolivien den zollfreien Zugang zu den Häfen von Arica und Antofagasta und den Bau einer Bahn, die den Regierungssitz La Paz mit der Küstenstadt Arica verbinden sollte. Die Bahnlinie wurde 1913 eröffnet; Überreste sind bis heute noch zu sehen, auch wenn der Betrieb 2001 definitiv eingestellt wurde. Verschiedene Versuche zur Instandsetzung sind inzwischen gescheitert.
Mit dem zollfreien Korridor wurde es allerdings nichts, auch wenn Chile Bolivien für die Importe über die Häfen von Arica und Iquique gewisse Privilegien einräumt. Die feindselige Haltung auf beiden Seiten besteht bis heute und wird vor allem von nationalistisch eingestellten Regierungen auf beiden Seiten regelmässig weiter geschürt.
Doch noch grüne Felder
Auf der Fahrt von der Grenze nach Arica müssen wir wegen Bauarbeiten regelmässig und zum Teil stundenlang warten. Die Kolonne von Lastwagen erstreckt sich bis zum Horizont. Die Sonne brennt erbarmungslos auf die trockene Wüste, die wir durchqueren. Und plötzlich liegt ein grünes Tal vor uns. Ein Fluss aus den schneereichen Anden wird in unzähligen Kanälen auf die Felder geleitet, wo Obstbäume, Mais, Avocados und Gemüse gedeihen.
Der «Morro» von Arica, der markante Felsen mit der riesigen chilenischen Fahne, markiert definitiv, dass wir uns in Chile befinden, allen geschichtlichen Wirren zum Trotz.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Also das mit dem Handy und QR Code an der Grenze zu Chile kann ich absolut nicht bestättigen. Ich bin während 5½ Monaten
von Ushuaya bis nach Arica regelmässig zwischen Argentinien und Chile gependelt.
Ich musste nicht ein einziges Mal mit meinem Handy irgendwas machen. Von Chile bekam ich jedesmal, etwa 4x einen Stempel in den Pass, auf Argentinischer Seite wurde ich elektronisch registriert
Zeitraum zwischen etwa Okt 23 und März 24