Kommentar

Bayern, die Ostukraine und der Krieg – ein anderer Blick

Leo Ensel © zvg

Leo Ensel /  Man stelle sich vor: Bayern wolle sich Österreich anschliessen. Und Berlin möchte das abtrünnige Gebiet auf jeden Fall behalten.

Die Ostukraine und Bayern – ein Vergleich, der nur auf den ersten Blick an den Haaren herbeigezogen scheint. Regionale Identitäten lassen sich von einer Zentralmacht nur temporär und um den Preis von Bürgerkriegen unterdrücken. Was also wäre, wenn …?

Okay, alle Vergleiche hinken, aber sie können Strukturen sichtbar machen. Stellen wir uns also mal Folgendes vor: In Berlin käme unter massivem Druck der Strasse, nach Einsatz scharfer Munition und unterstützt von einer Reihe prominenter Politiker aus dem Ausland infolge einer zweifelhaften Abstimmung im Bundestag eine Regierung an die Macht, deren erste Amtshandlung die Abschaffung zentraler Elemente des Föderalismus wäre. 

Zu den Massnahmen der neuen Bundesregierung würden die Unterstellung des Polizei- und Bildungswesens unter die Berliner Zentralgewalt und die Ankündigung einer einheitlichen deutschen Kulturpolitik gehören. Aus der Münchner Landesregierung kämen umgehend starke Proteste, man werde diesen grundgesetzwidrigen Angriffen der Berliner Putschregierung auf den Föderalismus und die bayerische Identität auf gar keinen Fall Folge leisten. Worauf Berlin, um den Bayern zu zeigen, wo der Hammer hängt, nicht nur auf der sofortigen Umsetzung der beschlossenen Massnahmen bestehen, sondern dem Bundesland den Titel «Freistaat» entziehen, die katholischen Feiertage abschaffen und alle bayerischen Traditionsvereine verbieten würde. 

«Berliner Putsch-Junta» versus «Volksrepublik Bayern»

Mit diesen Kraftmeiereien bringt Berlin das Fass zum Überlaufen. Täglich demonstrieren in München auf dem Max-Joseph-Platz und in den Zentren aller grösseren bayerischen Städte Tausende von Menschen in bayerischer Tracht gegen die antiföderalen Massnahmen der «Berliner Putsch-Junta», in den Industriebetrieben kommt es zu Warnstreiks, der Erzbischof von München und Freising und die Landesregierung erklären sich mit den Demonstrierenden und Streikenden solidarisch. 

Da Berlin nicht daran denkt nachzugeben, verhärten sich die Fronten: Die Berliner Repressalien provozieren eine Renaissance des Bayerntums. Im Bayernkurier erscheinen Essays patriotischer Historiker, die ins Gedächtnis rufen, dass bereits im Jahre 1871 der Beitritt des bayerischen Königreichs zum preussisch dominierten Deutschen Reich in Wirklichkeit ein hochumstrittener Anschluss war und Ludwig II. von Bismarck mit erheblichen Summen bestochen wurde, bis er sich endlich bereit erklärte, den Preussenkönig Wilhelm zum deutschen Kaiser vorzuschlagen. Unter der Herrschaft der Hohenzollern sei Bayern faktisch eine von Berliner Statthaltern regierte innerstaatliche Kolonie gewesen. 

Der Jahrestag der Ausrufung der antipreussischen Münchner Räterepublik wird mit grossem Pomp gefeiert, und auf dem Münchner Marienplatz erinnern Honoratioren daran, dass die Niederschlagung der Räterepublik durch Truppen der Reichsregierung allein in München über 700 Tote gefordert habe. Als Konsequenz habe Bayern entgegen der Weimarer Verfassung und im Widerspruch zum Versailler Vertrag ab Mai 1919 eine eigene Armee aus Bürgerwehren aufgestellt, die Ende des Jahres schon über 200’000 Mann mit schweren Waffen verfügte. Sogar der Gleichschaltungspolitik der Nazis hätten die Bayern immer wieder offenen oder klandestinen Widerstand entgegengesetzt und nach dem II. Weltkrieg auch das Grundgesetz zunächst abgelehnt.

Quadriga auf dem Siegestor in München
Aus dem bayerischen Patriotismus – hier die Quadriga auf dem Siegestor in München – wird in dem fiktiven Szenario ein immer radikalerer Separatismus.

Immer rasanter mutiert bayerischer Patriotismus zu bayerischem Separatismus, und ein Vierteljahr nach dem Berliner Umsturz wird nach einem landesweiten Referendum die «Volksrepublik Bayern» ausgerufen, die sogleich ihren Austritt aus der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Berlin verweist darauf, dass dieser Beschluss grundgesetzwidrig sei, und droht, im Falle einer Umsetzung die Bundeswehr nach Bayern zu schicken, um gegen die «Terroristen im Süden» die öffentliche Ordnung und den Geltungsbereich des Grundgesetzes wiederherzustellen. München reagiert mit der Aufstellung einer bayerischen «Volkswehr», die aus Paramilitärs und ehemaligen Bundeswehreinheiten besteht, die in ihren bayerischen Standorten zur «Volksrepublik Bayern» übergelaufen sind.

Die Bundeswehr im «Antiterroreinsatz»

Die Berliner Zentralgewalt, die sich starker Unterstützung aus dem westlichen Ausland erfreut, macht Ernst. Sie kappt Renten und sonstige Transferleistungen nach Bayern und schickt im Rahmen eines «Antiterroreinsatzes» Bundeswehreinheiten Richtung Süden, denen sich antiföderalistische Freikorps anschliessen. Ab jetzt liefern sich beide Seiten auf dem abtrünnigen bayerischem Territorium blutige Gefechte. Bereits nach wenigen Wochen sind über 1’000 Tote zu beklagen. 

Nehmen wir nun weiter an, das an Bayern angrenzende Österreich wäre noch – wie vor dem I. Weltkrieg – eine Grossmacht. Schon träumen nicht wenige Bayern von einem Beitritt ihrer von keinem Staate anerkannten «Volksrepublik» zum österreichischen Grossen Bruder, dem sie sich mental viel mehr verbunden fühlen als dem verhassten Berlin und mit dem auch das ökonomische Überleben der jungen Republik gesichert wäre. Wien selbst hält sich in dieser Frage bedeckt, verweist aber immer wieder auf den «illegalen Krieg des Berliner Putsch-Regimes gegen die eigene Bevölkerung». Die bayerische Volkswehr, die zeitweilig grössere Gebietsverluste zu beklagen hatte, schlägt sich auf einmal wieder erstaunlich gut und kann nach harten Kämpfen strategisch wichtige Städte des verlorenen Territoriums zurückerobern.

Berlin beschuldigt Wien, die «proösterreichischen Separatisten» über die durchlässige Grenze zwischen Bayern (Berlin sagt: Deutschland) und Österreich mit schweren Waffen und Soldaten zu unterstützen. Wien bestreitet dies, Österreich beteilige sich an diesem Krieg nicht. Allerdings befinden sich unter den Gefangenen, die die Bundeswehr auf bayerischem Gebiet macht, immer wieder auch österreichische Staatsbürger, die behaupten, freiwillig ihre bayerischen Brüder im Kampf gegen die «Berliner Junta» zu unterstützen.

Der festgefahrene Konflikt

Jahrelang sind die Fronten weitgehend festgefahren. Grosse Teile Bayerns stehen unter Berliner Kontrolle, zu beiden Seiten der Kampflinie kommt es fast täglich zu grösseren oder kleineren Scharmützeln. Ganze Ortschaften sind zerstört. Der Krieg kostete bereits über 14’000 Menschen das Leben. Tausende sind geflüchtet – je nach politischer Einstellung in die von Berlin oder von München kontrollierten Gebiete. Einige auch nach Österreich. Der Münchner Flughafen ist eine Trümmerwüste. Die Eisenbahnverbindungen zwischen Bayern und Restdeutschland sind gekappt. Eine Busfahrt von Augsburg nach Ulm, die mehrere Grenzposten passieren muss, dauert nun sechs bis acht Stunden. Zwischen den von Berlin besetzten bayerischen Gebieten und der «Volksrepublik Bayern» sind selbst Telefongespräche nicht mehr möglich, weil die Mobilfunknetze inkompatibel sind. Zahllose Familien sind zerrissen. Die meisten Menschen wollen nur noch, dass die Kämpfe endlich aufhören.

Internationale Vermittlungsversuche, die im «Bukarester Abkommen» kodifiziert wurden, werden von den kriegführenden Parteien sabotiert. Berlin weigert sich hartnäckig, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und eine Grundgesetzreform durchzuführen, die den Föderalismus wieder einführen und Bayern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland weitgehende Autonomierechte einräumen würde. Umgekehrt spricht viel dafür, dass Österreich nach wie vor Waffen an die bayerischen Rebellen liefert. Zudem zahlt der Grosse Bruder mittlerweile die Renten und Beamtengehälter in der «Volksrepublik Bayern» – in Schilling, versteht sich, denn diese Währung wurde in den von München kontrollierten Gebieten bereits vor Jahren eingeführt.

Auf der mentalen Ebene stehen sich jetzt zwei konträre Narrative unversöhnlich gegenüber: Berlin behauptet, Österreich habe Deutschland angegriffen und damit die europäische Grundordnung massiv verletzt. Es führe einen unerklärten hybriden Krieg auf deutschem Territorium, nämlich in Bayern, wo es das Regime der «proösterreichischen Separatisten» eingerichtet habe. Die «Volksrepublik Bayern» dagegen erklärt, man werde sich der vom Ausland installierten illegalen Berliner Putschregierung, die das eigene Volk angegriffen habe, niemals beugen. Und Wien betont, es habe mit allem nichts zu tun.

Showdown

Nach fast acht Jahren geraten die Dinge dramatisch in Bewegung. Berlin, das von einer westlichen, mit Wien verfeindeten Hegemonialmacht mit gigantischen Mitteln militärisch, ökonomisch und moralisch unterstützt wird, zieht grosse Truppenverbände an den Kampflinien zur «Volksrepublik Bayern» zusammen und lässt durchblicken, dass es nun Ernst machen und die abtrünnigen Gebiete – koste es, was es wolle – zurückerobern will. Wien, das sich seinerseits von der westlichen Hegemonialmacht existenziell bedroht fühlt, führt auf dem Territorium des befreundeten Tschechiens martialische Manöver an der Grenze zu Deutschland durch. Die Lage spitzt sich gefährlich zu.

In einer letzten diplomatischen Initiative fordert Wien die westliche Hegemonialmacht ultimativ auf, Berlin nicht weiter zu unterstützen, und droht Berlin, alle militärischen Mittel einzusetzen, um einen Genozid an der bayerischen Bevölkerung, der Österreich sich seit ewigen Zeiten verbunden fühle, zu verhindern. Als sowohl die Hegemonialmacht wie Berlin Wien auflaufen lassen, ist es soweit: Österreich erklärt das «Bukarester Abkommen» für gescheitert und erkennt die «Volksrepublik Bayern» als Staat an. Drei Tage später überfallen österreichische Truppenverbände von Tschechien kommend Deutschland, zeitgleich rückt Wien auf breiter Front in Bayern ein.

Nach monatelangen Kämpfen ist es Österreich zwar nicht gelungen, die «Berliner Putsch-Junta» zu beseitigen, aber es hat weite Teile Thüringens und Sachsens unter seine Kontrolle gebracht und lässt dort – und zeitgleich im immer noch nicht ganz eroberten Bayern – Referenden über eine Abspaltung von der Bundesrepublik Deutschland durchführen. Die Ergebnisse sind aus Wiener Sicht ein voller Erfolg: Offiziellen Angaben zufolge bekundet angeblich eine überwältigende Mehrheit in allen drei – nun ehemaligen – Bundesländern den Wunsch, Österreich beizutreten. Ein Wunsch, der schon drei Tage später gnädig gewährt und in der Wiener Hofburg feierlich vollzogen wird …

Und eine verängstigte Weltöffentlichkeit fragt sich: Wer ist eigentlich an allem schuld?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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10 Meinungen

  • am 4.10.2022 um 11:02 Uhr
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    Danke für die wichtige Analogie.
    Bitte schreiben Sie über die, wie ich finde, weit wichtigere (ultimative) Analogie:
    Kuba 1962 – im Vergleich zu USAtomwaffen (zudem um Welten moderner als 1962) heute (und offenbar längst geplant weitere), an der empfindlichen Westflanke Russlands (nahe Moskau). Russland ist eh quasi umstellt von US-Militärbasen, was man umgekehrt gar nicht behaupten kann. Also wer ist hier der Aggressor, und wer der Gejagte (der bloss in Frieden seine Wirtschaft entwickeln möchte), frage ich «heutiger Indianer».

  • am 4.10.2022 um 11:16 Uhr
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    Hübsches Gedankenkspiel, könnte man um Dutzende Varianten erweitern. Nur: Weder will sich Bayern Österreich noch die Ostukraine Russland anschliessen. Was also soll das Ganze?

  • am 4.10.2022 um 16:39 Uhr
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    Solidarietät mit dem bayrischen Volk, wer immer das sein mag!

  • am 4.10.2022 um 16:42 Uhr
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    Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich 😉

  • am 4.10.2022 um 17:21 Uhr
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    Ja, ein zum Denken anregender Text. Allerdings scheint mir, dass der Vergleich etwas einseitig ausgefallen ist, dass er wichtige Bereiche ausklammert und darum noch mehr hinkt als nötig. Ich möchte ihn etwas erweitern.
    Wir müssten noch annehmen, dass Österreich in den letzten 25 Jahren das Nachbarland Slowenien in zwei Kriegen in Schutt und Asche gelegt hat. Weiter, dass es nicht nur Bayern, sondern ganz Deutschland über Jahrzehnte beherrscht und unterdrückt hat, die deutsche Sprache (sagen wir: die Piefke-Sprache) als minderwertig eingestuft, zeitweise verboten hat. Ferner, dass es in den 1930er Jahren während eines Holodomors Millionen von „Deutschen“ hat verhungern lassen, dass Bundes-Reichskanzler Josef die deutsche Kultur überhaupt vernichten wollte (er nannte das: die deutsche Frage lösen), dass ein grosser Teil der deutschen Elite deportiert oder ermordet wurde. Was die Einstellung gegenüber dem Österreichischen zwar nicht rechtfertigt, aber doch verständlich erscheinen lässt.

  • am 4.10.2022 um 17:36 Uhr
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    Einer der besten Texte hier seit Monaten. Herrlich, Herr Ensel! Ich musste einige Male bitter auflachen und fühlte mich an DIE MAUS DIE BRÜLLTE mit Peter Sellers erinnert. Vermutlich würden sich besonders Sachsen und auch einige Thüringer nach den Bayern in der beschriebenen Situation durchaus verführt fühlen, einem Referendum zum Beitritt zur fiktiven österreichischen «Grossmacht» positiv zu willfahren. Besonders Sachsen war durch die seit August dem Starken katholischen Wettiner und die auf Habsburg ausgerichtete Heiratspolitik eher nach Süden orientiert. Was dem Bayern seine den Österreichern verwandte Sprach- und Esskultur, ist dem Sachsen seine dem Wienerischen ähnliche Kaffeehauskultur des «Gaffee und Guch’n».

  • am 5.10.2022 um 12:55 Uhr
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    Interessant, wie tief der «Vergleich» blicken lässt. Die sorgfältig kuratierte Kreml-Propaganda erzählt à la Robert Harris› _Fatherland_ . Nur ist es nicht Unterhaltungsindustrie, sondern todernst.

    Da spricht er allen Ernstes von der «Berliner Putsch-Junta», so als sei das alles gar nicht der Wille des «deutschen» Volkes. Sehr glaubhaft, wenn sich seit fast acht Monaten Freiwilligenverbände aus allen Teilen des Landes heldenhaft und unter riesigen Opfern gegen den angeblichen «Wiener Befreier» verteidigen, nota bene gegen die gefürchtete Armee der «Grossmacht».

    Nein, die grosse, überwältigende Mehrheit der Weltöffentlichkeit fragt sich _keineswegs_, wer an allem Schuld hat. Schuld ist ganz klar und allein der Ober-«Wiener» (pun intended).

  • am 6.10.2022 um 10:25 Uhr
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    Ein reichlich überkanditelter Text. Ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die russische Armee in die Ukraine eingefallen ist um Mensch und Gut zu zerstören.

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