Wissenschaftliche Gutachter auf der Honorarliste der Pharma
Ärztezeitschriften, die etwas auf sich halten, lassen Forschungsarbeiten vor der Veröffentlichung von Gutachtern prüfen. Sie sollen die Forschungsarbeiten neutral beurteilen. Diese Gutachter sind mächtig: Sie entscheiden massgeblich mit, was publiziert wird und was nicht.
Doch rund 60 Prozent der US-Ärzte, die für die bedeutendsten Ärztezeitschriften Forschungsarbeiten begutachten, haben Interessenskonflikte. Denn sie stehen auf der Honorarliste von Pharma- und Medizintechnik-Firmen. Das zeigt eine Auswertung in der US-Ärztezeitschrift «Jama» für die Pandemiejahre 2020 bis 2022. Pro Gutachterin oder Gutachter überwiesen die Firmen in den drei Jahren im Durchschnitt insgesamt etwa 545’000 US-Dollar. Die Gesamtsumme belief sich auf rund 1068 Millionen Dollar.
Die Begünstigten dienten als sogenannte «Peer-Reviewer» für das «British Medical Journal», die US-Ärztezeitung «Jama», für «The Lancet» oder für das «New England Journal of Medicine». In diesen weltweit beachteten Zeitschriften werden wichtige Studien veröffentlicht.
Gutachter legen Interessenkonflikte oft nicht offen
Etwa eine Milliarde der Gesamtsumme erhielten die Institutionen, an denen die Gutachterinnen und Gutachter selbst forschten. Rund 64 Millionen US-Dollar gingen an die 1155 Gutachter selbst – für Beratung, Vorträge, direktes Forschungssponsoring, Lizenzgebühren, Reisespesen und anderes mehr.
Dass es auch anders geht, zeigten 807 Gutachter und Gutachterinnen: Sie kamen im besagten Zeitraum ohne Industriegelder aus.
Die Zeitschriften verlangen von ihren Gutachtern «eine faire, ehrliche und unvoreingenommene Bewertung der Stärken und Schwächen des Manuskripts. Aber wie ist das möglich, wenn man auf der Gehaltsliste der Pharmaindustrie steht?», wundern sich die Professoren Carl Heneghan und Tom Jefferson in ihrem Blog «Trust the Evidence». Beide sind starke Verfechter einer Evidenz-basierten Medizin. Aus ihrer Sicht ist der Nutzen des Begutachtungsprozesses bei Fachzeitschriften fraglich.
Während die Autoren von Forschungsarbeiten ihre Interessenskonflikte offenlegen müssen, gilt dies für die Gutachter im Hintergrund nicht immer – obwohl die Summen, die ihnen überwiesen wurden, Zweifel an ihrer Unabhängigkeit wecken können. Fast ein Drittel der US-Gutachterinnen und -Gutachter nahm Forschungsgelder von der Industrie an, über die Hälfte nahm allgemeine Zahlungen entgegen.
Fachärzte bekamen am meisten
Durchschnittliche US-Ärztinnen und -Ärzte bekamen pro Jahr rund 200 Dollar an Firmenzuwendungen (Stand 2018), die Zeitschriften-Gutachter hingegen etwa zwölfmal so viel.
Was die Höhe der Zahlungen betraf, spielten bei den Gutachtern auch das Geschlecht und die Fachrichtung eine Rolle: Männliche Gutachter erhielten mit circa 39’000 Dollar (direkt und an ihre Institution) fast doppelt so viel wie weibliche (rund 20’000). Nicht-chirurgisch Tätige, zum Beispiel Immunologie-, Infektiologie-, Allergie-, Krebs- oder Magen-Darm-Spezialisten, bedachten die Firmen mit rund 86’000 Dollar im Mittel am grosszügigsten. An zweiter Stelle (etwa 42’000 Dollar ) folgten Psychiater und Neurologen.
«Niemand weiss, wer wen bezahlt»
In den USA lassen sich solche Zahlungen ermitteln, weil eine Datenbank von Gesetzes wegen erfasst, wie viel Geld Pharma- und Medtech-Firmen an Ärzte zahlen. In der Schweiz und anderen Ländern dagegen können Ärzte und Spitäler bestimmen, was sie offenlegen und was nicht.
«Niemand weiss, wer wen bezahlt. Der Begutachtungsprozess ist kaputt», finden Heneghan und Jefferson. Ihr Fazit: «Das System braucht eine radikale Überarbeitung. Sie beginnt damit, das derzeitige Zeitschriftensystem, das Unmengen an Geld einsaugt und die Forschungsagenda verzerrt, abzuschaffen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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