NZZ-Chefredaktor gesteht schlaflose Nächte
«Das mache ich eigentlich immer so», erklärt NZZ-Chefredaktor Markus Spillmann im Interview mit Markus Wiegand, dem Chefredaktor des «Schweizer Journalist». Anders als Politiker, Manager und Prominente, die immer noch lesen wollen, was sie gesagt haben sollen, bevor sie den harmlos langweiligen Teil publizieren lassen, gibt Spillmann seine Aussagen ohne Nachkontrolle frei. Er hält die «Autorisierung» von Interviews für einen Verstoss gegen die Regeln des professionellen Journalismus. Und deshalb tut er das nicht. «Ich bin ein konsequenter Mensch.»
Empfindlich, kritisch, anspruchsvoll
Die stolze Mitteilung über die eigenen publizistischen Standards verdeckt nicht die Mühe mit direkten Fragen. Spillmann verlangt vom Interviewer Wiegand Begründungen, findet hier die Frage «ein bisschen uninteressant», hätte sie dort gerne «ein bisschen konkreter» und quittiert den Einwurf: «Warum muss Seriosität so langweilig sein?» mit: «Die Frage ist albern.» – Die NZZ bewegt sich auf höherem Niveau.
Aber der NZZ-Chefredaktor zeigt eine klare Haltung zur Qualität bei anderen, zum Beispiel Regionalzeitungen, mit denen die NZZ ja auch von der Innerschweiz bis zur Ostschweiz einen unternehmerischen Verbund pflegt: «Es kann ja sein, dass Sie (als Chefredaktor, Red.) der Einzige sind, der einen geraden Satz schreiben kann, wenn Sie eine Regionalzeitung führen, bei uns ist das leider nicht so.» – Die Kolleginnen und Kollegen haben das sicher mit Interesse gelesen.
Spillmann hat auch einen klaren Blick auf das allgemeine publizistische Leistungsniveau im Land, insbesondere bei den Online-Medien: «Ich habe eine Null-Fehlertoleranz. Wenn ich heute sehe, was in diesem Land teilweise publizistisch getan wird, dann muss ich sagen: Das mag ja zuspitzend sein und Schlagzeilen und Klicks produzieren, aber das ist nicht die Haltung der ‚NZZ’. Das ist eine Kulturfrage.» – Er hat ja nicht ganz Unrecht.
Krise, Zwänge, Umwälzung
Aber die «NZZ» hat das Rezept auch noch nicht gefunden für einen Qualitätsjournalismus auf Online-Portalen, für den die User zahlungswillig sind. «Die Paywall ist per se momentan sicher nicht der Reisser», kommentiert der Chefredaktor das NZZ-Bezahlmodell. Der «Traffic», der Besucherverkehr auf der Online-NZZ, hatte seit 2012 schmerzhaft nachgelassen, aber nun, so Spillmann, sei es «mindestens gelungen, die Negativentwicklung zu korrigieren.» – Man wird bescheiden.
Versteht sich, dass der NZZ-Chefredaktor auf die nadelstichigen Fragen des «Schweizer Journalist» ein bisschen empfindlich reagiert. Auch bei der NZZ sinkt die Auflage. Und mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, den Sparmassnahmen und Entlassungen in der Redaktion und das längst noch nicht vollendete Umpflügen der Medienlandschaft durch die Online-Medien, alles seit seinem Amtsantritt 2006 -, mit all dem hat Spillmann eine Herkulesaufgabe angetreten. – Das schleift.
Kommt dazu, dass Markus Spillmann eine Umgestaltung der NZZ-Publizistik vorschwebt, die wirklich tiefgreifend ist. «Der Endkonsument erwartet künftig sehr stark kraft der Markenaffinität eine Kuration von Journalisten oder er will selber aus Inhalten kuratieren.» Übersetzt in ein schon fast allgemeinverständliches Deutsch könnte das heissen: Auch NZZ-Leser erwarten von deren Redaktoren, dass sie Informationen aus anderen Quellen so erschliessen und aufbereiten, dass die Nutzerinnen und Nutzer diese Informationen dann nach ihren eigenen Fragestellungen erschliessen, bearbeiten und verarbeiten können.
Schlaflose Nächte
Das ändert die Beziehung zwischen Medienschaffenden und Mediennutzern grundsätzlich: die Redaktion besorgt ein publizistisches Angebot von Bild und Text und Ton, aus dem die NZZ-Nutzer auf den verschiedensten Wegen sich selber bedienen und, wenn sie das denn wollen, sich selber belehren können. – Das wäre (nicht nur) für die NZZ eine Revolution und der NZZ-Chefredaktor wäre ihr Prophet.
Zum Schluss des grossen, nicht autorisierten Interviews mit der Zeitschrift «Schweizer Journalist» und ihrem Chefredaktor Markus Wiegand zeigt sich Markus Spillmann nicht nur empfindlich, sondern auch angestrengt und unerwartet offen. «Wenn Sie fragen», sagt er: «Haben Sie schlaflose Nächte? Ja, natürlich habe ich die.»
Der «Schweizer Journalist» kann im Internet bestellt werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Mir scheint, heutzutage genügt es, in Interviews bloss noch heisse Luft von sich zu geben. Ich selbst leiste mir das höchstens hie und da beim Furzen. Doch mit Hirn und Mund versuche ich es besser zu machen. Im Ernst: Was wissen oder verstehen wir denn nun mehr, resp. besser nach diesem entgleisten Wortgesause? Wieso genügt eigentlich das ganz normale, wohlüberlegte und anständige Miteinandersprechen heute offensichtlich nicht mehr?