Auch Russland leidet unter der sich öffnenden Kluft Arm/Reich
Red./ Dass im Westen die Reichen zunehmend reicher werden, die Armen ärmer, der dazwischen liegende Mittelstand aber kleiner wird und sogar zu verschwinden droht, ist bekannt, auch wenn die hohe Politik diese sehr gefährliche Entwicklung noch zu wenig ernst nimmt. Dmitri Trenin, der Direktor des «Carnegie Moscow Center», eines Thinktanks des US-amerikanischen «Carnegie Endowment for International Peace», hat die neue russische Sicherheitsstrategie, wie sie Präsident Wladimir Putin am 2. Juli präsentiert hat, genauer angeschaut. Ein Gastkommentar. (cm)
«Russlands nationale Sicherheitsstrategie: ein Manifest für eine neue Ära»
Das zentrale Merkmal der neuen Strategie ist ihr Fokus auf Russland selbst. Die russische Führung hat gerade jetzt allen Grund, sich nach innen zu wenden, um die eklatanten Schwächen, Ungleichgewichte und Ungleichheiten der inneren Situation des Landes anzugehen.
Russlands neue, vierundvierzig Seiten umfassende Nationale Sicherheitsstrategie, die Präsident Wladimir Putin am 2. Juli unterzeichnete, ist ein bemerkenswertes Dokument. Es ist viel mehr als eine Aktualisierung des vorherigen Papiers, das 2015 verabschiedet wurde. Damals hatten sich die Beziehungen zum Westen infolge der Ukraine-Krise zwar bereits stark verschlechtert, galten aber noch als rettbar; ein Grossteil des aus den 1990er Jahren übernommenen liberalen Sprachstils war noch in Gebrauch und die Welt sah noch mehr oder weniger geeint aus. Die aktuelle Version der wohl wichtigsten Strategieerklärung des Kremls – die nicht nur Fragen der nationalen Sicherheit, sondern auch eine ganze Reihe anderer Themen umfasst, von der Wirtschaft über die Umwelt und die Werte bis hin zur Verteidigung – ist ein Manifest für eine neue, andere Ära: eine, die durch die immer intensivere Konfrontation mit den USA und ihren Verbündeten, eine Rückbesinnung auf traditionelle russische Werte und die kritische Bedeutung von Themen wie Technologie und Klima für Russlands Zukunft definiert ist.
Die Strategie entwirft das Bild einer Welt, die sich im Umbruch und in Aufruhr befindet. Die Hegemonie des Westens, so die Schlussfolgerung, ist auf dem Rückzug, aber das führt zu mehr Konflikten, und zwar zu ernsteren. Die Kombination aus historischem Optimismus (das bevorstehende Ende der westlichen Hegemonie) und tiefer Besorgnis (da der Westen verliert, wird er noch härter zurückschlagen) erinnert vage an Stalins berühmtes Diktum von der Verschärfung des Klassenkampfes auf dem Weg zum Sozialismus. Wirtschaftlich sieht sich Russland mit unlauterem Wettbewerb in Form verschiedener Sanktionen konfrontiert, die das Land schädigen und wirtschaftlich zurückhalten sollen; sicherheitspolitisch stellt die Anwendung von militärischer Gewalt eine wachsende Bedrohung dar; im Bereich der Ethik werden die traditionellen Werte und das historische Erbe Russlands angegriffen; innenpolitisch muss sich Russland mit ausländischen Machenschaften auseinandersetzen, die darauf abzielen, langfristige Instabilität im Land zu provozieren. Dieses äussere Umfeld, das mit zunehmenden Bedrohungen und Unsicherheiten behaftet ist, wird eher als eine Epoche denn nur als eine Episode betrachtet.
Vor diesem ernüchternden Hintergrund ist das zentrale Merkmal der Strategie die Fokussierung auf Russland selbst: seine Demografie, seine politische Stabilität und Souveränität, die nationale Eintracht und Harmonie, die wirtschaftliche Entwicklung auf der Basis neuer Technologien, der Schutz der Umwelt und die Anpassung an den Klimawandel und – last but not least – das geistige und moralische Klima der Nation. Dieser Blick nach innen ist von der Geschichte geprägt. Vor genau dreissig Jahren brach die Sowjetunion zusammen, als ihre militärische Macht gerade auf dem Höhepunkt war, und zwar nicht als Folge einer ausländischen Invasion. Nachdem das Land kürzlich seinen Grossmachtstatus wiedererlangt und sein Militär erfolgreich reformiert und aufgerüstet hat, hat die russische Führung nun allen Grund, sich nach innen zu wenden, um die eklatanten Schwächen, Ungleichgewichte und Ungleichheiten der inneren Situation des Landes anzugehen.
Das neue Papier skizziert eine lange Reihe von Massnahmen zur Bewältigung einer Vielzahl innenpolitischer Probleme, von der steigenden Armut und der weiterhin kritischen Abhängigkeit von importierter Technologie bis hin zum Aufkommen grüner Energie und dem Verlust des Technologie- und Bildungsvorsprungs aus der Sowjet-Ära. Dies macht sicherlich Sinn. In der Tat ist die jüngste Anerkennung des Klimawandels durch den Kreml als Top-Thema ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass Russland seine frühere Verharmlosung des Problems überwindet, zusammen mit überschwänglichen Erwartungen an die Verheissungen der globalen Erwärmung für ein überwiegend kaltes Land. Immerhin hat die frühere ‹Umarmung› der Digitalisierung durch den Kreml der Verbreitung digitaler Dienste in ganz Russland einen grossen Schub gegeben.
Die Strategie lässt die moralischen und ethischen Aspekte der nationalen Sicherheit nicht ausser Acht. Sie liefert eine Liste traditioneller russischer Werte und diskutiert diese ausführlich. Sie sieht diese Werte durch die Verwestlichung angegriffen, die den Russen ihre kulturelle Souveränität zu rauben droht, und durch Versuche, Russland durch Neuschreibung der Geschichte zu verunglimpfen. Insgesamt markiert das Papier einen wichtigen Meilenstein in Russlands offizieller Abkehr vom liberalen Sprachstil der 1990er Jahre und seine Ersetzung durch einen moralischen Kodex, der in den eigenen Traditionen des Landes wurzelt. Dabei übersieht die Strategie allerdings einen zentralen Punkt, der die Wurzel vieler wirtschaftlicher und sozialer Probleme Russlands ist: die weit verbreitete Abwesenheit jeglicher Werte, die über das rein Materialistische hinausgehen, bei einem Grossteil der herrschenden Elite des Landes. Das Papier erwähnt am Rande die Notwendigkeit, die Korruption auszurotten, aber das eigentliche Problem ist um eine Grössenordnung grösser. Wie jede von Präsident Putins jährlichen Telefonkonferenzen mit dem russischen Volk zeigt – einschliesslich der jüngsten am 30. Juni –, wird Russland von einer Klasse von Menschen regiert, die grösstenteils selbstsüchtig sind und sich überhaupt nicht um die normalen Menschen oder das Land kümmern, sondern sich stattdessen zielstrebig darauf konzentrieren, sich selbst in ihrem Job reich zu machen. Geld – oder besser gesagt das grosse Geld – ist zum wichtigsten Wert dieser Gruppe und zum zersetzendsten Element im heutigen Russland geworden. Darin liegt vielleicht die grösste Verwundbarkeit des modernen Russlands.
Was die Aussenpolitik betrifft, ist die Strategie nicht besonders rund, aber sie gibt einen Hinweis darauf, was das kommende aussenpolitische Konzept beinhalten könnte. Die Vereinigten Staaten und einige ihrer NATO-Verbündeten werden nun offiziell als unfreundliche Staaten gebrandmarkt. Die Beziehungen zum Westen sind nicht mehr erste Priorität und diese Länder rangieren in Bezug auf die Nähe an letzter Stelle, hinter den ehemaligen Sowjetländern, den strategischen Partnern China und Indien, nicht-westlichen Institutionen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, BRICS und dem Trio Russland-Indien-China sowie anderen asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern. Neben den militärischen Einsätzen der USA und ihrem Bündnissystem werden auch die in den USA ansässigen Internetgiganten mit ihrem Quasi-Monopol in der Informationssphäre und auch der US-Dollar, der die globalen Finanzen dominiert, als Instrumente zur Eindämmung Russlands gesehen.
Insgesamt zielt die russische Nationale Sicherheitsstrategie 2021 darauf ab, das Land an eine immer noch vernetzte Welt der Fragmentierung und sich verschärfenden Spaltungen anzupassen, in der die Hauptkampflinien nicht nur – und nicht einmal hauptsächlich – zwischen den Ländern, sondern innerhalb der Länder gezogen werden. Siege und Niederlagen werden vor allem im Inland errungen und erlitten. Dementsprechend ist es die Heimatfront, die die grössten Herausforderungen darstellt, und dorthin muss die Hauptstossrichtung der Regierungspolitik gerichtet werden.
(Der Text von Dmitri Trenin ist in englischer Sprache auf der Plattform des «Carnegie Moscow Center» erschienen. Der Autor hat Infosperber die Erlaubnis gegeben, den Text ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen.)
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Auch Russland leidet unter der sich öffnenden Kluft zwischen arm und reich. Diese Kluft wird wie im Westen auch ein wenig vergrössert, wenn potente Konzerne aus Prestigegründen überall Wolkenkratzer bauen, wie früher Fürsten, Könige und Kaiser ihr Paläste. In St. Petersburg liess sich der russische Gazprom Konzern nicht lumpen und klotzte das höchste Gebäude Europas hin, ein Turm von 462 Meter Höhe. Wie das Foto auf Info Sperber zeigt spriessen auch in Moskau die Wolkenkratzer bald wie in Manhattan. Daneben gibt es in St. Petersburg und in Moskau immer noch viele arme Leute, wie wir sie aus den Büchern von Dostojewski kennen und wie in den USA gibt es in Russland auch Obdachlose.
Wirtschaftlich sind Wolkenkratzer, die überall gebaut werden, nicht. Der ROI, der Return on investment bei solchen Gebäuden ist viel schlechter als bei einer Flachbauweise von 5 bis 6 Geschossen.
Heute sollte beim Bau von Häusern auch der ökologische Fussabdruck berücksichtigt werden. Der ist bei Hochhäusern und Wolkenkratzer sehr schlecht. Solche hohen Bauten sind im Bau, Betrieb und im Unterhalt wesentlich umweltbelastender als eine Flachbauweise. «Über 25 Meter Höhe benötigen Bauten wesentlich mehr Bauenergie als darunter. Statik, Fundationen, Erdbebensicherheit, Brandschutz etc. werden sehr aufwendig, Erschliessungssysteme immer umfangreicher, der Anteil an nutzbaren Geschossflächen immer kleiner.» wie Norbert Novotny, Dr. sc. techn. ETH Ingenieur, feststellte.
Für mich ist die Sprache zu sehr die eines Politikers, der eigentlich gar nicht richtig Stellung nehmen will. Für mich schwammig, zu wenig konkret, müsste meiner Meinung nach stark überarbeitet werden.
Soso, Carnegie Moscow Center. Die Wahrheit führt nicht zwangsläufig zur Erkenntnis. Dass Philantropen die besten Anwälte der Unterschicht sind, habe ich nie geglaubt.