Verharmlosende Sprache: Mangelnde Sorgfalt oder Absicht?
Kürzlich kamen bei einem Attentat in Brüssel zwei schwedische Fussballfans ums Leben. Die Berner Zeitung schrieb: «Erst am Morgen nach den tödlichen Schüssen konnten die belgischen Behörden den mutmasslichen Täter in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeck in einem Café lokalisieren. Der Verdächtige sei ‹neutralisiert› und in ein Spital gebracht worden, meldete die Polizei.»
Mag sein, dass die Polizei das so gemeldet hat. Aber eine Zeitung ist nicht das Sprachrohr der Polizei. Sie soll informieren. Möglichst klar und verständlich. Sie soll nicht verschleiern.
Es ist nämlich so, dass der Täter kurz nach der «Neutralisation» gestorben ist. Die Polizei hatte ihn niedergeschossen. Das darf man so schreiben. Und man soll es so schreiben. Es ist keine Kritik an der Polizei. Nur eine Feststellung. «Neutralisieren» hingegen beschönigt den Sachverhalt.
Am sorglosen Umgang mit der Sprache kranken übrigens nicht nur Journalisten und Journalistinnen. Verbreitet ist er auch in der Wissenschaft, in der Werbung, in der Politik. Eigentlich bei uns allen. Denn präzises Formulieren kann schwierig sein. Und anstrengend.
Verharmlosen
Aber zurück zum Beispiel vom Attentat in Brüssel. Es zeigt, wie der unsorgfältige Umgang mit der Sprache dazu führen kann, dass wir verharmlosen. Ob absichtlich oder nicht. Ein paar Beispiele:
- Absichtlich verharmlosend oder beschönigend sind wohl die Kleber und die Plakate des Bauernverbandes, mit denen er Stimmung gegen den Wolf macht: «Nutztiere und Menschen schützen – Wölfe regulieren!» Zutreffend wäre: «Wölfe abschiessen!»
- Gerade bei den Wölfen beschönigen auch die Behörden. Kürzlich sagte die Bündner Mitte-Regierungsrätin Carmelia Maissen am Radio: «Wir möchten dort Rudel entnehmen können, wo wir bisher die grössten Konflikte hatten.» Die SRF-Journalistin sprach sogleich von einer «Entnahme». Es klang, als würden die Wölfe weiterleben – halt einfach anderswo. Dabei ging es eigentlich ums «Vernichten», ums «Ausrotten», «Ausradieren», «Ausmerzen» oder «Auslöschen» – schlicht ums «Töten». Warum soll man das nicht so sagen, wenn es so ist?
- Unverständlich ist, warum ein IKRK-Sprecher in den SRF-Radionachrichten von «Feindseligkeiten» im Gaza-Streifen sprach. Das sind keine «Feindseligkeiten» – das ist Krieg.
- Ohne Absicht dürften die Tamedia-Zeitungen verharmlost haben, als sie eine Studie der Uni Bern zum Thema Fangewalt vorstellten. Im Artikel stand: «Die Polizei stellte ‹eine Zunahme in der Qualität einzelner Gewaltereignisse fest›.» Wissenschaftlich mag das Wort «Qualität» in diesem Zusammenhang richtig sein. Aber ein Journalist ist auch ein Übersetzer. Er soll Wissenschaft verständlich vermitteln. Und dann wird aus der «Qualität einzelner Gewaltereignisse» sinnvollerweise die «Heftigkeit einzelner Gewalttaten».
- Die Tamedia-Zeitungen meldeten kürzlich – gestützt auf die Schweizerische Depeschenagentur – dass Nestlé eine Fabrik in Irland aufgebe. Und weiter: «Davon sind 542 Jobs betroffen.»
«Menschen!», möchte man den Journalisten zurufen. Menschen sind betroffen, nicht Jobs. Menschen verlieren ihre Stelle!
Verstärken
Manchmal scheint es auch darum zu gehen, den eigenen Worten besonderen Nachdruck zu verleihen. Dann zum Beispiel, wenn die Berner Zeitung nach dem Attentat von Brüssel schreibt, der Täter habe «aktiv nach schwedischen Staatsbürgern gesucht». Als ob man passiv suchen könnte.
Meist kommt das Wort «aktiv» in der Werbesprache vor: Wenn sich VW «aktiv für den Fussball einsetzt». Oder wenn die Post «die Potenziale aktiv ausschöpfen will». Dabei ist «aktiv» fast immer überflüssig. Weitere Beispiele für unnötige Verstärkungen:
- Nachdem sich ein Dozent judenfeindlich geäussert hatte, sagte der Rektor der Uni Bern in einem Interview über die anstehende Untersuchung: «Es ist mir wichtig, dass wir das nicht einfach aus dem Affekt heraus machen, sondern – wie man das von einem Forschungsbetrieb erwartet – zuerst faktenbasiert abklären.» «Faktenbasiert» tönt gut. Aber die Frage sei erlaubt: Kann es überhaupt Abklärungen geben, die nicht «faktenbasiert» sind?
- Das Schweizer Radio repetiert bei Meldungen aus den Kriegsgebieten in der Ukraine beziehungsweise in Israel und dem Gazastreifen, dass sich Angaben «nicht unabhängig überprüfen» liessen. Als Zuhörer oder als Zuhörerin fragt man sich dann: Wie anders – als unabhängig – soll eine Überprüfung erfolgen?
Wer so formuliert, leidet möglicherweise auch unter einem gewissen Geltungsdrang. Ob «aktiv», «faktenbasiert» oder «unabhängig» – klingt alles gut, sagt aber häufig nichts aus.
Verschleiern
Kürzlich berichteten die Tamedia-Zeitungen über den Konflikt zwischen der Fussballerin Ana-Maria Crnogorcevic und der inzwischen abgetretenen Nationaltrainerin Inka Grings. Crnogorcevic sei «meinungsstark» stand in den Zeitungen. Zweifellos ein origineller Ausdruck, aber leider kein verständlicher. Er verschleiert nur, was gemeint sein könnte. Sagt Crnogorcevic einfach ihre Meinung? Ist sie selbstbewusst? Oder ist sie stur? Keine Ahnung. Es bleibt das Geheimnis des Journalisten.
Blenden
Eigentlich dient ja Sprache der gegenseitigen Verständigung. Sie kann aber auch dazu dienen, das Gegenüber zu blenden. Wenn die Medienstelle der Migros «eine vielfältige Auswahl an artisanal hergestellten Glace-Sorten» preist, dann dient das nicht unbedingt der Information. Vielmehr preisen die Autoren ihre Bildung. Statt «artisanal» könnten sie auch einfach «handwerklich» schreiben – wenn es denn stimmt. Das würden alle verstehen.
Es gibt viele weitere Wörter, die den Schreiber oder den Sprecher in besonderem Glanz erscheinen lassen, aber eigentlich nichts Zusätzliches leisten. Zum Beispiel:
- «Sanktionieren»: Das ist zwar ein wohlklingendes Fremdwort, aber was bedeutet es im konkreten Fall? «Bestrafen», «festnehmen», «büssen»?
- «Expertise» ist schlicht und einfach «Fachwissen».
- Ein «Perimeter» ist ein «Gebiet».
- Ein «Vakzin» ist nichts anderes als ein «Impfstoff».
- «Vulnerabel» bedeutet «gefährdet», «anfällig» oder «verletzlich».
- Ein «Narrativ» ist eine «Erzählung» oder eine «Geschichte».
- «Indigen» bedeutet eigentlich «eingeboren». Wer das zu altertümlich findet, kann stattdessen «ursprünglich», «einheimisch», «heimisch» oder «eingesessen» sagen.
- «Generieren» ist ein Modewort für «erzeugen», «herstellen», «erschaffen» oder «zeitigen».
- Ein «Stakeholder» kann alles Mögliche sein: «Angestellter», «Kunde», «Lieferant», «Bank» – einfach jemand, der aus irgendeinem Grund ein Interesse an einer Firma hat.
- Auch «Cat-Calling» ist ein modischer Sammelbegriff. Warum das Problem nicht benennen? «Hinterherpfeifen», «hinterherlaufen», «hinterherhupen», «nachstarren» oder «Kussgeräusche machen».
Ausschliessen
Manchmal bewirken Sprecher und Schreiber mit unsorgfältiger Sprache das Gegenteil dessen, was sie vorgeblich möchten. Ein schönes Beispiel dafür ist das Wort «Inklusion». Es bedeutet: «Teilhabe.» Aber es bewirkt eher «Exklusion» – also «Ausschluss». Es schliesst nämlich all jene aus, die es nicht so mit Fremdwörtern haben. Und auch nicht mit «Wokeness» und mit «Gendergerechtigkeit». Klar ist jedenfalls, dass sich mit Begriffen wie «Diversität» (statt «Vielfalt») oder «Visibilität» (statt «Sichtbarkeit») breitere Bevölkerungskreise nicht ansprechen lassen.
Ablenken
Mit manchen Ausdrücken lenken wir auch von der Wirklichkeit ab. Schrecklich ist das Wort «Blutbad». Da badet niemand. Da sind Menschen verletzt. Oder tot. Und sie liegen in ihrem eigenen Blut. Mit «Blutbad» ist eigentlich ein «Massaker» gemeint. Und als solches sollten wir es auch bezeichnen.
Ähnliche Unwörter sind die «Bluttat» und das «Blutvergiessen». Ebenso der «Blutzoll», der suggeriert, irgendjemand hätte das Recht, etwas zu verlangen, beziehungsweise jemand hätte die Pflicht, etwas zu entrichten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Inflationär(sic!) gebraucht werden auch so hübsche Wörter wie «erratisch» und «volatil»
Und übrigens: warum statt «abschiessen» nicht gleich das Kind beim Namen nennen u.
«töten» schreiben/sagen?
Ich finde diesen Artikel ausgezeichnet – und längst überfällig…
Nach meiner Feststellung wird die Sprache zunehmend missbraucht, um Fakten bewusst und bösartig zu verdrehen. Krasses Beispiel:
Das – angebliche – Selbstverteidigungsrecht von Israel in Gaza und im Westjordanland, kurz in den Palästinensergebieten.
Ich verweise auf das Interview von Thoma Kaiser mit Jacques Baud* am 16. Oktober 2022 als Referent in Solothurn.
Israel hat grundsätzlich das Recht auf Selbstverteidigung – NICHT ABER IM SEIT ÜBER 70 JAHREN BESETZTEN GEBIET VON DEN PALÄSTINENSERN!
Kein Besatzer hat in einem von ihm besetzten Gebiet das Recht auf Selbstverteidigung – ist doch logisch und auch gesetzlich so geregelt.
*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee.
Ich teile diese Auffassung. Aber was die Sprache betrifft: Die Israeli schreiben im Kartext. Im Verlaufe des letzten Jahres erklärten israelische Minister mindestens dreimal, dass sie die Palästinenser nicht als Menschen ansehen, sondern als Ungeziefer, das sie vernichten werden. Genau so handeln sie auch.
Was in der Aufzählung fehlt sind die „unschuldigen“ Zivilisten, Kinder, Frauen etc.
Was machen wir mit den „schuldigen“ Zivilisten – besonders in Hinblick auf das, was jetzt auf den aktuellen Kriegsschauplätzen geschieht.
Ja, da kommt mir der Aargau in den Sinn, der es via seine «His masters voice»-Medien geschafft hat, dass statt von Atomkraftwerken nun schweizweit von Kernkraft geschwafelt und geschrieben wird. Putin könnte es nicht besser machen!
Besonders krass ist die Verharmlosung durch gezielte Sprachregie beim von den Medien ständig verwendeten Begriff «Aktivisten». Wer von links kommt und sich beispielsweise als Pneustecher betätigt, ist nicht ein Krimineller, sondern in milder Darstellung ein «Aktivist», wer Strassen und Supermärkte blockiert, Kunstbilder zerstört und Fassaden verschmiert, verstösst zwar gegen das Gesetz, ist aber ebenso beschönigend ein «Aktivist».
Zudem ist jeder erfolgreiche Rechtspolitiker zumindest ein «Rechtspopulist», wenn nicht gar ein «Rechtsextremist». «Rechtskonservativ» reicht nicht. Linkspopulisten gibt es im Journalismus gar keine, und Linksextreme sind, wie dargestellt, im schlimmsten Fall «Autonome», in der Regel jedoch «Aktivisten».
Guido Tognoni, Küsnacht