P.Schellenberg

Peter Schellenberg in einem Beitrag von «10vor10» am 23.09.2014 © SRF «10vor10»

Von der Anstalt zum Unternehmen – vom Monopol zur Konkurrenz

Robert Ruoff /  Erinnerungen an Fernsehdirektor Peter Schellenberg


«Das ist es, was ich schon lange wollte!» Mit diesem Ausruf reagierte Peter Schellenberg, als ich ihm im Sommer 1990 in seinem Direktionsbüro das Konzept für eine tiefgreifende Strukturreform der SRG präsentieren durfte.

Es mag vielleicht anderthalb Jahre vor dieser Präsentation gewesen sein, als er nach seinem Morgenkaffee im Personalrestaurant im Studio Leutschenbach an meinem Tisch vorbeikam, kurz stehen blieb und zu mir sagte: «Ich habe kürzlich mit Generaldirektor Antonio Riva gesprochen. Er sucht jemanden, der ihm bei der Kommunikation in deutscher Sprache helfen könnte. Würde Dich das interessieren?»

Es hat mich interessiert. Aber ich ahnte nicht, dass ich damit in die Konzeptarbeit für die letzte grosse «Strukturreform» der SRG vor der gegenwärtigen Digitalisierung hineingeschoben wurde. Peter «Schälli» Schellenberg war nicht nur ein weitsichtiger Stratege; er war auch ein Meister der Beiläufigkeit.

SRG: Machtverlagerung in die Regionen

Es war eine Zeit der Umwälzung. Die Zahl der Sendefrequenzen nahm zu, und in den Nachbarländern der Schweiz wurde das Staatsmonopol von Radio und Fernsehen gebrochen. Die kommerziellen Sender drängten mit ihren grenzüberschreitenden Programmen auch auf den Schweizer Markt. Silvio Berlusconi aus Italien mit Mediaset («Canale 5»), aus Frankreich Francis Bouygues mit der TF1-Gruppe («Télévision Française»), und aus dem deutschen Sprachraum die RTL Group («RTL plus», «Radio Télévision Luxembourg» mit Sitz in Köln), sowie die Kirch-Gruppe («SAT.1», «Pro Sieben»). Diese TV-Sender brachen ab Ende der 1980er-Jahre in den Schweizer Medienmarkt ein mit Sportprogrammen, populistischer Information – «Wir da unten, ihr da oben» –, mit Lederhosensex und mit gezielten Schweizer Programmfenstern. Damit eroberten sie rasch erhebliche Marktanteile.

Der neuen Konkurrenz konnte die SRG nicht mehr mit einer zentralen nationalen Steuerung aus der programmfernen Generaldirektion begegnen. Darum musste das Programmschaffen dezentral und beweglich werden, um den unterschiedlichen Vorstössen aus Deutschland, Italien und Frankreich erfolgreich entgegenzutreten. Aus dieser Einsicht lancierte Generaldirektor Riva den Auftrag für eine Strukturreform nach dem Motto: «Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung an den gleichen Ort». Und das hiess: Die Verantwortung für Technik, Personal, Finanzen und vor allem für das Programmschaffen verschob die SRG von der Zentrale in Bern zu den Studiostandorten in Basel, Genf, Lausanne, Lugano, Zürich und etwas später auch nach Chur. Gleichzeitig wurde die Trägerschaft in Programmfragen praktisch entmachtet. Das brachte Peter Schellenberg, dem Fernsehdirektor in Zürich, die Kompetenzen und die Verantwortung, die er schon lange gesucht hatte.

«Das ist es, was ich schon lange wollte» – dieser Schellenberg-Satz meinte aber nicht das Ende des Dialogs mit dem Publikum. Er meinte das Ende der alten Vereinsstruktur, die einen Fernsehdirektor immer mal wieder auflaufen lassen konnte. Und er meinte die freie unternehmerische Hand, die der Direktor im Konkurrenzkampf mit den ausländischen kommerziellen Medien brauchte. Und im Kampf für die Arrangements mit dem aufkommenden Schweizer Privatfernsehen.

Kompetenzen für die Medienprofis

Schellenberg musste und wollte die Strukturen des Service public in der Schweiz auf den Stand der Medienentwicklung bringen. Die Abschaffung der Programm-Ansagerinnen liess sich mit ein wenig Aufregung in den Boulevard-Medien und einer passenden publikumsbezogenen Weiterbeschäftigung sozialverträglich umsetzen. Der Umbau der aktuellen Informationssendungen vom althergebrachten Nachrichtensprecher-Format zu einem journalistisch moderierten Angebot dauerte hingegen weit mehr als fünf Jahre. Noch als Medienreferent unter Ulrich Kündig, seinem Vorgänger als Fernsehdirektor, hatte sich Schellenberg selber am Pilotversuch für eine neue «Tagesschau» beteiligt. Aber er musste selbst ganz nach oben kommen, um die Informationssendungen auf den internationalen Stand des Fernsehens zu bringen. Beim offiziellen Start der moderierten Sendung 1985 hatten sich die hergebrachten Sprecher noch eine kleine Nebenrolle für die Verlesung von Kurznachrichten erkämpft. Und erst 1990 wurden mit dem Start des News-Magazins «10 vor 10» auch bei der «Tagesschau» die Nachrichtensprecher abgeschafft.

Die Widerstandsfront war gross und breit. Ein beträchtlicher Teil des Publikums wollte mit den Sprechern seine Lieblinge behalten. Eine Fraktion der «Tagesschau»-Redaktion lebte noch immer in der Vorstellung einer fast absoluten Wahrheit der aktuellen Information und einer klar definierten Rangordnung für die Wichtigkeit der einzelnen Nachrichten. Und noch in den letzten Tagen konnte man beim Rückblick auf Schellenbergs Wirken von «10 vor 10» als «Infotainment» lesen – eine Einschätzung, die damals in der öffentlichen Debatte verbreitet war.

Geschuldet war diese Bezeichnung wahrscheinlich einigen Grenzüberschreitungen, die sich die Redaktion in der Anfangszeit des News-Magazins geleistet hatte. «10 vor 10» ist bis heute ein klassisches News-Magazin mit journalistisch ausgewählten Schwerpunkten («Focus»).

Gegen den politischen Druck

Schellenberg hatte als erster Fernsehdirektor bei der SRG eine lange Erfahrung als Fernsehmacher. Er war 24 Jahre jung, als er mit dem Regionalmagazin «Antenne» seine Fernseharbeit begonnen hatte, nahe bei den Menschen, und er erlebte als Medienreferent seines Vorgängers Ulrich Kündig (Fernsehdirektor 1980 bis 1988) die turbulenten Zeiten der Jugendunruhen in Zürich und der «Telearena»/«Telebühne», die mehrfach abgebrochen werden musste. Es war die Zeit des grossen Drucks der rechtsbürgerlichen Kräfte, die sich wie der Gründer der Schweizerischen Fernseh- und Radio-Vereinigung, Walther Hofer, «im Geiste des Kalten Krieges für eine stärkere Kontrolle der – seiner Ansicht nach – linkslastigen Medienschaffenden» einsetzten.

Schellenberg war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz SP und vermied gleichzeitig jede politische Kontroverse um seine Person. Aber er blieb in der Partei, «weil mir wichtig war zu zeigen, dass man (auch als Medienschaffender) ein Recht dazu hat». Seine Funktion bestand im Einsatz für ein starkes Schweizer Fernsehen im Rahmen der SRG.

«Manchmal muss man zur Machete greifen»

Schon in der Zeit als Medienreferent war sein Gestaltungswille zu spüren. War aus seiner Sicht die Zeit für eine Sendung abgelaufen, nahm er sie gegen allen Widerstand aus dem Programm, wie etwa das beliebte, aber mit der Zeit etwas beliebig gewordene Vorabendmagazin «Karussell».  «Manchmal muss man zur Machete greifen», sagte er gelegentlich. Der Schnitt galt in aller Regel der Sache, nicht den Menschen, sofern sie ihn nicht persönlich getroffen oder den direkten Machtkampf gewagt hatten.

Kreative Köpfe erhielten eine Chance: Kurt Aeschbacher zum Beispiel, der nach der «Karussell»-Moderation die Sendung «grell-pastell» kreieren und später noch weit über «Schällis» Amtszeit hinaus auf Schweizer Fernsehen DRS heisse Themen mit provokanter Eleganz angehen durfte. Und auch die Satire hatte bei ihm ihren festen Platz mit «Viktors Programm» und «Viktors Spätprogramm» und dann nochmals mit «Giacobbo Müller».

Mit günstigen Übernahmen oder Einkäufen von Serien von ARD und ZDF aber auch von Leo Kirch (Kirch-Gruppe: «Pro Sieben», «Sat.1», «Premiere» u.a.) verschaffte er sich finanziellen Spielraum für eigene Serienproduktionen wie «Motel» (1984, noch unter Fernsehdirektor Ulrich Kündig), «Die Direktorin» (1994/95) (mit einer Frau, die sich auch im harten Machtkampf durchsetzt), und schliesslich die Langzeit-Soap «Lüthi und Blanc», die sprachübergreifend für die Deutschschweiz und die Westschweiz angelegt war. Alle diese Serien sollten «Schweiz» zeigen – ihre Vielfalt, ihren Alltag, ihre unterschiedlichen Milieus und ihre kontroversen Themen wie Homosexualität oder Drogenmissbrauch. Es war ein kreativer Teil der Funktion des Fernsehdirektors.

Regeln und eine Vision

Aber es ging nicht nur darum, einen stetigen Erneuerungsprozess im Programmangebot in Gang zu setzen. «Schälli» musste eine neue Mentalität etablieren und Strukturen schaffen, in denen er seine Absichten ohne allzu grosse Widerstände und Reibungsverluste verwirklichen konnte. Auf diesem langen Weg «von der Anstalt zum Unternehmen», so Schellenberg, arbeitete er häufig mit einer kleinen Liste klarer Regeln, die im Haus und gegebenenfalls auch bei den Geschäftspartnern bekannt waren, und die eine klare Abgrenzung der journalistischen Inhalte vom kommerziellen Tätigkeitsfeld von Sponsoringpartnern ermöglichten.

Das Sponsoring etwa war streng abgegrenzt von der Programmorganisation, es war Sache der Direktion. Die Sendungen mussten unabhängig vom Sponsoring aus dem Budget finanziert werden. Die Sponsorengelder gingen in die Programmreserve der Direktion, und jeder auch nur scheinbare Einfluss des Sponsoring auf Programminhalte musste ausgeschlossen sein. So kam der «Nebelspalter» schon damals nicht als Sponsor einer Comedy-Sendung in Frage, und nach den Schellenberg-Regeln würde das heute wohl auch für ein schwedisches Möbelhaus als Sponsor der Sendung «Wer wohnt wo?» gelten. – Die Klarheit der Regeln hat manche Führungsentscheidung vereinfacht.

Verschlankung der Strukturen

Aber zwei grössere Brocken warteten noch: Die Verschlankung der inneren Führungsstruktur. Und die Verwirklichung von Schellenbergs strategischer Vision für die Programmentwicklung, die er auch in einem eingängigen Schlagwort formuliert hatte. Sein Ziel hiess: «Ein Programm auf zwei Kanälen».

Für die Umsetzung dieser Strategie brauchte er ein Führungsteam, das seine Ziele teilte und auch bereit war, dafür zu kämpfen. Er wollte dafür die Führungsspanne verkürzen, das heisst: die Zahl der Abteilungen, und damit auch die Geschäftsleitung, verkleinern. Und er wollte ein durchlässigeres Management. Ins Auge gefasst hatte er für dieses Ziel die Abschaffung der Abteilungen «Dramatik», die er nicht mehr für nötig hielt, sowie «Kultur und Gesellschaft» und «Bildung», die zu sehr eigenständigen und, für Schällis Verständnis, allzu eigenwilligen Fürstentümern geworden waren. Es war ein harter Schnitt, der gefährlich nahe an die Substanz des Service public ging.

Aus der «Dramatik» ging die Filmproduktion zum Teil an die Abteilung «Unterhaltung», zum Teil an die «Information». Die Abteilung «Kultur und Gesellschaft» blieb von 1994 bis zur Jahrtausendwende verwaist. Dann liess sich Peter Schellenberg vom neuen Programmdirektor Adi Marthaler und dem Finanzchef Ulrich Schmutz überzeugen, dass eine Abteilung «Kultur» nicht nur notwendig, sondern auch finanzierbar war. Und heute ist sie in ihrer thematischen Vielfalt von den klassischen Künsten zu Wissenschaft und Religion bis hin zur Lebensweise der nachwachsenden Generationen so breit aufgestellt, dass sie leicht wieder dem Namen «Kultur und Gesellschaft» gerecht werden könnte.

Bei der «Bildung» («Familie und Erziehung») stiess er auf so viel Widerstand bei den Schweizer Bildungsorganisationen, dass er die Abteilung lediglich auf einen «Bereich» ohne Einsitz in der Geschäftsleitung reduzierte. Dieser Bereich umfasste noch eine breit angelegte Bildungssendung mit Dokumentarfilmen zur «Orientierung in der Welt»: Serien zu nachhaltiger Entwicklung, Religion und Politik sowie aktueller Geschichte, mit anschliessendem kontroversem Gespräch. Dazu kamen das Angebot des Schulfernsehens, die Ausstattung ausgewählter Sendungen mit der Gebärdensprache und eine von der Krebsliga gesponserte Sendung über die regionale Küche in der Schweiz, mit Anton Mosimann, Kurt Aeschbacher und im «Magazin» mit der ersten schwarzen Moderatorin im Schweizer Fernsehen.

Grenzen der Autonomie

Um die Bildung gruppierte sich ein kleiner aber harter Kern. Als Schellenberg zusammen mit Chefredaktor Peter Studer im Rahmen einer ersten Sparübung 1998 die gesamte Rest-«Bildung» abschaffen wollte, stiess er auf parteiübergreifenden politischen Widerstand. Die Solothurner Ständerätin Rosemarie Simmen (CVP) forderte mit einer Motion die Einrichtung eines eigenen Bildungsfernsehens. Mit Blick auf die Gebärdensprache übernahm der querschnittgelähmte Nationalrat Marc F. Suter (FDP, BE) die Motion Simmen für den Nationalrat, und die beiden Nationalrätinnen Vreni Müller-Hemmi (SP/ZH) und Christiane Langenberger (FDP/VD) unterstützten ihn. Christiane Langenberger hat mit einem weiteren Antrag bei der Totalrevision der Bundesverfassung von 1998 dafür gesorgt, dass der Begriff «Bildung» als Teil des Auftrags von Radio und Fernsehen in die Verfassung aufgenommen wurde. Der Begriff war tatsächlich bis zu diesem Zeitpunkt im Radio- und Fernsehartikel nicht enthalten.

«Bildung funktioniert nicht am Fernsehen», hatte «Schälli» einmal gesagt. Aber er hat nach den einschlägigen Entscheidungen des eidgenössischen Parlaments unter dem Titel «Wissen» die Bildungsinhalte auch im Hauptabend platziert, und er hat das Schulfernsehangebot mit der Marke «My school» fest etabliert. – Während der Corona-Pandemie hat es sich sehr bewährt, dass dieses Angebot noch vorhanden war.

«Schälli» war trotz aller Umstrukturierungen im Kernbereich des Service public kein «Kommerzialisierer». Er war ein Intellektueller mit einer kaufmännischen Berufslehre – selbst wies er diese Bezeichnung mit einer gewissen Heftigkeit zurück – und ein genauer Beobachter der Menschen und ihrer Lebensweise. Er gab Impulse, liess sie wirken und entschied dann manchmal gerne über alle Kompetenzordnung hinweg.

Nachhaltiger Service public

So unterhielt er sich irgendwann, wahrscheinlich wieder bei einem Morgenkaffee im Personalrestaurant, mit dem Produzenten und Regisseur Adi Marthaler, dem Religionsredaktor Erwin Koller und dem Musikredaktor, Musiker und Komponisten Armin Brunner über den Sonntagmorgen als Fernseh-Programmplatz. Es war eine Herausforderung, ein echtes Problem, denn, so Schellenberg, die meisten Menschen würden ja nicht mehr in die Kirche gehen. Aber der Sonntagmorgen sei ihnen doch noch etwas Besonderes. So erzählt es Adrian Marthaler. Und dann haben sich Brunner, Koller und Marthaler immer mal wieder zusammengesetzt im Restaurant «Blaue Ente» am unteren Zürichsee und nachgedacht über das Fernsehen am Sonntagmorgen.

Und dann hat Adi Marthaler das Konzept präsentiert im Büro des Fernsehdirektors, in Anwesenheit des Chefredaktors und des Finanzchefs, und der Chefredaktor hat seine kritischen Einwände vorgebracht, und der Fernsehdirektor hat zugehört, und am Schluss der Präsentation hat er gesagt: «So machen wir das.» Und dann Fernsehdirektor Peter Schellenberg, ausnahmsweise etwas verspätet, erschienen in der wartenden Runde der Geschäftsleitung mit Stab, strahlend, und hat gesagt: «Wir haben ein grossartiges Programm für den Sonntagmorgen.» Das war die Geburtsstunde der «Sternstunden» – eine der Sendungen aus der Ära Schellenberg, die bis heute im Programm stehen.

Fernsehen für alle, für den Alltagsgebrauch

Das Ganze hatte allerdings System: ein System des dreifachen Massstabs, das dem Medienreferat die Messlatte lieferte für die Beurteilung der Sendungen. Reichweite – Reputation – Ressourcen bildeten das Dreieck der Qualifikation, in dem sich die Sendungen platzieren mussten. Die «Sternstunden» sind nicht auf regelmässig hohe Reichweiten verpflichtet (die sie gelegentlich durchaus erreichen), denn sie bringen hohe Reputation und verbrauchen wenig Ressourcen. Eine grosse «Samstagabendkiste» wiederum rechtfertigt den Aufwand an Finanzen und Produktionsmitteln in der Regel nur, wenn sie eine entsprechend hohe Reichweite erreicht. Dafür sind die Ansprüche an die Service-public-Reputation nicht zu hoch.

Das erzeugte Spannung beim Programmgestalter, der die unterschiedlichen Formate für die verschiedenen, teils unvereinbaren Wünsche in einer Programmstruktur unterbringen musste, die zugleich dem Konzessionsauftrag genügen musste. Und dies in einer Zeit, in der die private, teilweise kommerzielle Konkurrenz aus dem Inland und dem Ausland mit massenwirksamen Angeboten auftraten.

Auch da war Schellenberg «bei den Leuten», beim Alltagsleben und seinen Bedürfnissen. Wer nach Hause kommt und den Hunger im Magen gestillt hat, wird sich – damals noch, in der Zeit ohne Online-News – der «Tagesschau» zuwenden, um zu sehen, ob sich die Erde noch dreht. Und danach entspannen, mit Mäni Weber, Kurt Felix oder Beni Thurnheer, bei einem Quiz, das noch die Wirklichkeit sortiert, oder bei einem Krimi aus deutscher Machart. Danach mag es dann noch etwas Service-public-Information sein, dann die Spätausgabe der «Tagesschau» oder «10 vor 10» als Gute-Nacht-Geschichte. Das Ganze serviert im Taktfahrplan, an jedem Wochentag dasselbe Angebot. Alle wissen: Am Dienstag ist «Kassensturz» und am Mittwoch die «Rundschau» –, zu einem beträchtlichen Teil im Dialekt, um sich zu unterscheiden von der Konkurrenz, damit die Menschen sich zuhause fühlen. Und am Sonntagabend soll es ein Schweizer Film sein: als Soap, wie «Lüthi und Blanc», oder vielleicht sogar ein Schweizer Kinofilm aus der Eigenproduktion, für die der Generaldirektor zusätzliches Geld bereitstellt. All das im Kampf gegen die mächtigen grenzüberschreitenden Konkurrenten aus dem deutschsprachigen Nachbarland.

Schellenberg hat mit seiner Programmstrategie über 40 Prozent Marktanteil erreicht – eine Traumquote, wenn man an die (immer noch respektablen) 20 Prozent von heute denkt. Aber auch für das damalige Angebot des Schweizer Fernsehens musste der Programmplatz im internationalen Konkurrenzumfeld und gegen die Privatisierungsvorstellungen der Schweizer Medienwirtschaft und Politik zuerst erkämpft werden.

Ein Programm auf zwei Kanälen

«Ein Programm auf zwei Kanälen» – das war die strategische Vision, mit der Peter Schellenberg als Fernsehdirektor ins Rennen ging. Dafür hatte er sich wählen lassen, die Idee entsprach der internationalen Entwicklung. Denn mit der Deregulierung in den Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Italien wuchs dort die Zahl der neuen, attraktiven kommerziellen Sender im Grenzgebiet zur Schweiz, die mit ihren Sport- und Unterhaltungssendungen oder mit ihren lukrativen Spielen einen Teil des hiesigen Publikums und mit ihren Schweizer Werbefenstern Werbegelder vom Schweizer Markt abzogen.

Wollte SF DRS das Publikum weiter an ihr Angebot binden, musste es vielfältiger werden, das heisst, zur gleichen Sendezeit unterschiedliche Interessen bedienen: auf dem ersten Kanal das Polit- oder Konsumentenmagazin, auf dem zweiten Kanal die Fussball-Champions League, beispielsweise. Solange das Programm nur einen Kanal hatte, musste es eines der Publikumsinteressen auf eine schlechtere, publikumsunfreundliche Zeit verschieben und damit Abwanderung riskieren. «Ein Programm auf zwei Kanälen» leuchtet also ein.

Der Kampf mit dem Bundesrat

Aber Peter Schellenberg hatte einen Kontrahenten nicht einkalkuliert: Adolf Ogi, ab 1988 Bundesrat und Chef des Mediendepartements EVED (heute: UVEK). Ogi sah die Entwicklung im benachbarten Ausland, und er war offen für die Idee eines Kanals für private Veranstalter. Starten sollte dieses Programm allerdings unter der Obhut der SRG, die als «Gastgeber» für interessierte Fernsehprojekte privater Verlage wirken sollte.

«S plus»  – so hiess das Programm – wurde folglich dem Generaldirektor der SRG unterstellt. «S plus» sollte ab 1993 als nationales Angebot in Deutsch, Französisch und Italienisch neben ein paar eigenen Programmleistungen vor allem auch die sprachregionalen SRG-Kanäle wie SF DRS von Sportübertragungen entlasten. «Schälli» nutzte das, um auch von seiner Seite immer mal wieder ein Sportprogramm auf «S plus» zu platzieren. Ausserdem übernahm der Sender die viertelstündigen Nachrichtenformate von Euronews – all das war kein sonderlich attraktives Rahmenprogramm für ein Fernsehprogramm von kommerziell interessierten privaten Medienhäusern. Aber auch das Nachfolgeprojekt «Schweiz 4» erzeugte keine grössere Reichweite, und so wurde das Experiment im Sommer 1997 schliesslich eingestellt.

Adolf Ogi, der Schellenbergs Arbeit und seine Programm-Erneuerung bis heute sportlich zu würdigen weiss – «Schellenberg hat gekämpft wie ein Löwe, und er hat gesiegt aus einer Position der Stärke» –, war trotz der strategischen Differenzen mit Schellenberg zum Fest des 40-jährigen Bestehens von SF DRS im Sommer 1993 nach Zürich gereist, und hat im Leutschenbach-Studio seine andauernde Wertschätzung mit einer Rede zum Ausdruck gebracht.

Peter Schellenberg kämpfte damals tatsächlich gegen die hausinterne Konkurrenz von «S plus» und später «Schweiz 4». Aber er hat gleichzeitig den interessierten Medienhäusern ein Angebot zur Zusammenarbeit gemacht, das sie offenbar mehr überzeugte: Sie haben sich 1995 zusammengeschlossen zur «Presse TV AG» und produzieren bis heute Sendungen wie «NZZ Standpunkte», «Bilanz Standpunkte» oder «Gesundheit heute». Die Verlage erhalten für die Produktionen, die auf den Kanälen des Schweizer Fernsehens zu geeigneten Sendezeiten ausgestrahlt werden, eine Entschädigung. Die Sendungen laufen unter je eigener Programmverantwortung. Beteiligte Unternehmen sind die NZZ Mediengruppe, Ringier Axel Springer Schweiz, Tamedia, Südostschweiz Mediengruppe und die deutsch-japanische DCTP (u.a. mit Alexander Kluge und «Spiegel TV»). Der Kooperationsvertrag läuft bis Ende 2021. Danach wird man sehen.

Der gemeinsame elektronische Medienraum

Peter Schellenberg hat immer gesagt: «Der Schweizer Markt ist nicht gross und stark genug für zwei eigenständige Fernsehkanäle.» Das galt sicher für die Epoche der elektronischen Medien. Er hat deshalb das elektronische Mediensystem in der Schweiz wie einen gemeinsamen Medienraum behandelt, in dem eine kluge Zusammenarbeit geboten ist.

Das gilt sicher auch und wohl noch mehr für den neuen digitalen Medienraum, der alle einschliesst, denn die technische Unterscheidung zwischen Presse, Radio/Audio, Fernsehen/Video und Online/Multimedia löst sich auf. Alle sind Multimedia, irgendwann. Vielfalt in der Konkurrenz gibt es nur durch kluge Kooperation. Eine Kooperation, die nicht auf Einschränkung zielt, sondern auf möglichst grosse Entfaltung aller Beteiligten. Alles andere ist zerstörerisch. Und geht auf Kosten der Nutzenden.

Nicht anders deklarierte Zitate von Peter Schellenberg stammen aus einem Gespräch des Autors mit Peter Schellenberg im Jahr 2019.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Robert Ruoff war nach seiner Zeit als Redaktor, Moderator und stellvertretender Leiter der «Tagesschau» (1983–1989) Politik-Moderator bei SF DRS («Freitagsrunde») und persönlicher Mitarbeiter von SRG-Generaldirektor Antonio Riva (1989–1991), Pressechef SF DRS (1991–1996) und Leiter des Bereichs Bildung SF DRS (1996–2004).

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

SRG_Dossier

Medien: Service public oder Kommerz

Argumente zur Rolle und zur Aufgabe der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG.

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Eine Meinung zu

  • am 1.05.2021 um 19:13 Uhr
    Permalink

    Landfrauenküche
    Vielen Dank für die Würdigung von Peter Schellenberg. Ein Satz darin ist aktuell geblieben als Schlüssel zum Verständnis des Niveau-Niedergangs von Qualität und Quote (von 40% auf heute 20%): „Eine grosse ‚Samstagabendkiste‘ wiederum rechtfertigt den Aufwand an Finanzen und Produktionsmitteln in der Regel nur, wenn sie eine entsprechend hohe Reichweite erreicht. Dafür sind die Ansprüche an die Service-public-Reputation nicht zu hoch.“ Darin steckt eine Rechnung, die nicht aufgehen kann: nämlich mit tieferen Ansprüchen und mit mehr in die Sendung investiertem Geld eine grössere Reichweite zu erreichen. SRF kann sich nur behaupten mit einer hohen „Service-public-Reputation“. Aber es produziert mit viel Geld Primetime-Sendungen wie „SRF bi de Lüüt“, die mitunter alles Rückschrittliche, historisch Verlogene, Erzkonservative schon im Titel in sich vereinen: „Landfrauenküche“ – sozusagen als politisches Manifest. Frauen mit Folkloreschürzen in der Küche, für Männer kochend, die in bäuerlichen Trachtenkutten mit Holzlöffeln aus der gleichen Schüssel Rahmsuppe schöpfen und Heimatlieder singen – dies tischt SRF in Modellbildern aus dem späten Mittelalter auf, ohne sie zu erklären, sondern zu zelebrieren. Rahmsuppe braucht heute nur noch, wer strenge körperliche Arbeit verrichtet, also unsere Fremdarbeiter, die kein Schweizer Fernsehen schauen, schon gar nicht dieses. – Wer wird da eigentlich bedient?

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