Sperberauge
Bichsel schaute vor 30 Jahren wegweisend voraus
Red. Richard Aschinger hat am 13. Juli 1995 für den «Tages-Anzeiger» ein Interview mit Peter Bichsel geführt. «Seine Aussagen vor 30 Jahren erscheinen heute stupend aktuell», findet Aschinger. Er hat das damalige Gespräch zusammengefasst.
Fast 40 Jahre lang war Peter Bichsel Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Er war Berater und Freund von Bundesrat Willi Ritschard. Dann ist er überraschend ausgetreten, aus Protest gegen den Wahlslogan seiner Solothurner SP: «kussecht und vogelfrei». Das war der spontane Auslöser für das Gespräch, das ich zusammen mit dem damaligen TA-Chefredaktor Roger de Weck im Zürcher Hotel Dolder mit dem damals 60-jährigen Schriftsteller führte. Peter Bichsel sagte, dieser Spruch sei ein Beispiel für eine Entwicklung der SP zur «postmodernen Beliebigkeit» ohne Grundwerte und Ethik, die «die Sozialdemokratie «in ihrer Existenz bedroht». Das war der Auslöser für das Interview.

Von der Partei- führte das Gespräch dann rasch zur Weltpolitik: Nach dem Mauerfall in Berlin war damals viel vom «Ende der Geschichte», von einer Politik ohne Nationalismus die Rede. Frage: Hätte eine solche Entwicklung nicht auch eine «erfreuliche Seite». Peter Bichsel: «Grundsätzlich ja. Ich war immer ein Antinationalist. (…) Aber ich fürchte, dass die Welt vorher durch ein bitteres Chaos gehen müsste».
Unsere Nachfrage: Kann sich Geschichte wiederholen? Im Gegensatz zu den dreissiger Jahren leben wir heute in einer Welt mit allen Kommunikationsmöglichkeiten. Information ist überall und unverzüglich verfügbar. Bietet das nicht Schutz vor totalitären Entwicklungen?
Peter Bichsel: «1936 waren die Deutschen von der Information nicht abgeschnitten. Und 1939 immer noch nicht. (…) In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich die Situation aber heute von derjenigen vor dem Zweiten Weltkrieg: 1940 gab es nicht nur ein militärisch starkes, zum Eingreifen bereites, sondern auch ein politisch klar antifaschistisches Amerika. Diese antifaschistische Überzeugung in der Bevölkerung der Vereinigten Staaten ist heute weg. Mit den USA als Kraft gegen faschistische Entwicklungen ist heute leider nicht mehr zu rechnen».
Und Peter Bichsel fügte einen Nachsatz an, der nach dem anbiedernden Kommentar der Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter zur unsäglichen Rede von US-Vizepräsident Vance an der Sicherheitskonferenz in München hochaktuell erscheint: «Im Angesicht von Regimes mit totalitären Tendenzen wird immer stärker mit wirtschaftlichen «Ja, aber-Argumenten» operiert. (…) Heute sind weltweit immer mehr Leute bereit, als Preis für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze gravierende Verletzungen von Grundrechten und Demokratie zu akzeptieren. Solche Tendenzen können den Boden für totalitäre und faschistische Entwicklungen vorbereiten». Und Peter Bichsel fügte bei: «Christoph Blocher strebt in keiner Weise diktatorische Zustände an. Aber die populistische Politik seiner SVP in Zürich schafft ein politisches Klima, das totalitäre Entwicklungen begünstigen kann.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zur damaligen Kontroverse zum – zugegeben diskutablen – Slogan «kussecht und vogelfrei». Bichsel und mit ihm viele andere (etwa Adolf Muschg, praktisch alle Medien, auch der Tagi) schlossen von der Form leichtfertig auf den Inhalt, bzw. machten sich erst gar nicht die Mühe, sich mit dem Inhalt abzugeben und zeigten damit genau jene Oberflächlichkeit, die sie der Kampagne vorwarfen. Wenige nur – etwa Viktor Giacobbo im Facts – begriffen die Strategie. Aufmerksamkeitsökonomisch gelang es damit, den Blick auf die wichtigen Fragen zu lenken. Inhaltlich nahm die SP Solothurn klare Positionen ein, etwa zum Kantonalbank-Debakel, um das sich die ältere Generation herumdruckste. Das Resultat: Eines der besten Ergebnisse der kantonalen SP bei Nationalratswahlen, fast 5% mehr Wähleranteil (deutlich mehr als im CH-Durchschnitt), der vier Jahre zuvor verlorene zweite NR-Sitz wurde zurückgeholt, ein dritter Sitz knapp verpasst. Einen Vergleich mit dem aktuellen Wähleranteil verkneife ich mir.