Kommentar

Kontertext: Sommerzeit!

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Der Sommer ist mehr als eine Projektionsfläche für Glück. Ein Plädoyer, dem Leben im Sommer unsentimental auf den Grund zu sehen.

Keine Jahreszeit versammelt mehr Versprechen, Poesie und Gefühle als der Sommer. Romane und Filme, die den Sommer zum Protagonisten machen, profitieren von den intensiven Stunden und Rekorden, die er mit sich bringt. Ein erster Sommer, ein letzter Sommer, Sommertraum und Sommernacht, Sommerfrische, Sommerliebe, Atemzüge eines Sommertags, Sommerkleid und Sommerbier: Wir kennen die Epitheta des Sommerlichen in allen Schattierungen, und noch immer klingen sie glücksverheissend.

Aug’ in Auge mit dem Sommer

Tatsächlich gibt es kaum süssere Geschichten und Erinnerungen als jene, die sich von Sommererlebnissen der Kindheit nähren. Auch wenn sie Bitteres und Unglückliches enthalten, tragen sie das Gepräge des Sommers, das unabweisbar ist. Was ein «Cruel Summer» ist, verrät Taylor Swift in ihrem Megahit (mit eigenem Wikipediaeintrag!) zwar nicht, doch setzt sie gezielt auf den Widerspruch zwischen Sommerglück und grausamer Liebe. Und auf die Analogie von Hitze und Fieber. In einem kurzen Essay von 2001 im «Corriere della Sera» trug Claudio Magris diese Magie des Sommers einmal auf wenigen Seiten zusammen und dichtete dabei dem Sommer an, was sofort einleuchtet: Dass er das Gesicht des wahren Lebens sei.

Der Text heisst «Die Verschwörung gegen den Sommer» und ist eine Verteidigung des Glücks, der Kindheit, der leeren Stunden am Meer, der absoluten Gegenwart, des ewig blühenden Oleanders. Aber er ist mehr als ein Gesang der Schönheit. Vielmehr zielt er auf einen bitteren Geschmack dieser Schönheit des Sommers. Dieser bestehe, so Magris, in seinem Potential, uns an «manchen völlig transparenten Tagen» erfahren zu lassen, wie das Leben sein könnte. Mit dem Hinweis auf diese Transparenz beschwört Magris das Gegenteil vom Klischee der baumelnden Seele, das heute als «Abhängen» und «Chillen» bezeichnet wird . Magris’ Idee der sommerlichen Auszeit ist es also nicht, das Leben vergessen zu machen, sondern ihm ganz im Gegenteil auf den Grund zu gehen. Das ist nicht ungefährlich. Die Gefahr bei solchem Eintauchen ist, dass wir uns diesem vollen Leben nicht gewachsen fühlen und seiner Fülle mit Zerstreuungen begegnen. Zu deutlich könnte sie uns die Profanität unserer Existenz fühlen lassen. «Bekanntlich kann es für einen, der an schlechte Luft gewöhnt ist, gefährlich sein, ins Freie zu gehen.» So trocken endet Magris’ Essay.

Nun gibt es tatsächlich immer mehr Löschmittel gegen die Wahrheit des Sommers.

Verschwörungen gegen den Sommer

Was Magris als Verschwörung gegen den Sommer ausmacht, sind alle Mobilmachungen gegen die Musse, all die Symposien, Festivals, Sportevents und Meetings – «eine unerbittliche totalitäre Organisation», die das Streunerdasein des Menschen verhindern will. Magris schrieb dies vor über 20 Jahren, an der Schwelle zum Social Media Zeitalter, das diesen Garaus praktisch ganz vollzogen hat. Aber auch mein Text würde hier nicht geschrieben, hätte ich den Sommer als heilige Zeit des Abtauchens wahrgenommen und meinen Computer zu Hause gelassen.

Wir leben also immer mit einer Sehnsucht, die wir nie ganz einholen können. Gleichzeitig bringt der Sommer heute einiges mit sich, was es schwierig macht, ihm einfach zu frönen und ihn als mediterrane Utopie auszurufen, wie Magris das noch vor 20 Jahren tat. Denn die Verschwörung gegen den Sommer kommt nicht nur aus unserer eigenen Unfähigkeit loszulassen und auch nicht nur aus den Agenden der Sport- und Kulturveranstaltungen, sondern auch aus der Zerstörung der Natur, die unsere Sehnsüchte durchkreuzt.

So können Hitzerekorde nicht mehr als Bestätigung eines «grossen Sommers» gefeiert werden, denn sie erweisen sich immer mehr als Bedrohung für Menschen, Tiere und Pflanzen. Beim Eintauchen ins Meer die Transparenz zu erfahren, wird schwierig, wenn gleichzeitig mit den erhöhten Temperaturen die Quallenschwärme sich bis an die Ufer ausbreiten. Wenn der Sommer als Inbegriff des Lebens gefährdet wird, dann verändert sich mit ihm auch unser Leben.

Ausblenden, weiterfliegen oder hinschauen

So sind auch hierzulande die Sommergewitter oft nicht mehr willkommene Abkühlung, sondern wecken Angst vor Stürmen mit Starkregen und machen Bergtäler zu Katastrophenräumen. Auch in den Städten steigt die Sorge vor den Sommerstürmen, denn kaum eine Region in der Schweiz ist wirklich geschützt vor Hochwasser: eine Forschungsinitiative zu Hochwasserrisiken an der Universität Bern erfasst die Gefahrenlage systematisch. Ihr zu Folge ist jede siebente Person in der Schweiz tendenziell von Hochwasser betroffen, Risiko steigend.

Einen denkwürdigen Umgang mit den Gefahren offenbart die Dramaturgie einer SRF-Tagesschau. Sie berichtet am 30. Juni von den dramatischen Schäden im Wallis und im Maggiatal, an welche niemand zuvor gedacht hatte. Die interviewten Personen in Cevio stehen unter Schock. Die Bilder der Verwüstung brennen sich ein: Zerstörte Häuser im Tal und zerfetzte Tierkadaver, die in den Lago Maggiore gespült wurden, Familien am Rande ihrer Existenz. Wenig später zeigt die Tagesschau einen Bericht vom Grossandrang am Flughafen Kloten – nicht als Katastrophe, sondern als Zeichen wirtschaftlicher Gesundheit. Und am folgenden Tag meldet die Tagesschau, dass man das fünfte Opfer gefunden habe, von den menschlichen Leichen erfährt man aus Diskretion nichts, aber sie gehören eigentlich zu den Klimatoten der Schweiz. Dafür folgt ein Bericht zum Erfolg der Lufthansa: Die EU entschied, dass sich die Airline an der Italienischen Luftfahrtgesellschaft ITA beteiligen und somit expandieren darf.

Eine andere Zeit

Solche Über- und Ausblendungen mögen zufällig sein. Vielleicht denken die Programmverantwortlichen, man müsse Gleichgewichte herstellen zwischen Katastrophen und Ferienfreude oder sie bezeugen einfach das Dilemma des Istzustandes einer sich auf den Kipppunkt zubewegenden Gesellschaft. Auf jeden Fall zeigen sie die Widersprüche des Sommers deutlich.

Man könnte die langen Sommertage auch nutzen, genauer hinzuhören und hinzuschauen, was die Gegenwart uns an Widersprüchen offenbart und was die Auswirkungen auf uns sind. Denn das Zeitgefühl wird immer entscheidender für unsere Wahrnehmung des Klimawandels: Was passiert wie schnell, was folgt worauf, was passiert gleichzeitig und wieviel Gleichzeitigkeit erträgt die Erde? Die Überblendungen und harten Schnitte der Nachrichtenredaktion tragen den Zusammenhängen keine Rechnung und blenden die tiefer liegende Realität aus.

Das eine im andern

Anders macht es die Kunst. Eine Arbeit des belgischen Künstlers David Claerbout, die jüngst an der ART Unlimited in Basel gezeigt wurde, vermag es, auf eindringliche Weise die absolute Schönheit eines Sommergartens mit dem Inferno zu verbinden. Die Arbeit heisst «Bird cage» und lässt zwei Vögel als Protagonisten den langsamen Übergang vom Sommeridyll zur tödlichen Gefahr erleben. Eine einzige langsame Kamerafahrt nimmt jedes Detail des Gartens und jede Bewegung der Vögel in halluzinatorischer Schärfe in den Blick und leitet über zur Explosion des Hauses im Zentrum des Gartens. Mit raffinierter Bildtechnologie lässt Claerbout dabei das Gefühl von Koexistenz entstehen: Die Extreme existieren plötzlich auf der gleichen Oberfläche und berühren sich, Flucht und Ausblenden sind nicht möglich. Würde man den noch immer abstrakten Klimawandel so miterleben wie die Vögel im Käfig (sie überleben im Film), würde man aufmerksamer. Man würde alles aufbieten, um fossile Brennstoffe zu vermeiden und das Bestehende zu schützen. Ob man der Utopie des mediterranen Sommers nochmals so anhängen kann, wie es Claudio Magris tat, ist fraglich. Aber vergessen sollte man das Versprechen nie, das in einem Sommer liegt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 19.07.2024 um 21:02 Uhr
    Permalink

    Was mir am Sommer trotz allem gefällt sind die langen hellen Abende, die Stunden in der Badi, das Schwimmen und die spontanen kurzen Gespräche draussen über nichts. Ich liebe den Sommer und den Frühling als Versprechen auf den Sommer.

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