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Obwohl ein Siegfrieden unwahrscheinlich ist, setzen die Kriegsparteien noch immer auf eine militärische Lösung © Freepik

Beidseitige Fehlkalkulationen haben Ukraine-Krieg verlängert

Red. /  Um den Ukrainekrieg zu beenden, fordert Sicherheitsexperte Wolfgang Richter Realpolitik statt selektives Moralisieren.

(Red.) Mehr als 30 Monate sind seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vergangen. Ein «Siegfrieden» ist weder für die Ukraine noch Russland in Sicht und auch wenig wahrscheinlich. Verhandlungen für einen Kompromiss gibt es trotzdem nicht. «Fehlkalkulationen und das Schrauben an der Eskalationsspirale» beider Parteien haben zur Verlängerung des Krieges geführt. Das stellt Wolfgang Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr und beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP) als Associate Fellow tätig, in der Zeitschrift «Welttrends» fest. Infosperber fasst seine Analyse über die verhängnisvollen Fehlkalkulationen in sechs Punkten zusammen.

Februar 2022: «Die russische Führung (hat) zu Beginn … die nationale Einheit der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung und die Widerstandskraft der Regierungstruppen völlig unterschätzt.»

Moskau hat geglaubt, mit einem Personalumfang von knapp 200’000 Landstreitkräften und Donbas-Milizen Kiew rasch zur Annahme russischer Forderungen zwingen zu können, bevor der Westen reagiert. Die russische Führung hatte gehofft, dass sich die Mehrheit der Ukrainer ebenso passiv verhält wie 2014 oder gar die Invasionstruppen mit offenen Armen begrüsst.

März/April 2022: «Im Westen herrschten nach der ersten Schockstarre übertriebene Erwartungen.»

Aufgrund des ukrainischen Widerstands gegen den Angriff Russlands glaubt der Westen, über die Doppelstrategie von Militärhilfe und Sanktionen Russland eine «strategische Niederlage» zufügen zu können. Er überschätzte aber sowohl die Wirksamkeit einzelner Waffensysteme als auch der Sanktionen. Er ahnte nicht, dass sich der «globale Süden» nicht vorbehaltlos an die Seite der früheren Kolonialmächte stellen will. Nicht voraussehen wollte er auch, dass sich die Rüstungsindustrie in Marktwirtschaften nicht per Knopfdruck auf Kriegsproduktion umstellen lässt.

Ende März bis Mitte Mai 2022: «Das Istanbuler Communiqué vom 29. März 2022 eröffnete die Möglichkeit eines Kompromissfriedens.»

«Wenn selektive Moral, Heroisierung der einen und Diffamierung der anderen Seite den Wunsch zur ‘strategischen Niederlage’ des Feindes beflügeln, leidet die Fähigkeit zur nüchternen Beurteilung des operativen Geschehens und der Folgen des eigenen Handelns», kritisiert Wolfgang Richter die Haltung des mit der Ukraine verbündeten Westens. Sie habe zur Fehleinschätzung des russischen Rückzugs aus der Region Kiew geführt. Der Westen habe ihn als militärisch erzwungen interpretiert, was aber nicht der Fall gewesen sei.

Die Fehleinschätzung gab den Ausschlag für das Scheitern der ab ca. der letzten März-Woche 2022 laufenden Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, deren Verhandlungsdelegationen sich auf einen gemeinsamen Vorschlag zur Beendigung des Krieges geeinigt hatten. «Erfolg hätte er nur haben können, wenn er mit Nachdruck auch von den westlichen Verbündeten unterstützt worden wäre.»

Die westlichen Verbündeten, die den Kompromiss mit Sicherheitsgarantien hätten flankieren sollen, haben Kiew mit dem Versprechen umfangreicher Waffenhilfe ermutigt, den Krieg fortzusetzen. Gegen einen Kompromissfrieden haben sich auch nationale Kräfte in Kiew gewandt. Die Verhandlungen wurden am 19. Mai nach dem Fall von Mariupol formell abgebrochen.

Ab Sommer 2022: «Statischer und verlustreicher Stellungskrieg» statt Kompromissfrieden

Die Ukraine ging im Sommer – ausgerüstet mit westlichen schweren Waffen – in die Gegenoffensive, Russland sah sich zum Rückzug aus Charkiw, Cherson und vom Westufer des Dnjepr gezwungen. Der Kräftemangel der russischen Bodentruppen wurde offensichtlich. Der Kriegsverlauf nährte die Euphorie, die Ukraine könnte mit Hilfe des Westens einen «Siegfrieden» erringen.

Die Ukraine griffen Luftverteidigungssysteme, Stützpunkte, Führungszentren, Depots und Schiffe der Schwarzmeerflotte sowie Verkehrswege einschliesslich der kritischen Brückenübergänge zur Krim wie auch Ziele in Russland an. Die Angriffe haben schwere Schäden angerichtet, Moskau musste Teile der Schiffsflotte verlegen.

Das russische Narrativ kam ins Wanken, dass die «militärische Spezialoperation» nur von professionellen Kräften durchgeführt werde und das normale Leben in der Heimat nicht beeinträchtige. Russland mobilisierte 300’000 Reservisten und zusätzliche Freiwillige. Bis im Sommer 2023 erreichten seine Invasionskräfte mit 400’000 Bodentruppen etwa die Stärke der regulären ukrainischen Landstreitkräfte. Russland intensivierte den strategischen Luft- und Raketenkrieg. Es will die ukrainische Energie- und Verkehrsinfrastruktur lähmen, die Rüstungsindustrie zerstören, die Luftverteidigung dezimieren und Eisenbahnlinien unterbrechen.

Die Sommeroffensive der Ukraine scheiterte an den tief gestaffelten Verteidigungsstellungen der Russen. Seit Februar 2024 ist Russland auf einem langsamen Vormarsch. Während die militärische Lage sich zu Ungunsten Kiews verschlechtert und die Personalverluste weiter zunehmen, setzen sowohl Moskau als auch Kiew und der Westen weiterhin auf eine militärische Lösung.

August 2024: «Auch 30 Monate nach Kriegsbeginn (ist) ein umfassender «Siegfrieden» der einen oder der anderen Seite wenig wahrscheinlich.»

Wolfgang Richter schätzt «weder eine ‘strategische Niederlage’ der Atommacht Russland noch eine völlige Unterwerfung der Ukraine durch Moskau» als realistische Ziele ein. Die verfügbaren Ressourcen begünstigen nicht die ukrainische Seite. Im Westen sind die Lagerbestände weitgehend aufgebraucht. Selbst Polen scheine sich jetzt vor allem auf die Erhöhung der eigenen Verteidigungsfähigkeit zu konzentrieren. «Aber selbst wenn es dem Westen gelingen sollte, die Materialverluste der Ukraine langfristig zu ersetzen, so sind doch ihre Personalreserven begrenzt.»

Sommer/Herbst 2024: «Es wäre politisch unklug und unmoralisch, Verhandlungsinitiativen zu unterlassen und stattdessen die Ukrainer zu ermutigen, für die Wahrung von Prinzipien und (für) westliche Interessen an der Schwächung Russlands zu sterben.»

Der Militär- und Strategieexperte Richter kritisiert es als «völlig verantwortungslos, Schritte zu unternehmen, die eine weitere Eskalation auslösen und Europa in den Krieg oder gar eine nukleare Katastrophe führen könnten. Er fordert eine Diplomatie, die Kompromisswege eruiere, «die einerseits die Eskalationsgefahren einhegen und andererseits die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine wahren.» Ein Kompromissvorschlag müsse auch Elemente der Rüstungskontrolle und der europäischen Sicherheitsordnung beinhalten. Diese Leistung könne weder Kiew allein noch eine Friedenskonferenz ohne Russland erbringen. Die westlichen Führungsmächte müssten «Angebote machen, sofern sich Moskau verpflichtet, künftig die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu respektieren und dafür internationale Sicherheitsgarantien (mit ihr verbündeten Staaten) zu akzeptieren.» Notwendig sei «ein glaubwürdiges Verhandlungsangebot, das die Sicherheitsinteressen Russlands ebenso in den Blick nimmt wie die Unabhängigkeit und Souveränität der ukrainischen Nation.»

Die Chancen, dass Wolfgang Richter mit seinem Appell für die Suche nach einem Kompromiss Gehör findet, stehen allerdings noch immer schlecht. Das Schrauben an der Eskalationsspirale wird gegenseitig fortgesetzt.

«Der Kollaps der europäischen Sicherheitsordnung»

«Fehlkalkulationen und das Schrauben an der Eskalationsspirale» im Ukraine-Krieg ist nur eine von drei Fragen, die Wolfgang Richter in seinem in der Zeitschrift «Welttrends» publizierten Artikel behandelt. Dort beschäftigt er sich zuerst mit dem Kollaps der europäischen Sicherheitsordnung nach der Wende von 1990. Die Vorgeschichte der Invasion Russlands in die Ukraine sei geprägt durch ein «eklatantes Politikversagen und die Unfähigkeit zu Dialog und Kompromiss auf beiden Seiten», was freilich den Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine nicht rechtfertige. In einem dritten Teil geht Richter auf die Frage «Weitere Eskalation oder Verhandlungen» ein.


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