Kraftwerk Dnjepr

Saporischschja-Stausee mit Kraftwerk Dnjeproges © depositphotos.com

Als Sowjetrussland noch von den USA schwärmte

Jürg Müller-Muralt /  US-Amerikaner halfen in den 1920er- und 1930er-Jahren tüchtig beim industriellen Aufbau der Sowjetunion mit – auch in der Ukraine.

Der Dnjepr ist im Grunde auch ein gigantisches Kraftwerk. An dem rund 2200 Kilometer langen Strom, der Russland, Belarus und die Ukraine durchfliesst, liegen auf ukrainischem Gebiet nicht weniger als sechs grosse Stauseen. Seit einiger Zeit gilt die Sorge hauptsächlich dem Staudamm von Kachowka, dem untersten vor der Einmündung des Stroms ins Schwarze Meer. Die Ukraine und Russland haben sich gegenseitig vorgeworfen, die Talsperre zu beschiessen. Befürchtet wird auch, dass Russland den Staudamm sprengen könnte. Das Zerstörungspotenzial eines Dammbruchs wäre katastrophal.

Ukraine drohte mit Austritt aus Sowjetunion

Die Dnjepr-Wasserkraftwerke sind nicht nur wichtig für die ukrainische Energieversorgung, sie sind auch aus historischer Sicht in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Das gilt besonders für den 1932 gebauten Saporischschja-Stausee; er wurde als erster und als einziger noch vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Das dazugehörige Kraftwerk Dnjeproges (Abkürzung für «Dnjeprowskaja Gidroelektrostanzija») war zur Entstehungszeit das grösste Wasserkraftwerk Europas, der Staudamm gilt bis heute als einer der bedeutendsten der Welt. Zudem wirft das Bauwerk auch ein frühes Licht auf die schon damals nicht immer harmonischen Beziehungen zwischen Kiew und Moskau.

Die ukrainische Sowjetrepublik wusste ihre Anliegen im Kreml zumindest in diesem Fall durchzusetzen: Sie erreichte, dass der Bau des Kraftwerks Dnjeproges gegenüber dem Projekt des Wolga-Don-Kanals vorgezogen wurde. Wlas Tschubar, von 1923 bis 1934 Vorsitzender des Ministerrates der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und damit Regierungschef, machte Druck und drohte schlicht mit dem Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion.

Klassiker des sowjetischen Konstruktivismus

Vor ziemlich genau 90 Jahren, am 10. Oktober 1932, war es dann so weit: Das riesige, auf den Namen «Lenin» getaufte Kraftwerk wurde feierlich eröffnet. Die vom Berliner Wissenschaftsverlag herausgegebene Zeitschrift Osteuropa bezeichnete damals das Projekt als «unzweifelhaft eine der grössten technisch-wissenschaftlichen Ideen der Gegenwart». Und die Faszination hält bis heute an. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel schreibt in seinem Monumentalwerk «Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt» (C.H.Beck, München 2017): «Das elegante Bauwerk ist Ausdruck menschlichen Genies in der Zähmung und Nutzung der Naturgewalt.» Es verkörpere «die baulich-architektonisch präzise Form, in der Funktion und Schönheit zu vollkommener Übereinstimmung gelangt sind.» Mit anderen Worten: «Dnjeproges ist ein ‹Klassiker› des sowjetischen Konstruktivismus.»

Tausende Amerikaner ziehen in die UdSSR

Das Kraftwerk Dnjeproges wurde zum Zentrum einer grossen Industrieregion und versorgte den ganzen Donbass mit Strom. Das gewaltige Projekt wurde in nur fünf Jahren und mit einem Grossaufgebot von Arbeitskräften verwirklicht; rund 25’000 Arbeiter waren daran beteiligt – nicht ganz alle freiwillig. Kaum bekannt ist, dass auch sehr viele US-Amerikaner auf dem gigantischen Bauplatz Hand anlegten. Die Sowjetunion übte im Westen bei einigen Bevölkerungsschichten aus verschiedenen, nicht nur ideologischen Gründen, eine grosse Faszination aus; auch die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise trug einiges dazu bei. Jedenfalls zog es tausende Amerikaner auf der Suche nach Arbeit in die Sowjetunion.

US-Ingenieur leitete Staudammprojekt

Auch auf dem Bauplatz des Dnjeprogres-Staudamms waren die Amerikaner in grosser Zahl präsent. Sogar die Leitung des Projekts lag in amerikanischen Händen: Die Sowjetunion beauftragte Hugh Lincoln Cooper mit dem Bau des Damms. Der US-Ingenieur leitete zuvor bedeutende Staudammprojekte am Tennessee-River und verfügte damit über die nötige Erfahrung. Die American Society of Civil Engineers (Amerikanische Gesellschaft der Bauingenieure) schreibt auf ihrer Homepage, Coopers Arbeit in der Sowjetunion gelte «als Modell für den Transfer industrieller Fertigkeiten von technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften auf weniger fortgeschrittene».

Amerikaner mit Rotbanner-Orden geehrt

Auch US-Unternehmen kamen zum Zug. So lieferte etwa General Electric die Generatoren und Newport News Shipbuilding die Hochleistungsturbinen. Die amerikanischen Gastarbeiter und Spezialisten wurden geradezu verwöhnt und lebten in privilegierten Verhältnissen, «in eigens für sie errichteten Häusern, ausgestattet mit Tenniscourts und Wagenpark – sogar besondere Lebensmittel sollen per Schiff über Odessa herbeigeschafft worden sein», schreibt Karl Schlögel. Nach Abschluss der Arbeiten wartete auf Cooper und andere amerikanische Ingenieure und Techniker eine besondere Überraschung: Am 17. September 1932 wurden sie mit dem sowjetischen Rotbanner-Arbeitsorden ausgezeichnet.

Eine Eisenstadt aus dem Boden gestampft

Nicht nur auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, auch in der russischen Stadt Magnitogorsk waren amerikanische Arbeitskräfte in grosser Zahl präsent. Die 1929 gegründete Stadt wurde zum Inbegriff der unter Stalin forcierten Entwicklung der Sowjetunion zu einer Industrienation. Der Ort wurde gewählt, weil dort grosse Eisenerz-Lagerstätten vorhanden waren. Innert kürzester Zeit wurde dort im buchstäblichen Sinn die grösste Eisen- und Stahlproduktion des Landes aus dem Boden gestampft. Grosse Bedeutung erlangte Magnitogorsk im Zweiten Weltkrieg: Die Eisenwerke wurden zum wichtigsten Lieferanten des für die sowjetische Rüstungsindustrie notwendigen Stahls.

Klein-Amerika mit eigenen Siedlungen

1929 wurde nicht nur Magnitogorsk gegründet, 1929 war auch das Jahr der Grossen Depression. Die Anziehungskraft des industriellen Aufbruchs in der Sowjetunion auf die Arbeitslosenheere im kapitalistischen Westen war beträchtlich. Filme und Bücher über Magnitogorsk hatten in den USA grossen Erfolg – und eine ebenso grosse Wirkung. Nicht nur Arbeitskräfte aus den USA kamen in die Stahlstadt; die US-Firma McKee lieferte die Technologie für das Stahlwerk. «Für die amerikanischen und deutschen Ingenieure, die auf Zentralheizung, fliessendes Wasser und die Lektüre der Saturday Evening Post nicht verzichten können, wird in Berjoski ein Klein-Amerika aus 150 Cottages errichtet, das heute noch zu bewundern ist», schreibt Karl Schlögel.

Sowjet-Russland im Bann der USA

Die USA waren in technologischer Hinsicht das grosse Vorbild für die Sowjetunion. Der US-amerikanische Schriftsteller Theodore Reiser, der 1927 monatelang die UdSSR bereist hatte, hielt fest: «Noch nie stand ein Land in technischer oder materieller Hinsicht oder in beidem so sehr im Banne eines anderen wie Russland heute im Banne der Vereinigten Staaten.» Es habe nicht allein in wirtschaftlich-technischer, sondern auch in kultureller Hinsicht einen «sowjetischen Amerikanismus» gegeben, konstatiert auch der Historiker Karl Schlögel: Man habe sich Amerika in vieler Hinsicht näher gefühlt als Europa: «Amerika hatte die Standesschranken hinter sich gelassen, Amerika war weniger hierarchisch, dort konnte es sozialen Aufstieg geben wie nur im nachrevolutionären Russland, wo die Klassenstrukturen zusammengebrochen waren und die brachiale Durchsetzung der Gleichheit allgemein geworden war.» Zudem hat Amerika gegen Russland keinen Krieg geführt, abgesehen von einem Interventionskorps im Bürgerkrieg; und die USA hatten bei der Hungerkatastrophe 1920-1922 grosszügig Hilfe geleistet.

Stalin schwärmte von den USA

Es herrschte also eine regelrechte Amerika-Begeisterung. Selbst Stalin schwärmte von der Verbindung von «amerikanischem Pragmatismus und bolschewistischer Leidenschaft». Für den Historiker Schlögel ist der Kern dieser Leidenschaft leicht zu erkennen: «Er besteht vor allem in der Überzeugung, dass sich im Grunde alle Probleme technisch bereinigen lassen und dass die Technik ein Instrument auch zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten darstellt.»

Das alles mutet, gerade wieder in der heutigen Lage, beinahe unwirklich an. Und doch war zur Zeit der Grossbaustellen am Dnjepr und in Magnitogorsk gemäss Karl Schlögel nicht absehbar, dass der «sowjetische Amerikanismus» nur eine vorübergehende Konjunktur war.


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7 Meinungen

  • am 27.11.2022 um 12:26 Uhr
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    Ein spannender Erfahrungsbericht von John D. Littlepage, ein amerikanischer Ingenieur, der 1928-1937 im sibirischen Goldbergbau arbeitete, erschien 1939 auf englisch und 1948 auf französisch unter dem Titel «In Search of Soviet Gold / A la recherche des mines d’or de Sibérie». Er berichtete auch über häufige Sabotageaktionen gegen die Bergbau- und Eisenbahninfrastruktur und seine eigenen Beobachtungen von falschen Materiallieferungen. In einem Prozess von 1937 (Piatakov) wurden mehrere hoch gestellte Sowjetfunktionäre zum Tode verurteilt, die gestanden hatten, seit 1931 Sabotage betrieben zu haben.

  • am 27.11.2022 um 13:33 Uhr
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    Ich verstehe nicht Sinn/Intension dieses Artikels. Ich finde, es geht in der Realität nicht um einzelne Individuen (die es gut meinen mögen), sondern um die entscheidenden Kräfte in den USA. Bereits die US-Verfassung der «Gründungsväter» scheint mir in Europa von vielen zu Unrecht idealisiert. Dass die USA weltweit als «Wohltäter» kommen (inkl. Microsoft; rückverfolgbare Fotokopien von identifizierbaren Kopiermaschinen; dem Bestseller «Bekenntnisse eines Economic Hit Man»; Die verheerende Bilanz der «Grünen Revolution» in Afrika; das Foto Bill Clinton und Jelzin lachend tanzend, während Chodorkowski als Einheimischer hilft beim «Ausverkauf»), als «Freunde» (woran nicht wenige Europäer heute noch glauben wollen, trotz Kissinger: «USA haben keine Freunde, nur Interessen») kommen, aber was später daraus wird, fragen sie die Indianer (Friedensverträge mit Freunden), fragen Sie Vietnam, und, und. . .
    https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204180

  • am 27.11.2022 um 13:36 Uhr
    Permalink

    Ich verstehe nicht Sinn/Intention dieses Artikels. Ich finde, es geht in der Realität nicht um einzelne Individuen (die es gut meinen mögen), sondern um die entscheidenden Kräfte in den USA. Bereits die US-Verfassung der «Gründungsväter» scheint mir in Europa von vielen zu Unrecht idealisiert. Dass die USA weltweit als «Wohltäter» kommen (inkl. Microsoft; rückverfolgbaren Fotokopien von identifizierbaren Kopiermaschinen; dem Bestseller «Bekenntnisse eines Economic Hit Man»; Die verheerende Bilanz der «Grünen Revolution» in Afrika; das Foto Bill Clinton und Jelzin lachend tanzend, während Chodorkowski als Einheimischer hilft beim «Ausverkauf»), als «Freunde» (woran nicht wenige Europäer heute noch glauben wollen, trotz Kissinger: «USA haben keine Freunde, nur Interessen») kommen, aber was später daraus wird, fragen Sie die Indianer (Friedensverträge mit Freunden), fragen Sie Vietnam, und, und. . .
    https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204180

  • am 27.11.2022 um 13:45 Uhr
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    Der im Artikel erwähnte amerikanische Schriftsteller heisst selbstverständlich immer noch Theodore Dreiser und nicht Theodore Reiser. Immer wieder diese ärgerlichen sachlichen Fehler. Haben Sie eigentlich kein Korrektorat?

  • am 28.11.2022 um 05:47 Uhr
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    Es war Roosevelt, der (erst) 1933 die Sowjetunion überhaupt erst anerkannte, die Gründe für diese Anerkennung soll der Japanische Expansionismus und US kommerzielle Interessen (Depression) gewesen sein. Die Sowjetunion soll sich in den Roosevelt-Litwinow Gesprächen auch zur ‹Rückzahlung der Schulden bei den USA› und zur ‹Einstellung der Unterstützung für die KP USA› verpflichtet haben. Der ‹Honeymoon› soll nicht lange gedauert haben, so die Website des US Department of State. (Quelle: https://history.state.gov/milestones/1921-1936/ussr).
    Das Handelsvolumen zwischen den USA und der UdSSR war eher unbedeutend, aber einige US Firmen hatten Geschäftsinteressen in der UdSSR (z.B. Ford mit seiner Werkstätte in Nischni-Nowgorod).
    Interessanterweise hatten die «US Corporations» noch nie irgendwelche Hemmungen auch mit dem ‹Klassenfeind› Geschäfte zu machen.

    • Portrait_Josef_Hunkeler
      am 29.11.2022 um 14:24 Uhr
      Permalink

      Was heisst hier «Anerkennung» ? Das ist ein reichlich subjektiver Begriff.

      Suzette Sandoz hat vor einiger Zeit in der RTS-Sendung «Les beaux parleurs» darauf hingewiesen, dass «internationales Recht» in der Regel kein Recht, sondern bloss eine stilisierte Form politischer Machtrelationen darstellt. Dem kann ich mich bloss anschliessen.

      Der Nato-Subjektivismus ist eben nur Ausdruck der Haltung einer relativ kleinen Gruppe «westlicher Wertevertreter». Die Welt ist einiges grösser und die Fussballspiele in Qatar zeigen, dass es nicht nur Nato-Fussballfans gibt.

  • am 28.11.2022 um 10:30 Uhr
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    Die Sowjets hatten nie einen ideologischen Dünkel oder gar rassistische Vorbehalte gegen die Errungenschaften der US-Amerikaner oder im geringeren Maß auch der Deutschen und Italiener. Die Industrialisierung war nur mit Import und Planung durch ausländische Spezialisten zu schaffen, dafür mussten sowjetische Arbeiter hungern und unter elenden Bedingungen hausen; das Ganze musste schließlich bezahlt werden. Lend & Lease brachte hochgeschätze us-amerikanische Technik: Willis-Jeep, Studebaker-LKW, Bell P-39. Die Führung fuhr ZIS-Limousinen die starke Anleihen bei Packard nahmen. Politbüromitglied Mikojan wurde Mitte der 30iger in die USA abkommandiert, um moderne Lebensmittelherstellung zu studieren – die effiziente Massenproduktion sollte auch in der UdSSR eingeführt werden. Die Lisunow-2, eine Douglas-DC-3-Lizenz, machte fliegerischen Massentransport möglich. Der strategische Fernbomber und erster A-Waffenträger, die hervorragende Tu-4 war eine verbesserte Kopie der Boeing B-29.

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