Anti-westliche Ressentiments in Bolivien
Red. Josef Estermann, regelmässiger Autor bei Infosperber, lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien. Momentan befindet er sich auf Vortragsreise in Argentinien, Bolivien und Chile.
Kürzlich hat die Ministerin für Soziale Sicherheit von Argentinien, Patricia Bullrich, seine beiden Nachbarländer Bolivien und Chile öffentlich beschuldigt, den Al-Quds-Brigaden bzw. der Hisbollah Unterschlupf zu bieten. Auch wenn dies nicht zutrifft, so ist die Nähe vieler Staaten Lateinamerikas zum Iran und anderen nicht-westlichen Staaten offensichtlich.
USA, der unerwünschte grosse Bruder
Seit der Wahl von Evo Morales 2005 zum Staatspräsidenten hat sich Bolivien von der westlichen Welt immer mehr abgewendet, insbesondere von den USA. Die früheren Regierungen waren den USA mehr oder weniger ergeben, vor allem jene von Gonzalo Sánchez de Lozada («Goni»). Nach der blutigen Niederschlagung von Protesten gegen seine Regierung im «schwarzen Oktober» 2003 trat er zurück und verliess das Land bei Nacht und Nebel. Er fand, wie viele unliebsame Regierungschefs Lateinamerikas, Unterschlupf in den USA.
Nach einer äusserst fragilen Übergangsperiode wählte das bolivianische Volk mit überwältigender Mehrheit den indigenen Kokabauern-Führer Evo Morales Ayma zum Staatspräsidenten. Anfang 2006 trat er sein Amt an, und umgehend erfolgte der Rauswurf der US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde DEA (Drug Enforcement Agency). Morales war in seiner Zeit als Gewerkschafter und Anführer der Kokabauernvereinigung im Rahmen der von den USA unterstützten Drogenbekämpfung im Gefängnis gelandet.
In der Folge wurden auch die US-amerikanische Agentur für Entwicklungszusammenarbeit USAID und der US-amerikanische Botschafter des Landes verwiesen, der bis heute nicht wieder zurückgekehrt ist. Seit 2008 amtet in der von den Bolivianerinnen und Bolivianern ironisch als «Bunker» bezeichneten Botschaft in La Paz nur ein interimistischer Chargé d’Affaires. Die Zeiten, als noch der US-amerikanische Botschafter die politischen Entscheide der bolivianischen Regierung «absegnete», sind endgültig vorbei. US-Bürgerinnen und -Bürger benötigen seit 2007 ein Visum für Bolivien, dies im Gegenzug zur strikten Visumspflicht für Bolivianerinnen und Bolivianer, die in die USA reisen möchten.
Wiedererstarken der indigenen Bevölkerung
Das Wiedererstarken der indigenen Bevölkerungsmehrheit, die je nach Zählung zwischen 53 und 66 Prozent der Bevölkerung ausmacht, brachte nicht nur den zur Ethnie der Aymara gehörenden Evo Morales an die Macht, sondern führte auch zum Ende der profitablen Geschäfte vieler transnationaler Unternehmen. Wegen der Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen mussten viele das Land verlassen oder sahen ihre hohen Gewinne wegen der drastischen Steuererhöhung in Gefahr.
Bolivien ist das einzige Land Südamerikas, in dem es keine Filiale von McDonald’s gibt. Während die weisse Elite des östlichen Tieflands weiterhin zum Einkaufen nach Miami fliegt, baut sich die neue Aymara-Bourgeoisie in der Boom-Stadt El Alto hoch über La Paz ein «Cholet» nach dem anderen. «Cholets» (eine Kombination aus den Wörtern Chalet und Cholo) sind für europäische Begriffe kitschige vier- bis siebenstöckige Häuser mit einem chaletartigen Attikaabschluss. El Alto hat inzwischen bezüglich Einwohnerzahl La Paz überholt.
In der neuen Staatsverfassung von 2009 sind die Prinzipien der Weltanschauung und Ethik der indigenen Völker des Andenraums festgehalten, insbesondere die Trilogie «Sei kein Dieb, sei kein Lügner, sei kein Faulenzer» und das Ideal des «Guten Lebens» (suma qamaña). 36 indigene Völker und die afrostämmigen Bolivianerinnen und -bolivianer sind im plurinationalen Staat gleichgestellt, und ihre Sprachen sind neben dem Spanisch offiziell anerkannt. Evo Morales liess sich in Tiwanaku, einer vorkolonialen Ruinenstadt, von einem Schamanen in sein Amt einführen; das katholische Te Deum in der Kathedrale von La Paz blieb aus.
Gewachsenes Selbstbewusstsein und Kritik am Westen
Ich hatte die Gelegenheit, mich mit sechs ehemaligen Philosophiestudentinnen und -studenten auszutauschen. Sie alle stehen der aktuellen Regierung von Luis Arce Caracora (von der linken MAS-Partei wie Evo Morales) sehr kritisch gegenüber, doch sie haben Verständnis für den anti-westlichen Kurs der Regierung und deren von der Bevölkerungsmehrheit getragene Positionen. Die Kritik am spanischen Kolonialismus wurde dabei abgelöst von der Kritik am westlichen Neokolonialismus. Dieser äussert sich nicht nur im Bestreben transnationaler Unternehmen, die natürlichen Ressourcen des Landes auszubeuten, sondern auch im «kulturellen Imperialismus», der westliche Werte wie Individualismus, Konkurrenzdenken, Prestige oder eben Fast Food zu fördern versucht.
Seit einigen Jahren erlebt das Studium der indigenen Sprachen Quechua und Aymara einen ungeahnten Aufschwung, nicht zuletzt aufgrund der Verordnung, dass alle Beamten der öffentlichen Hand in der Lage sein müssen, die Bürgerinnen und Bürger in ihrer jeweiligen Muttersprache anzusprechen. Inzwischen gibt es verschiedene interkulturelle Spitäler, in denen neben der westlichen Schulmedizin auch die traditionelle Medizin von Schamanen oder Yatiris praktiziert wird. Indigene Universitäten wurden gegründet, und neben der formalen Rechtsprechung gilt auch das so genannte kommunitäre Recht.
Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben sich während ihres Studiums nicht nur mit abendländischer Philosophie, sondern auch mit lateinamerikanischer, insbesondere andiner Philosophie beschäftigt. Die Regierung von Evo Morales schuf gar zwei Vizeministerien – für Dekolonisierung und für Interkulturalität – mit dem Ziel, den westlichen Einfluss zurückzudrängen und indigenen Werten zum Durchbruch zu verhelfen.
Statt Europa China und der Iran
Die Abkehr vom «Westen» bringt auf der anderen Seite eine gewisse Sympathie oder gar Zuwendung zu jenen Staaten mit sich, die im Westen als «autoritär», «anti-westlich» oder «illiberal» gelten. Dazu gehören neben dem Iran auch Russland und China. Ein Beispiel dafür ist der Abbau von Lithium. Bolivien besitzt mit 23 Millionen Tonnen (die in den gängigen Statistiken nicht aufscheinen) die grössten Vorkommen des begehrten Metalls, das insbesondere für die Produktion von Batterien für Elektroautos und damit für eine erfolgreiche Energiewende in Europa unabdingbar ist. Verhandlungen mit Deutschland und Frankreich liefen ins Leere; jetzt soll der Abbau mit chinesischer Unterstützung forciert werden.
Bolivien möchte nicht länger unverarbeitete Rohstoffe exportieren, sondern diese mittels ausländischen Kapitals und Knowhow im eigenen Land verarbeiten und damit die Wertschöpfung steigern. Westliche Länder widersetzen sich diesem Ansinnen, sodass sich die Regierung anderen Handelspartnern zuwendet. Seit Jahren schon boomen die Sprachkurse in Mandarin und Russisch. Aufgrund der gemachten Erfahrungen traut man den westlichen Versprechen von Fortschritt und Partnerschaft nicht mehr. Zu oft wurden leere Versprechen abgegeben und der Reichtum von Bodenschätzen und Biodiversität mit grossen Umweltschäden und neuen Formen der Sklaverei abgeführt oder unrechtmässig patentiert.
Der Westen gilt als heuchlerisch und doppelzüngig
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird nicht nur in Bolivien, sondern in vielen Ländern des Globalen Südens ganz anders wahrgenommen als in Europa. Seit den Anschlägen auf die Zwillingstürme von Manhattan und das Pentagon (2001) haben sich die USA den Kampf gegen den Terror auf die Fahne geschrieben und führten in Irak und Afghanistan ungerechtfertigte Kriege. Europa griff im Rahmen der NATO ohne UNO-Mandat in die Balkankriege der 1990er Jahre ein. Deshalb wird in Lateinamerika, aber auch in grossen Teilen Afrikas der westliche Diskurs zu Menschenrechten, Freiheit und Fortschritt immer mehr als «heuchlerisch» wahrgenommen.
Viele Länder des Globalen Südens beziehen in den erwähnten kriegerischen Auseinandersetzungen keine klare Position, oder sie ergreifen Partei für die Gegenseite jener Staaten, die der Westen militärisch und ideologisch unterstützt. Die Menschen in Afrika und Lateinamerika sind die ersten wirtschaftlichen Opfer dieser Kriege, weil die Preise für Energie und Lebensmittel aufgrund von Sanktionen und dem energetischen Heisshunger des Westens in die Höhe geschnellt sind. Dabei ist die Frage nach der ursächlichen Schuld für die jeweiligen Kriege zweitrangig. So lässt sich die Sympathie für Russland im Krieg gegen die Ukraine oder die klare pro-palästinensische Haltung im Gaza-Krieg nicht auf geopolitische Allianzen zurückführen. Es ist vielmehr Ausdruck eines grundsätzlich anti-westlichen Ressentiments.
Für viele Länder des Globalen Südens ist der Diskurs des Westens doppelzüngig. Einerseits verteidigt dieser die abendländischen Werte von Freiheit und Selbstbestimmung, versucht aber gleichzeitig mit allen Mitteln, unbotmässiges Verhalten zu bestrafen und Handelshemmnisse aufzubauen. Nicht nur in Bolivien wird der Westen als arrogant und neokolonial wahrgenommen. Aber in wohl keinem anderen Land der westlichen Hemisphäre ist anti-westliches Ressentiment so deutlich zu spüren wie in Bolivien.
Pragmatismus statt Ideologie
Auch wenn meine ehemaligen Studentinnen und Studenten keine Arbeit finden, die ihrer Ausbildung entspricht, sind sie dennoch stolz darauf, einem Volk anzugehören, das dem «grossen Bruder» im Norden und den europäischen Ländern kulturell und ökonomisch die Stirn bietet. Dabei ist man durchaus pragmatisch, nimmt die Vorteile westlicher Errungenschaften wie die Seilbahnen in La Paz und El Alto dankend an, lehnt aber ebenso entschieden schlechte Wirtschafts-Deals wie beim Lithium ab.
Der Globale Süden ist schon lange nicht mehr der unterwürfige und unkritische Kopierer westlicher Werte und Haltungen. Und dies gilt sogar für den Bereich der Philosophie: Die andine Philosophie hat sogar an der staatlichen Universität UMSA (Universidad Mayor de San Andrés) in La Paz Einzug gehalten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
«Leben und leben lassen» hat der Westen längst in den Wind geschossen. Der rennt nur noch der Pecunia hinterher, und als Werkzeug der Wahl dienen die internationalen Börsen, das sind die reinsten Zitronenpressen. Rappelt sich ein Land ausnahmsweise doch mal auf, so wird es sofort zum Ziel von Heuschrecken, die alles aufkaufen was sich anbietet. «Das sei ein Wachstumsmarkt» posaunen die Analysten dann, worauf die Ausbeutung von innen heraus weitergeht. Ich weiss ja nicht, aber – aus Sicht der einheimischen Bevölkerung – erscheint mir das alles nicht wirklich erstrebenswert zu sein. Man wundere sich also nicht, wenn sich ganze Staaten vom Westen abwenden.
Diese Meinung kann ich nachvollziehen. Ich frage mich aber, was der „Nichtwesten“ besser macht in der Kaschierung seiner ebenfalls keineswegs durch Selbstlosigkeit getriebenen Schalmeienklänge.
Wie kann es sein, dass Jeanine Áñez nicht erwähnt wird.