Jerewan

Armeniens Hauptstadt Jerewan © konstantin32/Depositphotos

«Armenien soll der 27. Kanton der Schweiz werden»

Amalia van Gent /  Armenien droht ein neuerlicher Krieg. Die Bevölkerung reagiert mit Witz und Spott. Das zeigt unsere Reportage.

Anfang Februar ist es sonnig in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Ein helles Licht, das heller ist, als ich es von anderen Orten zu kennen glaube, taucht die Gebäude aus beigen, orangen und roten Tuffsteinen rund um den zentralen «Platz der Republik» in intensive, warme Farben. Im kleinen Park gleich daneben tanzen die Kinder unbeschwert zu den Klängen eines Musikers, die er aus seinem «Instrument», bestehend aus ein paar unterschiedlich grossen Flaschen, hervorzaubert. Ein «Russe», kommentiert mein Begleiter; dann erzählt er mir den neuesten Witz, der seit dem Amtsantritt des US-Präsidenten Donald Trump in den Cafés und Restaurants Jerewans die Runde macht: «Wir benennen Armenien einfach in Grönland um. Trump kauft unser Land auf; und Aserbaidschan lässt uns in Ruhe!».

Armeniern wird seit jeher ein trockener, fast schwarzer Humor nachgesagt. Dieser von bissigem Selbstspott begleitete Humor hat ihnen offenbar geholfen, auch den grössten Widrigkeiten ihrer jahrtausendalten Geschichte zu trotzen. Heute sind Witze in Armenien mehr denn je an der Tagesordnung; und sie sind ein wichtiges Mittel, um mit der ständigen Drohung eines neuen Kriegs halbwegs zu leben. «Wir erleben wahrlich ‹historische Tage›. Und dies seit vielen Jahren», so ein zweiter Witz, der die Besucher von Cafés und Restaurants zum Lachen bringt.

Leben im dauerhaften Kriegszustand

Seit 2020 befinden sich Armenien und sein Nachbarland Aserbaidschan tatsächlich in einem permanenten Kriegszustand: Er begann im Herbst 2020, als Aserbaidschan die Armenier in Berg-Karabach angriff und auf dem Schlachtfeld massiv türkische und israelische Killerdrohnen einsetzte. Diese Schlacht veränderte das Verständnis von Kriegsführung grundlegend: Die vergleichsweise billigen Killerdrohnen aus der Türkei und aus Israel erwiesen sich im Kampf damals als weitaus effektiver als die schweren, teuren Waffen aus Russland.

Die Niederlage Armeniens war vernichtend: Armenien verlor nicht nur grosse Teile des seit den 1990er Jahren in Berg-Karabach existierenden Kleinstaats «Artsakh»; es verlor zudem die sieben umliegenden aserbaidschanischen Provinzen, die bis dahin unter seiner Kontrolle waren. Noch schwerwiegender: Ohne schlagfähige Armee sieht sich das Mutterland Armenien seither allen Gelüsten seiner Nachbarn wehrlos ausgeliefert.

Im Herbst 2023 folgte Aserbaidschans sogenannter «Blitzkrieg» in Berg-Karabach. Laut der Sprachregelung in Baku war es eine «gegen Terroristen gerichtete Operation»; aus armenischer Sicht handelte es sich um nichts weniger als die Vertreibung aller Armenier aus Berg-Karabach, kurz: um eine «ethnische Säuberung». Tatsache ist, dass innerhalb einer knappen Woche Abertausende Frauen, Alte, Kinder und Männer in Panik aus ihrer Heimat flohen und die armenische Grenze erreichten. Im September 2023 wurde Berg-Karabach entvölkert.

Anspruch auf Westarmenien

Aserbaidschans Autokrat Ilham Alijew sprach von einem Triumph; und er stellte sogleich weitere Forderungen an Armenien. Baku und die Türkei, die 2020 zu Aserbaidschans Sieg wesentlich beigetragen hatten, meldeten schon damals ihren Anspruch auf den sogenannten Sangesur-Korridor an. Allein die Errichtung des Sangesur-Korridors garantiert nämlich, dass die turksprachige Welt vom Mittelmeer (Türkei) bis zur chinesischen Grenze (Kasachstan) geographisch über eine direkte Verbindung verfügt. Für Armenien würde der Sangesur-Korridor den freiwilligen Verzicht auf einen weiteren Teil seines Territoriums bedeuten. Seit 2023 scheint Baku der Anspruch auf den Sangesur-Korridor allein nun aber zu klein.

Sangesur-Korridor
Der Sangesur-Korridor (Pfeil) soll Aserbaidschan mit seiner Enklave Nachitschewan verbinden. Auch die Türkei hätte damit einen direkten Zugang zu Aserbaidschan.

Neuerdings ist in Baku häufig die Rede von «West-Aserbaidschan». Wo dieses Neuland beginnen und wo es enden soll, lässt Baku bewusst offen. Ilham Alijew hat aber unlängst den grössten Teil des armenischen Territoriums zur «historischen Heimat der Aserbaidschaner» deklariert. Handelt es sich um eine konkrete Kriegsdrohung? Oder spielt er – wie oft bei Autokraten der Fall – gerne mit dem Leben und den Ängsten der Menschen?

Wie die Maus vor der Schlange

Ich treffe Emma Chobanyan im Restaurant Dalan, das unter den jungen Intellektuellen Jerewans beliebt ist. Die knapp 40-jährige Deutschlehrerin wirkt im Gespräch zunächst erfrischend, geradezu fröhlich. Erst allmählich erzählt sie, dass sie im Sinn habe, ins Ausland auszuwandern. Sie nehme Ilham Alijew beim Wort, sagt sie: «Seit dem Krieg 2020 hat Alijew schliesslich alle seine Drohungen wahr gemacht».

Emma Chobanyan verfolgt die Nachrichten aus Baku ständig, sitzt täglich wie die Maus vor der Schlange stundenlang vor dem Computer und sucht Antworten zu finden auf die Frage, ob und wann Ilham Alijew den Einmarsch um den Sangesur-Korridor wagen werde. Könne Armenien in seinen Grenzen weiterexistieren, oder werde die Republik Stück für Stück bis zur Unkenntlichkeit auf der Landkarte reduziert, will sie von mir wissen. Emma Chobanyan leidet tagsüber unter starken Kopfschmerzen. Und nachts wird sie von einem Herzrasen heimgesucht, das sie genauso wenig kontrollieren kann wie die Angst um das Schicksal ihrer Kinder. «Was wird aus den drei Kindern», fragt sie und wirkt mit ihrer feinen Statur auch fast wie ein Kind.

Asia Chobanyan, Chefärztin eines kleinen Krankenhauses in der Provinz, bestätigt, dass sich die Fälle von Herzinfarkten, Hirnschlägen und Bluthochdruck nach 2020 vervielfacht hätten. Der psychische Druck auf den Durchschnittsbürger sei fast unerträglich, sagt sie.

Der Südkaukasus im Sog der neuen Weltordnung

Wer könnte wohl Aserbaidschan davon abhalten, einen neuen Krieg zu beginnen? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage betrachten wir mit Benyamin Poghosyan die Politik im Südkaukasus. «Armenien war jahrzehntelang der treueste Verbündete Russlands und Russland der Beschützer Armeniens. Doch im Krieg von 2020 hat Russland die Seiten gewechselt», sagt er. «Aus zwei Gründen: Im Jahr 2018 war in Armenien Nikol Paschinjan mit dem Versprechen von mehr Rechtsstaatlichkeit durch eine unblutige Revolution an die Macht gekommen; aus Sicht Wladimir Putins eine ‹farbige Revolution›, und farbige Revolutionen hat er bekanntlich verabscheut.»

Die Rache erfolgte laut Poghosyan zwei Jahre später, als Moskau tatenlos zusah, wie die Armee seines strategischen Partners Armenien in Berg-Karabach vernichtet wurde. Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges 2022 war der Kreml auf Baku angewiesen: «Moskau benutzte das leistungsstarke Pipelinenetz Aserbaidschans, um russisches Erdgas auf den Weltmarkt zu exportieren und die Sanktionen des Westens zu umgehen.» Und so taten die russischen Friedenssoldaten 2023 wenig, um die ethnische Säuberung in Berg-Karabach zu verhindern.

Das Debakel der EU

Armenien fühlte sich von Russland verraten. «Als 2022 die EU, ein neuer Akteur im Südkaukasus, sich als Friedensvermittler zwischen Armenien und Aserbaidschan anbot, nahm Nikol Paschinjan das Angebot gerne an.» Siebenmal traf er sich mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew unter der Schirmherrschaft des damaligen EU-Ratspräsidenten Charles Michel. Am 6. Oktober 2022 unterzeichneten sie in Prag ein Abkommen, in dem «beide Länder die territoriale Integrität und Souveränität des jeweils anderen auf der Grundlage der Erklärung von Alma-Ata» anerkannten.

Alma-Ata bedeutete, dass die Armenier Berg-Karabachs ihren De-facto-Staat Artsakh aufgeben mussten; im Gegenzug versprach die EU, dafür zu sorgen, dass die Armenier weiterhin in Würde und Sicherheit in ihrer Heimat leben würden. Und «was war das Ergebnis der EU-Vermittlung?», fragt Benyamin Poghosyan rhetorisch. Ein «Debakel wie die ethnische Säuberung».

Benyamin Poghosyan gilt in Armenien als einer der besten Kenner auf seinem Gebiet. Was er im kleinen Lokal erklärt, gleicht einem Alptraum: Die EU habe keinerlei Konzept und keinen Plan gehabt, um ihre Friedensmission durchzusetzen, und erlitt so einen enormen Vertrauensverlust im Südkaukasus. Die politische Wende in Georgien dürfte teils auch auf diesen Vertrauensverlust zurückzuführen sein.

Wer könnte also Armenien gegebenenfalls zu Hilfe kommen? Für eine Unverletzlichkeit der armenischen Grenze steht heute einzig der Iran ein. Einen Sangesur-Korridor nach den Wunschvorstellungen der Türkei und Aserbaidschans hält Teheran für inakzeptabel. Denn dieser würde unweigerlich auch den Zugang des Iran in den Südkaukasus, nach Russland und nach Zentralasien beeinträchtigen. Der Iran ist sich bewusst, dass heute vor allem das Recht der Waffen zählt. So droht Teheran unmissverständlich mit einem Flächenbrand in der Region, sollten die Türkei und Aserbaidschan einen Vorstoss um den Sangesur-Korridor wagen.

Weltpolitisches Labyrinth

«Hier haben wir ein kleines Problem», folgert Poghosyan; und schon dringt in seinen Worten jener bissige Selbstspott durch, der in diesen Tagen in Jerewan häufig zu hören ist: «Nach dem Krieg von 2020 hat der armenische Premier der Türkei immer wieder seine Bereitschaft signalisiert, die türkische, anstatt der russischen Dominanz im Südkaukasus zu akzeptieren. Im Gegenzug wünschte er, dass Ankara Ilham Alijew zu einem Friedensvertrag mit Armenien bewegen und die Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen vorantreiben würde. Diesbezüglich sei «rein nichts passiert».

Die politische Wende in Georgien und das kürzlich von Trump angekündigte Friedensabkommen für die Ukraine dürften indessen die Position Russlands stärken. Ein russisches Comeback im Südkaukasus kann nicht mehr ausgeschlossen werden.

Der Schweiz unmittelbar den Krieg erklären

Für den Schriftsteller Grig Shashikyan braucht Armenien dringend Frieden. Ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan sei das einzige Geschenk, das der Premierminister seinem Land machen könne, sagt er in einer neu eröffneten Buchhandlung in der zentralen Abovyan-Strasse. Grig Shashikyan ist stolz auf «dieses Juwel» seiner Stadt. Der grosse, helle Raum im zweiten Stock, in dem die neuesten Veröffentlichungen in- und ausländischer Literatur zu finden sind, bildet den Treffpunkt der Intellektuellen Jerewans, aber auch unzähliger Jugendlicher, die auf grossen, bunten Kissen sitzen und ausgewählte Werke lesen dürfen, die sie sich nicht leisten können.

Grig Shashikyan spricht von einem «Generationenwechsel» in Armenien und dem benachbarten Georgien. Die Generationen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Welt kamen, wollten nicht wie ihre Eltern leben, sagt er. Sie seien oft gut ausgebildet, sprächen mehrere Fremdsprachen und wollten die Welt bereisen. Voraussetzung dafür sei allerdings die Sicherheit, die ein Land seinen Bürgern nur in Frieden bieten könne. Grigs jüngste Werk trägt den Titel «Friedensdorf» und ist seit seiner Veröffentlichung in Armenien ein Bestseller.

Nver Avetisyan plädiert für eine sofortige Kriegserklärung Armeniens an die Schweiz. Das Kalkül des armenischen Chauffeurs ist einfach: Die Schweiz würde die armenische Armee an einem Tag vernichten und Armenien gleich zum 27. Schweizer Kanton machen, hofft er.

Nver Avetisyan ist in Wirklichkeit der Schweiz dankbar. Erst vor kurzem hat der Nationalrat in Bern mit seiner Motion: «Friedensforum für Berg-Karabach: Rückkehr der Armenier ermöglichen» signalisiert, dass Armenien, dieses kleine, energiearme Land mit seiner reichen Kultur nicht vergessen geht, auch wenn es im fernen Südkaukasus liegt.

Im März im Ständerat

Die Schweiz solle als neutrales Land eine wichtige friedensfördernde Rolle im Südkaukasus spielen. Das will die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats mit einer Motion erreichen, die voraussichtlich im März im Ständerat behandelt wird. Der Nationalrat hat sie bereits letzten Dezember gutgeheissen. Auch die Aussenpolitische Kommission des Ständerats ist dafür.

Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats will den Bundesrat beauftragen, rasch, jedoch spätestens innerhalb eines Jahres ein internationales Friedensforum zum Berg-Karabach-Konflikt zu organisieren. Ziel ist es, einen Dialog zwischen Aserbaidschan und Vertretern der Berg-Karabach-Armenier zu ermöglichen, um die sichere und kollektive Rückkehr der dort historisch ansässigen armenischen Bevölkerung zu verhandeln.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...