Glosse
«Bitte weniger Zahlen» – wirklich?
Dein Text mag ja in Ordnung sein, aber es hat wieder zu viele Zahlen drin. Das sagen mir Redaktionsmitglieder mit diesen oder ähnlichen Worten. Es stimmt: Zahlen fesseln mich. Ich gehöre zu den Journalisten, die glücklicher sind, wenn sie geschrieben haben, als wenn sie schreiben. Zahlenbeigen erlaubt es mir jeweils, den Zeitdruck zwischen dem ersten Satz und dem Abliefertermin zu erhöhen. Denn solange ich rechne, muss ich noch nicht mit Schreiben beginnen.
Zahlen haben Suchtpotenzial. Wenn ich zum Beispiel in einer kurzen Meldung lese, die gesamte Sitzungsdauer des Bundesrats habe im vergangenen Jahr 111 Stunden gedauert, und er habe dabei 2597 Geschäfte behandelt, dann greif ich flugs zum Taschenrechner und tippe: 111 Stunden, multipliziert mit 60 Minuten, dividiert durch 2597. Resultat: 2,56. Oder mit Worten: Im Schnitt hat sich der Bundesrat für die Beratung eines Geschäfts 2 Minuten und 34 Sekunden Zeit genommen.
Nach dieser Rechnung folgere ich nicht nur, dass der Bundesrat fleissig war, weil er pro Jahr 2597 Geschäfte abhakte. Zusätzlich kann ich mich auch noch fragen, ob er fundiert arbeiten kann, wenn er pro Geschäft im Schnitt nur 154 Sekunden Zeit zur Verfügung hat. Will sagen: Zahlen spiegeln nicht nur Quantität, sondern werfen auch qualitative Fragen auf.
Viele Journalistinnen und Redaktoren ziehen Zitate den Zahlen vor – bevorzugt kontrovers. Nehmen wir die Verschuldung: Der befragte Ökonom A sagt: «Die Staatsverschuldung in den USA ist höher als jene in der EU und darum sehr problematisch.» Die Ökonomin B antwortet: «Die Verschuldung der USA sollten wir uns zum Vorbild nehmen, denn die amerikanische Wirtschaft wächst stärker als die europäische.» Die Lesenden werden mit diesen Aussagen schön ausgewogen informiert. Können sie damit aber auch beurteilen, was jetzt stimmt?
Statt Expertinnen oder gar «renommierte Experten» zu befragen, rechne ich lieber selber und komme – zum Beispiel – zum Resultat: Die Verschuldung wächst in den USA seit der Jahrtausendwende stärker als die Wirtschaft. Die Wirtschaft wächst also nur noch auf Pump. Ob das «problematisch» oder «vorbildlich» ist, mögen nun die Lesenden selber beurteilen. Jedenfalls sind sie mit nachvollziehbaren Zahlen besser informiert als mit ausgewogen widersprüchlichen Voten.
Ob die Lesenden es vorziehen, mit zitierten Worten schlechter oder mit etwas mehr Zahlen besser informiert zu werden, bleibt allerdings eine offene Frage. Denn vielleicht sind die meisten ja schon nach 154 Sekunden aus diesem Text ausgestiegen.
Wie auch immer: Ich rechne weiter. Auf die Gefahr hin, mich auch mal zu verrechnen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Feiner Text von Hanspeter Guggenbühl, den ich gern in meinem Facebook-Blog weitergebe – nicht zuletzt, weil ich selber gelegentlich auch dazu neige, erst mal nachzurechnen und das Resultat grafisch darzustellen, bevor ich mit Schreiben zum Ende komme.