NZZ International geht auf «Stabilitätskurs»
Am 1. Juli 2013 hat Eric Gujer die Leitung des Ressorts International der NZZ übernommen, «auf Antrag des Chefredaktors», wie man lesen konnte. Und eben dieser Chefredaktor, Markus Spillmann, schrieb in der Ankündigung des Stabwechsels am 29. Juni: «Gujers Leistungsausweis als Journalist, Kommentator, Referent und Buchautor ist lang und eindrücklich. Er ist damit bestens qualifiziert, die grosse Tradition der internationalen Berichterstattung der NZZ nicht nur fortzuführen, sondern diese auch immer wieder den Erfordernissen der Zeit anzupassen.»
Anpassen? Anpassen an die «Erfordernisse der Zeit»? Da konnte man ja gespannt sein.
Einen Monat liess sich Eric Gujer Zeit. Gestern Samstag, 3. August 2013, liess er die Katze nun aus dem Sack: mit einem Leitartikel auf der NZZ-Titelseite. Und tatsächlich: die Anpassung an die «Erfordernisse der Zeit» ist eingeläutet.
Neue, andere Töne
Eric Gujer schreibt, wohl nicht zufällig, über den Nahostkonflikt. Über genau jenen Konflikt also, dem sein Vorgänger, Martin Woker, mit grossem persönlichem Wissen und bewundernswerter Resistenz gegen die politischen PR-Kampagnen interessierter Kreise vier Jahre lang sein besonderes Augenmerk geschenkt hatte. Der ehemalige IKRK-Delegierte Woker wusste und weiss um die Not von Betroffenen in kriegerischen und/oder besetzten Gebieten, aus eigener Anschauung. Zu Recht machte er deshalb immer wieder aufmerksam auf die widerrechtlichen israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland, auf die unwürdigen Lebensbedingungen der dortigen, jetzt völlig entrechteten Bevölkerung, auf die Doppelzüngigkeit der israelischen Regierung unter Benjamin Netanyahu. Und darauf, dass diese Politik letztlich auch für Israel nicht gut ausgehen kann.
Martin Woker stand mit dieser Beurteilung der Situation im Nahen Osten denn auch keineswegs allein. Selbst der prominente ehemalige US-Präsidenten-Berater Zbigniew Brzezinski, um nur ein Beispiel zu nennen, seinerseits nicht gerade bekannt dafür, ein Weichei zu sein, schrieb schon 2010 in der Zeitschrift «Foreign Affairs» über die enttäuschende Untätigkeit Obamas im Palästinakonflikt: «Die Lähmung im israelisch-palästinensischen Konflikt dauert schon viel zu lange, und ihn ungelöst zu lassen hat schädliche Folgen für die Palästinenser, für die Region, und auch für die USA. Und er wird schlussendlich auch Israel selber schädigen. Es ist nicht gerade Mode, das zu sagen, aber es ist nachweislich wahr, dass – verdientermassen oder auch nicht – viel an der gegenwärtigen Feindseligkeit gegenüber den USA im Mittleren Osten und in der Islamischen Welt ganz allgemein auf dem Blutvergiessen und dem Leiden entstanden ist, das durch diesen langen Konflikt verursacht wurde.» (Originalversion in Englisch siehe am Ende dieses Kommentars.)
Ganz anders beurteilt die Situation nun der neue Ausland-Chef Eric Gujer. « …heute ist der israelisch-palästinensische Konflikt nur noch ein Nebenschauplatz des arabischen Umbruchs», schreibt er in seinem jüngsten Leitartikel. «Heute ist der Status quo aus israelischer Sicht erträglich, er rechtfertigt jedenfalls keine die Gesellschaft polarisierenden Konzessionen. Auch geostrategisch steht Israel nicht unter Druck. Die Nachbarstaaten sind seit Ausbruch der arabischen Revolution zwar unberechenbarer geworden, von ihnen geht aber weniger denn je eine militärische Gefahr aus.» So steht es da wörtlich. Und an anderer Stelle: «Selbst die aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen sind nur eine Plage, aber keine echte Bedrohung.» Oder: «Vor zwei Jahren war die Lage ungemütlicher.»
Andere Beurteilung – und andere Schlussfolgerungen
Diese Beurteilung der für Israel entspannten Lage führt bei Eric Gujer nun allerdings nicht, wie man vielleicht erwarten würde, zur Aufforderung, Israel möge aufgrund seiner absoluten militärischen Überlegenheit trotzdem nicht übermütig werden und solle sich deshalb erst recht endlich bereit erklären, zu einem Frieden auf der Basis der Grenzen von 1967 Hand zu bieten. Nein, im Gegenteil. Gujer kritisiert die EU, die kürzlich beschlossen hat, die israelischen Siedlungen in Westjordanland von ihrer wirtschaftlichen Unterstützung für Israel auszuschliessen. «Ein unnötiger Eklat», schreibt Gujer. Selbst das «sonst so nibelungentreue Deutschland» gehe «auf Distanz zu Netanyahu», bedauert er. Denn Israel sei ein «Hort der Stabilität in einer Region, in der politische Konflikte bevorzugt mit Gewalt ausgetragen werden und sich alle Regime Gedanken über ihre Zukunft machen müssen.»
Gefordert wird eine «Neubewertung»
«Die Europäer müssen sich fragen, welchen Einfluss sie im Nahen Osten noch haben und ob die Umwälzungen nicht auch eine Neubewertung des belasteten Verhältnisses zu Israel nahelegen», steht da auf der NZZ-Titelseite weiter zu lesen. Und was legt nun der neue Chef NZZ International den Europäern nahe?
Der letzte Satz besagt es in erschreckender Offenheit: «Eine nüchterne Abwägung ihrer Interessen gebietet es den Europäern, Israel als Partner wieder ernster zu nehmen und dem Palästinakonflikt nur die Bedeutung zuzumessen, die ihm wirklich zukommt.» Oder anders fomuliert, etwas freier und spitzer: Vergesst den Palästinakonflikt. Marschiert – «in nüchterner Abwägung der Interessen» – gemeinsam mit der Militärmacht Israel. Denn Israel ist ein «Hort der Stabilität»!
Die Argumentation gibt zu denken
Dass die Kommentierung des Nahost-Konfliktes in der NZZ künftig also völlig anders sein wird, ist hier schon einmal unzweideutig angekündigt, selbst wenn die ausgezeichnete Korrespondentin in Jerusalem die gleiche bleiben sollte. Denn: Nach NZZ-Philosophie schreiben die Auslandkorrespondenten zwar ihre Berichte, die Kommentare aber werden im Hauptquartier, also an der Falkenstrasse in Zürich geschrieben.
Was nun allerdings zusätzlich zu denken gibt und sogar noch schwerer wiegt, ist die Argumentation dieser «Anpassung an die Erfordernisse der Zeit». Man sieht sich unwillkürlich an das Jahr 2003 erinnert, als die NZZ (als, neben den «Schaffhauser Nachrichten», einzige Schweizer Zeitung) den Einmarsch der US-Truppen in den Irak ausdrücklich begrüsste (und sich, nebenbei, im Gegensatz etwa zur New York Times, nie dafür entschuldigte, sondern diese ihre denkwürdige Haltung ganz gerne der Vergessenheit überantwortete).
Historiker, Geschichtsbewusste und Belesene wissen es: Nicht jede Unruhe führt zu einer freiheitlicheren Ordnung. Viele Aufstände scheitern und führen erst recht zu despotischen Verhältnissen. Aber umgekehrt basieren alle gesellschaftlichen Befreiungen, alle grossen Schritte der Menschheit in Richtung Gleichberechtigung und Freiheit von obrigkeitlicher Bevormundung – oft ausgelöst und verstärkt von menschlicher Not – auf Auflehnung von unten, auf Bewegungen von kleinen und grossen Gruppen oder gar Massen, auf Unruhen also. Keiner der grossen Menschheitsschritte vorwärts basierte auf Stabilität. Denn nirgends ist die Stabilität grösser als in einem Machtgefüge ohne Widerspruch, ohne Diskussion, ohne Alternative.
Apropos: Es war und ist weitgehend noch heute die Strategie der US-Aussenpolitik, und dies seit Jahrzehnten: Sie setzte und setzt immer noch auf Stabilität und wirtschaftliche Interessen, ungeachtet des Regimes, das für die von US-Seite erwünschte und unterstützte Stabilität «verantwortlich» ist.
Anpassung an die Erfordernisse der Zeit
Den Finger auf die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels zu legen, wird also nicht mehr die sich an der Menschenwürde orientierende Kommentierung der NZZ der letzten Jahre sein. Man soll Israel «ernster nehmen», so der neue Ausland-Chef Eric Gujer, denn Israel hat im Nahen und Mittleren Osten die technologisch beste und stärkste Armee – inklusive Atomwaffen. Und Israel ist damit ein Garant für Stabilität. Überhaupt: Europa, und mit Europa wohl auch die Schweiz, sollen sich künftig an den Kriterien der Stabilität orientieren – wissend, was Stabilität ausmacht: eine möglichst harte Führung, eine starke Armee, wirtschaftliche Potenz bzw. Öl und Bodenschätze.
Mal sehen, ob wir dann immer noch die NZZ lesen wollen. Oder nicht doch gelegentlich zur «Süddeutschen» wechseln.
(Alle Kursiv-Auszeichnungen in den Zitaten von cm)
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Das Zitat von Zbigniew Brzezinski, im englischen Original (Foreign Affairs Jan./Feb. 2010):
»Paralysis over the Israeli-Palestinian conflict has lasted far too long, and leaving it unresolved has pernicious consequences for the Palestinians, for the region, and for the United States, and it will eventually harm Israel. It is not fashionable to say this, but it is demonstrably true that – deservedly or not – much of the current hostility toward the United States in the Middle East and the Islamic world as a whole has been generated by the bloodshed and suffering produced by this prolonged conflict.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Die Geschichte erinnert stark an die Ereignisse bei der BaZ. Der Chefredaktor versucht sich mit Leitartikel, die niemand Vernünftiger ernst nehmen kann. Und der geheime Financier, der je nach Wetterlage Besitzer ist, oder nicht, spendet Applaus.
Wie schön war da noch die Zeit, als Zeitungen über die von Politiker und Wirtschaft ausgelösten Ereignisse berichteten, und nicht über Medien, die zu einem Instrument machtbesessener Politiker, Parteiideologen und Lobbyisten verkommen sind. Auf eine Medienszene à la Italia können wir eben so verzichten wie auf Medien, die bei einem Staat gerne die Opferrolle wahrnehmen, dabei aber grosszügig übersehen, dass der selbe Staat die Menschenrechte andersdenkender systematisch verletzt.
Herr Gujer verbreitet mit dem Artikel auch Verwirrung im eigenen Hause.
Die Filmkritik in der gestrigen NZZ hypt Tel Aviv als HEIMLICHE Hauptstadt Israels.